Verein will sich für Wiederaufbau der Ansgarii-Kirche einsetzen / Historiker Nils Huschke als Initiator
Für Nils Huschke klafft eine offene Wunde im Stadtbild. Bis heute sei sie nicht geschlossen – die Lücke, die der Einsturz des St. Ansgarii-Turms am 1. September 1944 riss. Dass es keinen Trümmerhaufen gibt, keine Ruine wie viele Jahrzehnte am Standort der Frauenkirche in Dresden, ändert nichts an seiner Einschätzung. Mit dem Verlust der Ansgarii-Kirche sei das bauliche Gleichgewicht der Altstadt aus dem Lot geraten.
In seinen Augen ist es ein städtebaulicher Sündenfall, was nach der sukzessiven Beseitigung der anfangs denkmalgeschützten Überreste dem alten Standort an der Obernstraße widerfuhr. Erst der Bau eines Kaufhauses, dann dessen Abriss nach gerade einmal 26 Jahren. Und heute der Ansgarikirchhof mit dem Bremer Carrée. Das kann in den Augen des Historikers nicht das letzte Wort sein. Sein Ziel lautet: den Boden zu bereiten für den Wiederaufbau, die Rekonstruktion der Ansgarii-Kirche.
Die historische Bedeutung von Turm und Kirche liegt für Huschke auf der Hand. Nicht nur, weil von der Ansgarii-Kirche 1522 die Reformation in Bremen ausging. Sondern noch viel mehr, weil der mit über 100 Metern einstmals höchste Kirchturm Bremens lange Zeit die Stadtsilhouette dominierte – seit dem Einsturz des südlichen Domturms im Januar 1638. „Der Ansgarii-Turm war das herausragende Identifikationsobjekt der Bremer“, sagt Huschke. „Viel mehr als die Stadtmusikanten, der Roland oder die Speckflagge.“
Kein Platz für einen Turm
Dumm nur, dass der historische Kirchenstandort mit dem Bremer Carrée weitgehend bebaut ist. Noch nicht einmal für den Turm wäre Platz auf der freien Fläche des Ansgarikirchhofs. Denn wie eine von Huschke angefertigte Visualisierung zeigt, müsste schon allein für den Turmbau der „schwarze, gläserne Sarg“ des Carrée-Gebäudes abgerissen werden.
Eine ziemlich abwegige Option, könnte man einwenden. Zumal das Gebäude erst kürzlich eine neue Glasfassade erhalten hat. Doch Huschke wischt solche Bedenken nonchalant vom Tisch. „Das Carrée ist nicht für die Ewigkeit gebaut“, sagt er und verweist auf die „geringe Halbwertzeit“ des Hertie-Gebäudes, das auch noch kurz vor seinem Abriss saniert worden sei. Der Modernisierung des Bremer Carrées kann er sogar Positives abgewinnen. „So wird es wenigstens nicht zugunsten eines weiteren ‚Gegenwartsbaus’ in Frage gestellt, der eine Rekonstruktion für mehrere Jahrzehnte unmöglich gemacht hätte.“
Die selbst gestellte Hürde, den Turm exakt am ursprünglichen Standort wieder aufzubauen, macht das Vorhaben gewiss nicht einfacher. Eine Frage, in der Huschke keinen Zentimeter preisgeben will.
Unmöglich also, mit dem Turm schon mal den Anfang zu machen oder es nur beim Turm zu belassen und auf das Kirchenschiff zu verzichten. In seiner Idealvorstellung ist der Turm nur die „erste Baustufe“ einer vollständigen Rekonstruktion. Überaus ungern malt sich Huschke aus, wie der Turm aussähe ohne Kirchenschiff. Sein einziger Trost: „Wenn in Gottes Namen ein Kirchenschiff nicht realisierbar wäre, dann würde der Turm als Scharnier zwischen Altstadt und Stephani-Viertel die Stadt wenigstens optisch wieder zusammenfügen.“
Heikle Frage der Finanzierung
Bliebe da noch die heikle Frage der Finanzierung. Dass der Wiederaufbau eine stattliche Millionensumme verschlingen würde, weiß auch Huschke. Doch wie soll ein notorisch klammes Land wie Bremen ein derartiges Mammutprojekt stemmen? Gar nicht, so Huschkes entwaffnende Antwort. „Wir legen es überhaupt nicht an auf eine staatliche Förderung. Der Wiederaufbau soll ein Werk der Bürger sein.“ Wobei die Hilfe eines großen Mäzens natürlich höchst willkommen wäre. Oder die eines Investors mit eventuell eigenen Plänen für den Kirchenbau. Als solchen hat er sogar den derzeitigen Eigentümer Allianz Real Estate im Blick. „Vielleicht lässt der ja mit sich reden.“
Was zwangsläufig die Frage der Nutzung aufwirft. Auch darüber hat Huschke schon nachgedacht. Falls die Gemeinde keine Ansprüche stellt, schwebt ihm vorzugsweise eine Verwendung als interkonfessionelle Begegnungsstätte vor. Ein rekonstruierter Kirchenbau sei geradezu prädestiniert als Schaufenster für die mittlerweile in Bremen stark vertretenen Kirchen des altorientalischen und byzantinischen Ritus. „Ihnen könnte man gemeinsam mit Protestanten und Katholiken gleichrangige Nutzungsrechte einräumen. Damit würde Bremen zum Standort der einzigen europäischen Simultankirche werden.“
