Vor 50 Jahren

55.000 Unterschriften sowie acht öffentliche Veranstaltungen mit 2000 Besuchern – damit versuchte in den vergangenen zwei Wochen die Bremer SPD der Regierung Brandt/Scheel Schützenhilfe bei der Ratifizierung der Ostverträge zu leisten. Das kleinste Bundesland steht damit nach Aussagen des Bundesgeschäftsführers Holger Börner an der Spitze derartiger Bemühungen in der Bundesrepublik. (WESER-KURIER, 9. Mai 1972)

Hintergrund

So kennt man ihn: Karl Carstens nach seiner Wahl zum CDU-Fraktionsvorsitzenden im Mai 1973.
Quelle: Bundesarchiv Koblenz

Scharfe Worte fand ein gebürtiger Bremer, der frisch gebackene CDU-Abgeordnete Karl Carstens (mehr zu seinem Leben hier), als es im Bundestag am 15. Februar 1973 um den Grundlagenvertrag mit der DDR ging. Sein Vorwurf an die Adresse der sozialliberalen Bundesregierung unter Kanzler Willy Brandt (SPD): Sie habe nicht nur die DDR als zweiten deutschen Staat anerkannt, sondern auch die Grenzen – die Oder-Neiße-Linie als polnische Westgrenze und die innerdeutsche Grenze.

Aus Sicht von Carstens stand die deutsche Einheit auf dem Spiel. Wichtige Positionen seien ohne Gegenleistung preisgegeben worden. „Ich vermittelte den Eindruck von Entschlossenheit“, schreibt er in seinen Erinnerungen. Die war aus seiner Sicht auch nötig, denn: „Die Fraktion und viele Bürger im Lande litten noch unter dem Trauma der Ostverträge.“ Für den späteren Bundespräsidenten reihte sich der Grundlagenvertrag nahtlos ein in die allzu kompromissbereite „Neue Ostpolitik“ von SPD und FDP.

Mit einem atemberaubenden Tempo hatte die neue Bundesregierung nach ihrem Amtsantritt im Oktober 1969 unter dem Motto „Wandel durch Annäherung“ die Entspannungspolitik in die Wege geleitet. Deutschland- und Ostpolitik gingen dabei Hand in Hand. Als erster  Ostvertrag wurde im August 1970 der Moskauer Vertrag mit der Sowjetunion unterzeichnet, im Dezember 1970 folgte der Warschauer Vertrag mit Polen. Vor allem diese beiden Vertragswerke erhitzten die Gemüter durch den faktischen Verzicht auf die Gebiete östlich von Oder und Neiße. Heftige parlamentarische Debatten begleiteten die Ratifizierung.

Auf einen mehr oder weniger breiten Konsens stießen dagegen das Viermächteabkommen über Berlin vom September 1971 und das Transitabkommen, das ab Juni 1972 den Personen- und Güterverkehr zwischen der Bundesrepublik und Westberlin ermöglichte. Als letzter Ostvertrag wurde im Dezember 1973 der Prager Vertrag mit der Tschechoslowakei unterzeichnet.

Die Ostverträge markierten eine Zeitenwende in der bundesdeutschen Ostpolitik. Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) hatte konsequent auf die Westintegration der Bundesrepublik gesetzt und damit die Zementierung der deutschen Teilung in Kauf genommen. Ein Meilenstein war der bundesdeutsche Beitritt zur Nato im Mai 1955. Die Wiedervereinigung mit der DDR in einem Staat, womöglich noch in den Grenzen von 1937, rückte in weite Ferne. Der Kalte Krieg zwischen dem demokratischen Westen und dem sozialistischen Osten erreichte einen neuen Höhepunkt.

Verfechter der Neuen Ostpolitik: der rauchende SPD-Chef Willy Brandt (rechts) 1976 mit Außenminister Hans-Dietrich ­Genscher (Mitte) und Kanzler Helmut Schmidt (links).
Quelle: dpa

Daran änderte auch Adenauers legendäre Moskau-Reise im September 1955 nichts. Für die Befreiung der letzten deutschen Kriegsgefangenen kam er dem sowjetischen Wunsch nach Aufnahme diplomatischer Beziehungen nach. Eine tragfähige Entspannung im Verhältnis zu den Ostblock-Staaten ergab sich daraus aber nicht. Im Gegenteil, mit der sogenannten Hallstein-Doktrin pochte die Bundesrepublik auf einen Alleinvertretungsanspruch für Deutschland – allen Staaten, die die DDR anerkannten, drohte die Bundesrepublik mit einem Abbruch der diplomatischen Beziehungen.

Die dogmatisch geprägte Ostpolitik befand sich seither in einer Sackgasse, somit blieb auch die „deutsche Frage“ ungelöst. Nicht zuletzt Bürgermeister Wilhelm Kaisen (SPD) brannte das Thema auf den Nägeln (mehr dazu hier), dem früheren Mentor des jungen Carstens. In den frühen Nachkriegsjahren hatte sich Kaisen als Deutschland-Politiker profiliert, in seinen 1967 veröffentlichten Erinnerungen widmete er dem geteilten Deutschland ein ganzes Kapitel. Sein Wunsch: Die Bundesrepublik möge die „erstarrten Verbindungen“ neu beleben.

Genscher für Neue Ostpolitik

Auch die FDP forderte eine aktivere Deutschland- und Ostpolitik. Darauf weist ein weiterer Mann mit Bremer Vergangenheit in seinen Memoiren hin: der spätere Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher, der 1952 aus Thüringen in die Hansestadt geflohen war. Die Bundestagsdebatten um die Ostverträge sah er als „‚ostpolitisches‘ Spiegelbild“ der Redeschlachten der 1950er-Jahre um Westintegration und Wiederbewaffnung. „Mir war jedoch schon frühzeitig klar geworden, daß die deutschen Ostprovinzen für immer verloren waren.“

Als in Bremen für die Ostverträge getrommelt wurde, lag das gescheiterte Misstrauensvotum gegen Kanzler Brandt gerade einmal knapp zwei Wochen zurück. CDU-Fraktionschef Rainer Barzel hatte ihn aus Protest gegen die Ostverträge am 27. April 1972 stürzen wollen. Ein gutes Jahr später trat er zurück, Carstens wurde sein Nachfolger. Bei den Neuwahlen im November 1972 errangen die Regierungsparteien einen eindrucksvollen Sieg, laut Genscher „ein klarer Vertrauensbeweis für die Ostpolitik“ von SPD und FDP.

Angesichts des Ukraine-Kriegs ist die „Neue Ostpolitik“ verschiedentlich in Misskredit geraten. Der Tenor: Mit der Entspannungspolitik von damals habe die Bundesrepublik einen verhängnisvollen Schmusekurs gegenüber Russland eingeschlagen. Die Leiterin der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität sieht das anders. Für Susanne Schattenberg ist die Entspannungspolitik „eine Sternstunde der deutschen Außenpolitik, daran ändert auch der Ukraine-Krieg nichts“, das eine habe nichts mit dem anderen zu tun.

Stemmte sich gegen die Ostverträge: der gebürtige Bremer Karl Carstens (rechts, mit Helmut Kohl), hier als CDU-Fraktionschef im November 1976. 
Foto: Thomas Imo

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