Als Emanuel Backhaus seinen Brief aufsetzte, hatte er nach eigenem Bekunden „viele schlaflose Nächte voll vaterländischer Sorgen und Prüfungen“ hinter sich. Doch am 21. Oktober 1932 war für den Präsidenten der Bürgerschaft das Maß voll, in einem knapp dreiseitigen Schreiben an Adolf Hitler kündigte er seine Gefolgschaft auf. Nicht nur aus der NSDAP trat der damals 48-Jährige aus, der Rechtsanwalt und Notar legte mit sofortiger Wirkung auch sein Mandat als Landtagspräsident nieder.
Freilich ging er nicht ohne Wehmut. „Die Trennung wird mir bitter schwer“, ließ er Hitler wissen. Doch die „wegwerfende, unsachliche und undankbare Art“, mit der das Parteiorgan Völkischer Beobachter einen verdienten SA-Führer behandelt habe, habe ihm den Rest gegeben. Denn: „Das war ja gerade ein nordischer Rassezug, dieser Zwang zu innerer Wahrhaftigkeit und Bekennermut. Jetzt kann ich nicht mehr.“
Ist so ein Mann geeignet als Namensgeber einer Straße in Kattenturm? Die Linken meinen: nein. Deshalb hat deren bildungspolitische Sprecherin Heike Hey bereits Ende April im Verkehrsausschuss des Beirats Obervieland den Antrag eingebracht, die Emanuel-Backhaus-Straße umzubenennen. Auf Vorbehalte stieß der Verstoß nicht, in allen Fraktionen gilt die Backhaus-Ehrung vor mehr als 50 Jahren als kaum nachvollziehbare Fehlentscheidung. „Es ist mir überhaupt nicht klar, wie es dazu kommen konnte“, sagte Rolf Noll (Grüne).
Ebenso einig ist man sich allerdings, dass eine Entscheidung über die Köpfe der Anwohner hinweg nicht in Frage kommt. In einem Brief an die Betroffenen hat Ortsamtsleiter Michael Radolla daher zu einem digitalen Austausch am 8. Juli eingeladen. Vor weiteren Schritten will das Ortsamt die Stimmung ausloten und zugleich über Backhaus und die geschichtlichen Hintergründe informieren.
Die bisherige Resonanz unter den Anwohnern ist eindeutig. „Der Tenor ist klar ablehnend“, sagt Radolla. Zu den Kritikern zählt Georg Bültbrun. Dass man bei einer Umbenennung für geänderte Ausweise zur Kasse gebeten würde, ist für ihn gar nicht einmal der Hauptaspekt. Der 70-Jährige ist auch inhaltlich nicht überzeugt. „Muss man nicht auch einen Gesinnungswandel anerkennen?“, fragt er. „Was machen wir denn eigentlich mit Leuten wie Stauffenberg?“ Der Hitler-Attentäter war zunächst ein glühender Hitler-Anhänger.
Der Linken-Antrag geht davon aus, dass Backhaus der Nazi-Ideologie nicht wirklich abgeschworen hat. Zumindest nicht, als er sich 1932 von Hitler distanzierte. Sein Parteiaustritt habe nur mit „inneren Zwistigkeiten“ zu tun gehabt. Wie das Schreiben an Hitler „eindrücklich“ belege, sei er „keineswegs ein geläuterter Demokrat“ geworden. Und nicht nur das, die Linken verweisen auf seine politische Karriere auf dem Ticket der NSDAP ab 1930: erst als Abgeordneter, dann als Vizepräsident und Präsident der Bürgerschaft. Fazit: „Er hatte durch diese besonderen Ämter seinen Anteil an den faschistischen Verbrechen mit 50 Millionen Toten.“
Inzwischen wünscht sich Gerd Schmidt (CDU), der Antrag wäre nie gestellt worden. „Weil kein Mensch gewusst hätte, wer sich hinter diesem Namen verbirgt.“ Auch Antragstellerin Hey war zunächst nicht im Bilde. Ein Bürger habe sie auf die dubiose Vergangenheit von Backhaus aufmerksam gemacht, sagt Hey. Er sei „sehr empört“ gewesen, dass Backhaus immer noch geehrt werde. Auch weil der Cato-Bontjes-van-Beek-Platz zur Erinnerung an die 1943 hingerichtete Widerstandskämpferin nur einen Steinwurf entfernt sei.