Unabhängig von der Nutzung würde ein Wiederaufbau die Stadt Bremen als Touristenziel deutlich aufwerten, meint Huschke. Gerade in Zeiten, da ausländische Urlaubsziele durch die Terrorgefahr zunehmend an Attraktivität einbüßten. „Eine rekonstruierte Ansgarii-Kirche würde wieder Altstadt-Atmosphäre in den mittleren Altstadt-Bereich bringen.“ Der Historiker verweist auf einen historischen Reiseführer, der fünf Tage für Bremen als angemessene Besuchsdauer veranschlagt. „Da sieht man mal, was für eine Anziehungskraft die Stadt früher hatte.“
Da lohnt es sich, mit den Geschäftsleuten vom Ansgari-Quartier ins Gespräch zu kommen. Die haben sich nämlich auch eine Belebung des Ansgarikirchhofs auf die Fahnen geschrieben, verfolgen im Grunde also ein ähnliches Ziel. „Das Ansgari-Quartier soll wieder Kernbestandteil der lebendigen Mitte der Bremer Innenstadt werden. Ein Ort, an dem ein besonderes Shoppingerlebnis, Bummeln und soziale Begegnung genauso attraktiv sind wie der tägliche Einkauf“, heißt es von deren Seite. Mit dem Senat besteht eine vorerst bis 2017 laufende vertragliche Regelung, den Ansgarikirchhof als Business Improvement District (BID) sukzessive aufzuwerten. Deutliche Spuren davon sind schon zu sehen: Der Platz wurde mit Pflanzkübeln begrünt, Sitzgelegenheiten laden zum Verweilen ein, für den Nachwuchs entstand eine Sandspielfläche.
Keine Unterstützung von den Parteien
Auf Unterstützung kann er bislang nicht bauen. Wen man auch fragt, überall herrscht Desinteresse oder Verständnislosigkeit. Einige in der Bürgerschaft vertretene Parteien antworten gar nicht erst, die anderen lassen durchblicken, wie schwer es ihnen fällt, das Wiederaufbau-Ansinnen ernst zu nehmen.
„Eine auch nur ansatzweise realistische Chance, tatsächlich umgesetzt zu werden, sehe ich für die Wiederaufbau-Idee nicht“, sagt Jürgen Pohlmann, baupolitischer Sprecher der SPD. Bei der Innenstadt-Entwicklung müsse man „in erster Linie die Zukunft und weniger die Vergangenheit in den Blick nehmen“.
Kaum anders äußert sich die CDU. Von „starken Zweifeln“ und „großer Skepsis“ spricht deren Mann fürs Kulturelle, Claas Rohmeyer. Zwar bedauert er die Beseitigung der Ruine in den frühen Nachkriegsjahren. Doch die Chance auf Erhalt oder Wiederaufbau stadtbildprägender Gebäude sei damals verpasst worden, heute gebe es kein Zurück mehr.
Tatsächlich war der Umgang mit der Ruine in den 1950er Jahren ein ständiger Zankapfel. Für ihre Bewahrung als Mahnmal setzten sich 1954 mit dem Direktor des Staatsarchivs, Dr. Friedrich Prüser, und Landesdenkmalpfleger Dr. Rudolf Stein gewichtige Stimmen ein. Vor allem in der Politik hatte es allerdings von Anfang an kein nennenswertes Interesse am Erhalt der denkmalgeschützten Überreste gegeben. Geradezu gleichgültig gab sich nicht zuletzt Bürgermeister Wilhelm Kaisen.
Mit dem Verfall der Ruine bröckelte auch der Rückhalt
Keine eindeutige Position bezog zunächst die Gemeinde. Doch mit dem fortschreitenden Verfall der Ruine bröckelte auch in ihren Reihen der Rückhalt für eine Konservierung.
Um einen Wiederaufbau ging es damals überhaupt nicht, nur um die Zukunft der Ruine. „Sowohl die Kirchenbauverwaltung als auch die Allgemeine Bauverwaltung seien der Auffassung, daß die Kirche nicht wieder aufgebaut wird“, teilte Bausenator Emil Theil bereits im Dezember 1950 mit.
Auf den ersten Blick erstaunlich, dass noch nicht einmal die Ansgarii-Gemeinde besonderes Interesse am Wiederaufbau bekundete. Nachvollziehbar allerdings, wenn man sich vor Augen hält, dass der traditionelle Standort schon damals de facto aufgegeben war. Bereits seit 1948 stand an der Schwachhauser Heerstraße eine Baracke als Notkirche, im Oktober 1955 wurde der Grundstein für den Kirchenneubau gelegt. Zwar zögerte man anfangs noch, Kapital aus dem begehrten Ruinengrundstück zu schlagen. Noch im Januar 1956 lehnte die Gemeinde das Kaufangebot eines auswärtigen Warenhaus-Konzerns ab.
