Farbfotos zeigen noch unzerstörtes Bremen im Sommer 1939

Im letzten Vorkriegssommer durchstreifte Friedrich Sorger seine Heimatstadt. Dabei machte der Pensionär zahlreiche Aufnahmen. Das Besondere: Es handelte sich um Farbfotos. Sie vermitteln einen einzigartigen, fast idyllischen Eindruck der letzten Tage vor Kriegsausbruch. Nur wenige Jahre später gab es dieses Bremen nicht mehr.

Bei strahlendem Sonnenschein machte sich Friedrich Sorger auf den Weg. Von seiner Wohnung in der Neustadt wird er losgegangen sein.

Der Mann hinter der Kamera: Friedrich Sorger (1873 bis 1943), Verwaltungsinspektor im Ruhestand. Bildvorlage: Gerald Sorger

Der Mann hinter der Kamera: Friedrich Sorger (1873 bis 1943), Verwaltungsinspektor im Ruhestand.
Bildvorlage: Gerald Sorger

Ob gleich über die Große Weserbrücke in die Innenstadt, lässt sich nicht mit Gewissheit sagen. Womöglich blieb er auch noch ein Weilchen links der Weser und überquerte sie erst später. Doch eines wissen wir genau: an welchen Örtlichkeiten er sich aufgehalten hat. Denn seinen langen Marsch durch die Bremer Innenstadt und entlang der Weser hat der Verwaltungsinspektor im Ruhestand erschöpfend dokumentiert. Und zwar nicht mit den damals üblichen Schwarz-Weiß-Fotos, sondern mit farbigen Dias. „Die konnte sich nicht jeder leisten“, sagt sein Enkel Gerald Sorger. „Das war vielleicht das letzte, was er sich gegönnt hat.“

Der Fotoleidenschaft des damals schon schwerkranken Pensionärs verdanken wir einzigartige Farbaufnahmen der noch unzerstörten Hansestadt. Vor unserem Auge taucht eine Welt auf, die längst nicht mehr ist. Was wir meist nur in Grautönen kennen, zeigt sich plötzlich in bunter Farbenpracht: die alten Packhäuser an der Schlachte, das Gewusel zahlreicher Schiffe im Freihafen oder das geschäftige Treiben an einem Markttag rund um den Roland.

Doch die friedliche, schon fast idyllische Stimmung trügt.

Denn die undatierten Aufnahmen sind am Vorabend des Zweiten Weltkriegs entstanden. Es müssen die letzten unbeschwerten Sommertage vorm Kriegsausbruch am 1. September 1939 gewesen sein.

Hakenkreuz-Fahne am Rutenhof

Auf die Jahre des „Dritten Reichs“ als Entstehungszeitraum weist schon allein das häufig wiederkehrende Hakenkreuz-Symbol hin. Mal taucht es als Flagge am Heck eines Küstenmotorschiffs auf, dann als Staffage eines Fahnenmastes vor dem Hauptbahnhof.

Träge bauscht sich die Hakenkreuz-Flagge am Rutenhof im Wind. Bildvorlage: Gerald Sorger

Träge bauscht sich die Hakenkreuz-Flagge am Rutenhof im Wind.
Bildvorlage: Gerald Sorger

Ganz besonders augenfällig ist die gewaltige Hakenkreuz-Fahne am Rutenhof, einem Gebäude an der Westseite des Domshofs. Das frühere Bankhaus diente seit 1937 als Behördensitz.

Da weit und breit keine Kriegszerstörungen zu sehen sind, kommen schon von vornherein nur die frühen Kriegssommer 1940 oder 1941 oder der letzte Vorkriegssommer 1939 als Entstehungsjahre in Betracht. Vorher kann Sorger die Aufnahmen auf keinen Fall gemacht haben. Darauf weist ein kaum zu entzifferndes Straßenschild mit der Aufschrift „Spanischer Platz“ hin. So hieß der Stern erst seit dem 6. Juni 1939 – eine Hommage an die gerade aus Spanien zurückgekehrte Legion Condor. Die berüchtigte Einheit operierte im Spanischen Bürgerkrieg auf Seiten Francos und wird vor allem mit der Zerstörung von Guernica in Verbindung gebracht.

