Zum Volkstrauertag am 15. November: Totengedenken mutierte im Nationalsozialismus zum „Heldengedenktag“

Für die Gedenkstunde des Landes Bremen im Rathaus hatte der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge schon längst einen Gastredner gewonnen. Am Vorabend des Volkstrauertags sollte der Historiker Jörg Morré das Wort ergreifen, Direktor des Deutsch-Russischen Museums in Berlin-Karlshorst. Doch davon kann nun keine Rede mehr sein, die zentrale Veranstaltung zum Volkstrauertag am 15. November musste wegen der Corona-Pandemie abgesagt werden. Anders verhält es sich mit dem traditionellen Gedenken samt Kranzniederlegung auf dem Osterholzer Friedhof. „Das wird wie geplant am Sonntag stattfinden“, sagt Matthias Sobotta, Landesgeschäftsführer des Volksbunds. Zugesagt haben Bürgerschaftspräsident Frank Imhoff und Bürgermeisterin Maike Schaefer.

Doch warum überhaupt ein Volkstrauertag? Mehr als 75 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs ist die historische Dimension des Gedenktags in weite Ferne gerückt. Immer weniger Zeitzeugen können vom Kriegsgeschehen aus eigenem Erleben berichten, die Erinnerung an Kriegsopfer aus dem Familienumfeld verblasst allmählich. Das war anders, als der Krieg ein Ereignis der jüngsten Vergangenheit war. Und damit auch das Bedürfnis viel ausgeprägter, der Kriegstoten in ritualisierter Form zu gedenken.

Gedenken am Sedantag

Zur Besinnung auf gefallene Soldaten gab es in der neueren deutschen Geschichte reichlich Anlass. Nicht erst die beiden Weltkriege förderten das Gedenken an die Kriegstoten, schon der Deutsch-Französische Krieg von 1870/71 legte dafür den Grundstein. In den Jahren des Kaiserreichs erfüllte der Sedantag am 2. September diesen Zweck. Als inoffizieller Feiertag zur Erinnerung an den vorentscheidenden Sieg in der Schlacht von Sedan stand der Sedantag zwar immer im Zeichen eines nationalen Pathos. Doch zugleich gedachte man bei dieser Gelegenheit durch Kranzniederlegungen auch der gefallenen Soldaten.

Patriotische Besinnung am 2. September 1920 beim Kriegerdenkmal – bis 1896 war der Sedantag in Bremen sogar ein gesetzlicher Feiertag.
Quelle: Staatsarchiv Bremen

Mit dem Untergang des Kaiserreichs nach der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg landete der Sedantag im geschichtspolitischen Abseits. Bereits seit dem Kriegsausbruch im August 1914 war der Sedantag nicht mehr begangen worden. Zaghafte Wiederbelebungsversuche durch die Kriegervereine nach dem Friedensschluss von Versailles scheiterten. Unbehelligt verlief nur noch 1920 die traditionelle Gedenkveranstaltung am Kriegerdenkmal in den Wallanlagen, doch nach den Tumulten von 1921 war an eine Fortführung nicht mehr zu denken.

Damals schlug die Stunde für den Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge. Auf nationaler Ebene wurde der Verein im Dezember 1919 in Berlin ins Leben gerufen, eine Bremer Ortsgruppe gründete sich laut Bremen-Chronist Fritz Peters am 1. Februar 1921. Das zentrale Anliegen des Volksbunds war, mit einem gesetzlich verankerten Volkstrauertag die Erinnerung an die Kriegstoten wachzuhalten. Doch mehrere Anläufe in den Jahren der Weimarer Republik verliefen im Sande, erst 1934 erhob das Dritte Reich den Volkstrauertag in den Rang eines gesetzlichen Feiertags.