In der Bremer Politik stand Backhaus nicht allzu lange im Rampenlicht. Der Bürgerschaft gehörte er nur von 1930 bis 1932 an, auf dem Präsidentenstuhl saß er ziemlich genau ein Jahr. Wenngleich schon sein Vater Wilhelm Emanuel Backhaus als Abgeordneter in der Bürgerschaft gewesen war, machte der Junior zunächst keine Anstalten, in seine Fußstapfen zu treten. Doch die NSDAP brauchte nach ihrem Wahlerfolg vom 30. November 1930 dringend seriöse Abgeordnete. Backhaus war einer der beiden „schnell angeworbenen großbürgerlichen Aushängeschilder“, schreibt Friedhelm Grützner im Bremischen Jahrbuch. Sein Kollege Herbert Schwarzwälder rechnet Backhaus dem „gemäßigten Flügel der NS-Fraktion“ zu.
Euphorische Stimmen
Es gibt sogar geradezu euphorische Stimmen. Als „ehrbarer und anständiger Mann“ wird Backhaus in der Bremischen Biographie 1912-1962 vorgestellt, der NSDAP sei er „aus reinem Idealismus“ beigetreten. Eine Charakteristik, die allerdings mit Vorsicht zu genießen ist – der das schrieb, war Erich Vagts, in den frühen 1930er-Jahren Fraktionschef der Deutschnationalen, unter den Nazis erst Gesundheitssenator, dann Bremer Bevollmächtigter beim Reich und nach Kriegsende kurzzeitig Bürgermeister von Bremen, bevor die US-Militärregierung ihn in ein Internierungslager steckte.
Den „sicher apologetischen Charakter“ des Backhaus-Beitrags von Vagts sieht auch Konrad Elmshäuser, Leiter des Staatsarchivs. Gleichwohl findet er es beachtlich, dass Backhaus vor 1933 öffentlich die Stimme erhoben und Konsequenzen gezogen habe. „Das macht aus einem erzkonservativen Politiker keinen Widerständler, ist aber ein bemerkenswertes persönliches Zeugnis.“ Deshalb sieht Elmshäuser keinen zwingenden Grund für eine neue Bewertung des Kurzzeit-Parlamentspräsidenten.
Backhaus‘ mangelnde Standfestigkeit tadelte unterdessen die „Bremer Nationalsozialistische Zeitung“. Männer wie ihn könne man nicht brauchen, es seien „Kämpfer- und Bekennernaturen erforderlich“. Nach seinem Rückzug aus der Politik wurde es still um Backhaus. Finanziell unabhängig, war er auf eine Parteikarriere nicht angewiesen. Unbehelligt ging er seinem Beruf als Rechtsanwalt und Notar nach, das Adressbuch von 1942 weist eine Kanzleianschrift in der Sögestraße aus. Irgendwann danach siedelte er nach München über, wo er 1945/46 als parteiloser Stadtrat wirkte. Laut Vagts aber nicht ehrenamtlich, sondern kommissarisch und berufsmäßig im Werk- und Fiskalreferat.
In Bremen war Backhaus nach seinem Umzug so gut wie vergessen, der WESER-KURIER erwähnte seinen Tod im November 1958 mit keiner Silbe, nur die Bremer Nachrichten berichteten von seiner Beisetzung in Bremen. Und doch erhielt die neu angelegte Straße in Kattenturm knapp zehn Jahre später seinen Namen. Das damalige Prozedere verlief nicht viel anders als heute: Das Staatsarchiv unterbreitete dem Beirat eine Reihe von Vorschlägen, als Straßennamen im Neubaugebiet vergeben werden mussten. Man entschied sich für die beiden Arbeiterfunktionäre Gustav Deckwitz und Wilhelm Holzmeier – und eben Backhaus.