Der Spanische Platz - besser bekannt als der Stern. Die Umbenennung erfolgte 1939 zu Ehren der Legion Condor. Bildvorlage: Gerald Sorger

Der Spanische Platz – besser bekannt als der Stern. Die Umbenennung erfolgte 1939 zu Ehren der Legion Condor. Bildvorlage: Gerald Sorger

Aber auch im darauffolgenden Sommer 1940 können die Bilder nicht entstanden sein. Gab es doch zu diesem Zeitpunkt schon den Teichmann-Brunnen nicht mehr, den Sorger aus einer durchaus ungewöhnlichen Perspektive von hinten abgelichtet hat. Die 1899 auf dem Domshof errichtete Bronzegruppe fiel bereits im April 1940 der „Metallspende“ zum Opfer. Bleibt also nur der Sommer 1939 als Entstehungszeitraum. Irgendwann in diesen Wochen durchstreifte Sorger die Stadt, nach dem üppigen Grün zu urteilen im Spätsommer.

Geheimnisvolle Dame in Schwarz

Von seinem Vater hat Gerald Sorger die kleinen Preziosen geerbt. „Die Dias waren teils ziemlich verschmutzt und steckten in verrosteten Blechrähmchen“, berichtet der 66-Jährige. Mit einiger Mühe hat er sie von Fuseln und Dreck befreit und neu rahmen lassen. Im Juni 2013 hat er sie dann als Album ins Internet gestellt. Insgesamt 58 Aufnahmen. „Mehr gibt es auch nicht“, sagt Sorger.

Sorgers Ehefrau als Dame in Schwarz vorm Polizeihaus... Bildvorlage: Gerald Sorger

Sorgers Ehefrau als Dame in Schwarz vorm Polizeihaus…
Bildvorlage: Gerald Sorger

Den Mann hinter der Kamera hat er nicht mehr kennengelernt. Der Großvater starb im Alter von 69 Jahren am 4. Juni 1943 in Bad Lauterberg, einem Kurort im Harz. Fünf Jahre vor der Geburt des Enkels. „An seiner Diabetes ist er wohl letztendlich zugrunde gegangen“, meint Gerald Sorger. Vegesack hatte der Hobbyfotograf schon früher verlassen und sich eine Heimstatt am Sielwall gesucht. Kurz vor seinem Tod zog er dann mit seiner Frau zur Tochter in die Neustadt.

Das Leben des Gerichtsvollziehers ist weitgehend in Vergessenheit geraten. Dem Enkel liegt noch ein 1933 erstellter Auszug aus dem Taufregister vor. Danach kam Friedrich Wilhelm Sorger am 17. November 1873 zur Welt. Seine erste Frau – die Großmutter Gerald Sorgers – starb in jungen Jahren. Sorger heiratete erneut, seine zweite Frau überlebte ihn um Jahrzehnte. Als geheimnisvolle „Dame in Schwarz“ ist sie in der Bilderserie gleich zweimal zu sehen. Einmal vor dem Polizeihaus und dann nochmals an der Weser mit dem heutigen Café Ambiente im Hintergrund.

Weidende Kühe abgelichtet

Als Fotoenthusiast hatte Friedrich Sorger seine Kamera bei zahlreichen Ausflügen zur Hand. Davon zeugen alte Platten mit Aufnahmen aus Ritterhude und Grohn. „Mit seiner Familie ging es eben häufig in die nähere Umgebung“, sagt Gerald Sorger. Ein Hobby, das der Verwaltungsinspektor auch nach seiner Pensionierung in neuer Umgebung fortsetzte. Bei seinem Streifzug durch Bremen lichtete er zahlreiche Sehenswürdigkeiten ab. Darunter die gängigen Motive: den Marktplatz, den Teichmann-Brunnen auf dem Domshof oder Panorama-Ansichten der Altstadt. Doch er suchte auch durchaus mal das besondere Motiv. Zum Beispiel weidende Kühe vor auf einer saftigen Wiese mit dem Wasserwerk im Hintergrund als Orientierungsmarke.