Doch als weitere Interessenten aus der Kaufhausbranche bei der Gemeinde anklopften, erlahmte der Widerstand. Im Januar 1958 beantragten die Bauherren der Gemeinde, den Denkmalschutz aufzuheben. Danach ging alles ganz schnell, im April 1959 verschwanden die letzten Überreste der Ansgarii-Ruine. Schon damals stand in direkter Nachbarschaft das elfgeschossige Finke-Hochhaus. Bereits 1956 gebaut, sollte es nach Maßgabe der Stadtplanung als optischer Ersatz für den zerstörten Ansgarii-Kirchturm dienen. Eine Vorstellung, über die Huschke nur müde lächeln kann. „Die Höhe stimmt nicht und der Standort auch nicht.“
Gemeinde hält sich bedeckt
Und die Ansgarii-Gemeinde heute? Die hält sich bedeckt, eine schriftliche Anfrage blieb unbeantwortet. Dafür äußerte sich die Evangelische Landeskirche in Gestalt von Schriftführer Renke Brahms, trotz seiner wenig klangvollen Amtsbezeichnung ihr maßgeblicher Repräsentant. Schon allein, weil die Gemeinde ein neues Gotteshaus in Schwachhausen gebaut habe, gebe es kein besonderes Interesse am Originalstandort. Ein „gewisses Verständnis“ für den Wiederaufbau vermag Brahms zwar aufzubringen. Dennoch: „So viel Energie in dieses Vorhaben zu setzen erscheint mir nicht angemessen.“
Viel Gegenwind für den Historiker Huschke und seine Mitstreiter, bislang kaum mehr als eine Handvoll rühriger Erneuerer. Doch der 45-Jährige gibt sich unbeeindruckt. Er zuckt nur mit den Schultern, wenn man ihn als „Spinner und Utopist“ abtut. Dass man einen langen Atem haben müsse, gesteht er ohne Weiteres ein. „Es hat 270 Jahre gedauert, bis der Domturm wieder errichtet wurde. Dagegen sind 70 Jahre plus X ein Klacks.“
Für Huschke ist es wichtig, überhaupt erst mal einen Anfang zu machen. Bereitwillig gibt er zu, dass die Aktivitäten bislang ziemlich überschaubar waren, man allenfalls von einem Köcheln „auf ganz niedriger Flamme“ sprechen könne. Bei passender Gelegenheit immer mal wieder ein Lamento in Form von Leserbriefen, zuletzt vor einem knappen Dreivierteljahr ein kaum beachtetes YouTube-Filmchen mit Bildern zum Einst und Jetzt. Und vor zwei Jahren ein dubioser Artikel im „Hanse-Schnack“, der suggerierte, es gebe schon konkrete Wiederaufbau-Bestrebungen innerhalb der Bremer Kaufmannschaft.
Bisher nur Einzelkämpfer
Doch viel mehr war bis jetzt nicht. Keine Spur eines organisierten, zielstrebigen Auftretens. Nur ein paar Einzelkämpfer ohne wirklichen Zusammenhalt, ohne eigene Plattform. Das wollen Huschke & Co. nun endlich ändern. Und zwar mit einem Verein als Operationsbasis. Dabei spielt ihnen in die Karten, dass es den schon gibt: Nämlich die „Herolde von Bremen“ aus der Zeit, als Huschke gemeinsam mit Klaus Upper Borg und anderen dafür kämpfte, die beiden Reiterstandbilder aus dem Park der Egestorff-Stiftung wieder an den alten Standort vors Rathausportal zu bringen (mehr dazu hier).
Noch im Jahresverlauf soll dieser Verein umfirmiert werden in „Historisches Stadtbild Bremen“ (HSB). Dass im Vereinsnamen die Ansgarii-Kirche keine Berücksichtigung findet, behagt Huschke nicht wirklich – er erklärt es mit dem Wunsch seiner Mitstreiter, die öffentliche Aufmerksamkeit bei Bedarf auch auf andere gefährdete Gebäude lenken zu können.
„Für mich ist aber das primäre Ziel, den Ansgarii-Gedanken weiter zu popularisieren“, sagt er – mit Vorträgen, Führungen und einer eigenen Homepage. Als Vorbild dienen ihm die gelungenen Rekonstruktionen in Dresden, Potsdam und anderswo. Und vor allem die Türme des Michel in Hamburg und des Markusdoms in Venedig, beides Nachbauten aus dem frühen 20. Jahrhundert. „Niemand würde diese Türme heute als ‚Falsifikate’ schmähen, denn Hamburg und Venedig sind genauso wenig ohne sie denkbar wie Bremen ohne St. Ansgarii.“ Bremen sei da „ein unglaublicher Nachzügler“.
Und das, findet er, sei doch sehr schade.
von Frank Hethey
Dieser Artikel ist eine erweiterte Fassung eines Beitrags, der am 30. August 2016 im Weser-Kurier erschienen ist.