Doch warum ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt? Eine denkbare Erklärung: Als der Name vom Staatsarchiv erstmals ins Spiel gebracht wurde, näherte sich die Arbeit an der Bremischen Biographie dem Ende. Im Dezember 1969 erschien das Werk – mit dem langen Vagts-Artikel über Backhaus, in dem auch der ominöse Brief an Hitler auszugsweise erwähnt wurde. Offenbar fand man die Distanzierung von Hitler und der Partei aller Ehren wert.
Die Sicht der heutigen Beiratspolitiker ist eine andere. Eine moralische Verpflichtung zur Namensänderung macht Beiratssprecher Stefan Markus (SPD) aus. Auch Gegenwind von den Anwohnern kann ihn nicht davon abbringen. „Wir können uns nicht hinter den Anwohnern verstecken“, sagt er. Das Kostenargument will Markus nicht gelten lassen. Bei nötigen Ausgaben für neue Ausweise oder Führerscheine müsse dann eben die Staatskasse einspringen.
Unklar ist, ob sich Backhaus zu einem späteren Zeitpunkt von völkischem Gedankengut lossagte. Seine parteipolitische Unabhängigkeit im Münchener Stadtrat besagt nicht viel, die NSDAP und rechtsextreme Nachfolgeparteien waren damals verboten. Hat ein Ex-Parteigenosse denn überhaupt eine Chance, sich mit einem Sinneswandel zu rehabilitieren und damit ein würdiger Namenspatron zu sein?
Durchaus, meint die Linken-Politikerin Hey. Wer seine politischen Irrwegen glaubhaft hinter sich lässt, taugt aus ihrer Sicht auch als Namensgeber einer Straße. Wie etwa Egon Kähler. Als junger Marinesoldat gehörte er seit 1943 der NSDAP an, nach dem Krieg machte er Karriere in der SPD und avancierte zum Fraktionschef in der Bürgerschaft. Nach ihm wurde eine Straße in Arsten benannt. Ähnliches gilt für den Namenspatron der benachbarten Theodor-Billroth-Straße. Der Mediziner vertrat im späten 19. Jahrhundert dezidiert antisemitische Ansichten, besann sich aber eines Besseren und wurde Ehrenmitglied des Vereins zur Abwehr des Antisemitismus.
Unterdessen haben die in der Straße wohnenden Gegner einer Umbenennung 75 Unterschriften gesammelt und dem Ortsamt übergeben. Dessen Leiter Radolla ist skeptisch, was die Erfolgsaussichten der Anti-Backhaus-Fraktion angeht. „Über ein einhellig ablehnendes Votum der Anwohner würde sich der Beirat wohl nicht hinwegsetzen“, sagt er. Auch Initiatorin Hey macht sich keine große Hoffnung auf erfolgreiche Überzeugungsarbeit. „Eine Anwohner-Entscheidung gegen die Umbenennung halte ich für wahrscheinlich“, sagt sie.
Eine Tafel als Kompromiss
Aber was dann? Eine aufklärende Tafel könnte in Heys Augen ein Kompromiss sein, diesen Vorschlag hatte schon Beiratsmitglied Kurt Danisch (SPD) gemacht. Denkbar wäre auch, einen raffinierten Kniff nachzuahmen, den man sich 2010 in Walle einfallen ließ, als es um die Umbenennung der Karl-Peters-Straße ging. Inzwischen fungiert nicht mehr der umstrittene Kolonialpionier als Namensgeber, sondern ein Namensvetter, der scheinbar unverfängliche Rechtswissenschaftler Karl Peters.