Weidende Kühe mit dem Wassermark als Orientierungsmarke. Bildvorlage: Gerald Sorger

Weidende Kühe mit dem Wassermark als Orientierungsmarke.
Bildvorlage: Gerald Sorger

An die glanzvolle Vergangenheit Bremens als Hafenstadt erinnern die Aufnahmen aus dem Freihafen. Gleich mehrfach fotografierte Sorger die MS „Treuenfels“, einen Schwergutfrachter der Deutschen Dampfschifffahrts-Gesellschaft (DDG) Hansa aus Bremen, kurz Hansa-Linie. Einen nostalgischen Eindruck vermitteln die alten Raddampfer an der Schlachte. Etwa die „Roland“ oder die „Fulda“. Damit kennt sich Gerald Sorger als Schifffahrtsexperte aus. „Das waren Schlepper, Ladung haben die nicht transportiert. Sondern motorlose Binnenschiffe gezogen.“

Gerald Sorger wohnt seit 1969 in Leimen bei Heidelberg. Vor sechs Jahren ist er selbst in den Ruhestand gegangen, zuvor hat der gelernte Rechtsanwalts- und Notariatsgehilfe 35 Jahre lang als Sachbearbeiter bei der Berufsgenossenschaft der chemischen Industrie gearbeitet. Im Netz unterhält Sorger ein umfangreiches Archiv von Schiffsfotos, in seiner Wohnung finden sich zahlreiche Schiffsmodelle. „Das einzige Schifffahrtsmuseum im Süden“, sagt er augenzwinkernd.

Die besondere Vorliebe für Schiffe hat Gerald Sorger von seinem Vater geerbt. Der ist lange Jahre als Angestellter des Norddeutschen Lloyd zur See gefahren. Und die Neigung, diese Vorliebe auch zu dokumentieren, führt er auf seinen Großvater zurück. „So treibe ich sein Hobby praktisch weiter.“

von Frank Hethey

Auch das gab es mal in Bremen: ein Raddampfer als Schlepper für nicht-motorisierte Binnenschiffe. Einen faszinierenden Eindruck der letzten unbeschwerten Tage vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs vermitteln die Farbfotos von Friedrich Sorger. Bildvorlage: Gerald Sorger

Auch das gab es mal in Bremen: ein Raddampfer als Schlepper für nicht-motorisierte Binnenschiffe. Einen faszinierenden Eindruck der letzten unbeschwerten Tage vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs vermitteln die Farbfotos von Friedrich Sorger. Bildvorlage: Gerald Sorger

Von Anbiet bis Zuckerklatsche

„Erst der Hafen, dann ist die Stadt“

Im Magazin „Erst der Hafen, dann ist die Stadt“ über Bremen und seine Häfen gehen wir in vielen historischen Bildern auf Zeitreise durch die maritime Vergangenheit unserer Hansestadt. Wie entwickelten sich die Häfen in Bremen vom Mittelalter bis heute? Wie sah die Arbeit zwischen Ladeluke, Kaje und Schuppen aus? Was hatte es mit den Anbiethallen auf sich? Und wie veränderte die Containerschifffahrt die Häfen? Wir blicken auf die Gründung der Freihäfen um 1900 und den Strukturwandel rund 100 Jahre später. Wir erzählen von Schmugglern und Zöllnern, von Bremens großen Werften sowie Abenteuern, Sex und Alkohol an der Küste – dem Rotlichtviertel am Hafen.

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