Dieses Modell wäre theoretisch auch im Fall Backhaus anwendbar. Denn sein Vater Wilhelm Emanuel Backhaus (1826-1896) war nicht nur Bürgerschaftsabgeordneter, in seinen späten Jahren machte er sich zudem als scharfzüngiger Publizist, Sozialreformer und Gelegenheitsdichter einen Namen. Und doch lauern auch bei ihm wieder Fallstricke: Der leidenschaftliche Bismarck-Verehrer habe seine liberalen Gegner in einer Weise verspottet, „die über das dem Satiriker erlaubte Maß hinausgeht“, rügte sein Biograf Alfred Kühtmann 1912 in der Bremischen Biographie des neunzehnten Jahrhunderts.
Es ist eben bisweilen nicht einfach, einen rundum sauberen Namenspatron zu finden. Das gilt nicht zuletzt für die umgewidmete Karl-Peters-Straße. In Bielefeld gab es ebenfalls Überlegungen, anstelle des Kolonialpioniers den gleichnamigen Juristen zu würdigen – bis man auf seine NS-Parteimitgliedschaft stieß. Zum Glück fand sich aber noch ein anderer Carl Peters: ein bis dato unbekannter einheimischer Industrieller, wie das Stadtmagazin „Bielefelder“ schreibt.
Straßenumbenennungen gab es auch schon früher
Nicht erst in unseren Tagen stehen Straßenumbenennungen auf der Agenda. Bereits im Ersten Weltkrieg sah man Handlungsbedarf: In Anbetracht der Auseinandersetzung mit Frankreich hielt man die französische Straßenbezeichnung „Chaussee“ für unangebracht, aus den Chausseen wurden Heerstraßen. Für den NS-Senat kam der vormalige Reichspräsident Friedrich Ebert (SPD) als Namensgeber nicht in Frage, die Straße in der Neustadt wurde nach dem NS-Politiker Hermann Göring benannt. Auf der Strecke blieb auch der 1922 ermordete jüdische Reichsaußenminister Walther Rathenau. Die nach ihm benannte Straße hieß fortan Richthofenstraße nach dem legendären Kampfpiloten aus dem Ersten Weltkrieg.
Zur Erinnerung an die deutsche Fliegerstaffel, die im Spanischen Bürgerkrieg eingesetzt war, wurden 1939 die Caprivi- und Parkstraße in Legion-Condor-Straße (mehr dazu hier) umbenannt, ein Teil der Parkallee in Francoallee und der Stern in Spanischer Platz.
Nach dem Zweiten Weltkrieg vollzog sich das gleiche Spiel unter umgekehrten Vorzeichen, Bremen trennte sich von diversen Nazi-Größen als Namensgeber. Auf Drängen der US-Militärregierung begann man auch, Straßen aus kaiserlichen Zeiten umzubenennen. Betroffen waren Straßen, die als Verherrlichung des preußisch-deutschen Militarismus gedeutet wurden: Die ehemalige Hohenzollernstraße heißt heute Heinrich-Heine-Straße, aus der Kaiser Friedrich-Straße wurde die Hermann-Böse-Straße.
Mit Beginn des Kalten Krieges erlahmte der Umbenennungseifer, trotz verschiedener Änderungsversuche trägt die Langemarckstraße bis heute ihren Namen. Erhalten hat sie ihn 1937 zum Gedenken an die „Helden von Langemarck“, einem Schlachtfeld des Ersten Weltkriegs. Schon seit etlichen Jahren steht der frühere Reichspräsident Paul von Hindenburg als Steigbügelhalter Hitlers in der Kritik. In Burglesum gibt es aber immer noch eine Straße zu seinen Ehren, eine Bürgerinitiative will das ändern.
Neuerdings rücken Straßen mit kolonialem Bezug verstärkt in den Blickpunkt. Im vergangenen Jahr wurden die Schilder der Lüderitzstraße mehrfach heimlich entfernt. Nicht mehr der Bremer „Kolonialpionier“ sollte als Namenspatron dienen, sondern der Herero-Führer Samuel Maharero. Neuerdings macht sich die Stadtteilinitiative „Walle entkolonialisieren“ für eine Umbenennung mehrerer Straßen mit Kolonialbezug stark, darunter die Karl-Peters-Straße und die Leutweinstraße.