Als nationaler Gedenktag konnte sich der Volkstrauertag freilich schon vorher durchsetzen, seit 1925 wurde er fast überall in Deutschland begangen. Allerdings nicht wie heute Mitte November, sondern immer am fünften Sonntag vor Ostern, also Ende Februar oder Anfang März. In Bremen fand der erste Volkstrauertag am 1. März 1925 als „nationaler Trauertag zum Gedächtnis der Kriegsopfer“ statt. Dem Volksbund ging es damals vornehmlich um ein unpolitisches Totengedenken, teils sogar um internationale Versöhnung.

Gemeinsam für den Frieden: Aufruf von November 1968.
Quelle: Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge

Gleichwohl passte der Volkstrauertag ausgezeichnet in den Totenkult des Nationalsozialismus. Ab 1935 wurde der Trauertag als „Heldengedenktag“ gefeiert, nun auch unter Berücksichtigung der „Blutzeugen“ der NS-Bewegung. Die Organisation des Gedenktags oblag nunmehr dem Propagandaministerium, der Volksbund ließ es geschehen, signalisierte sogar Zustimmung.

Von ungefähr kam das Entgegenkommen nicht. Bereits vor der NS-Machtübernahme waren beim alljährlichen Volkstrauertag auch nationalistische Töne zu hören gewesen. Zum Kampf gegen „alles Undeutsche“ rief der Delmenhorster Pastor Carl Eschen beim Volkstrauertag 1926 auf. Die Saat der Kriegstoten werde eines Tages als „Tragebalken von Neu-Deutschland“ aufgehen.

Mit der ursprünglich eher unpolitischen Ausrichtung war es mit der NS-Machtübernahme endgültig vorbei, auf Betreiben von Gründungsmitglied Siegfried Emmo Eulen wandelte sich der Volksbund in ein willfähriges Instrument des Nationalsozialismus. Nicht mehr als gewählter Präsident, sondern als Bundesführer waltete er seines Amtes – eine Konzession an das Führerprinzip, dem der Volksbund ebenso huldigte wie der „Deutschstämmigkeit“ seiner Mitglieder.

Von der engen Kooperation mit dem NS-Staat wollte der Volksbund lange Zeit nichts wissen. Die Veranstaltung des Volkstrauertags sei dem Volksbund nach 1933 „entwunden“ worden, erklärte in den frühen Nachkriegsjahren dessen Vorsitzender, Bausenator Emil Theil (SPD). Erst sehr viel später war der Volksbund bereit, seine Vergangenheit kritisch aufzuarbeiten. „Der Volksbund war gleichgeschaltet und den Machthabern zu Willen“, konstatierte Thomas Peter Petersen 1998 in einer vom Volksbund herausgegebenen Broschüre zur Geschichte des Volkstrauertages.

Feierstunde in der Sporthalle

In den frühen Nachkriegsjahren spielte das Gedenken an Gefallene und Bombenopfer keine Rolle. Unmittelbar nach Kriegsende hatte man andere Sorgen, als der Kriegstoten zu gedenken. Für einen allgemeinen Volkstrauertag seien die Wunden zu schwer gewesen, so Theil im März 1949. „Jede Berührung schmerzte, und es bestand die Gefahr, daß man im Übermaße des Schmerzes vielfach keinen Unterschied sah zwischen den Urhebern des Krieges und seinen Opfern.“

Zunächst gab es noch keine zentrale Gedenkveranstaltung, lediglich Feiern auf einzelnen Friedhöfen. Gleichwohl sprach Bürgermeister Wilhelm Kaisen (SPD) bereits 1950 in einer Feierstunde in der hölzernen Sporthalle auf der Bürgerweide, einem provisorischen Veranstaltungsbau, der später der Stadthalle weichen musste. Ab 1951 fanden dann jährliche Gedenkfeiern in der „Glocke“ statt. „Sozusagen als Vorläufer der heutigen Rathaus-Veranstaltungen“, sagt Sobotta.

Totengedenken auf dem Osterholzer Friedhof im November 2004 mit Bügrerschaftspräsident Christian Weber (Mitte).
Foto: Frank Thomas Koch

Seit 1952 ist der Volkstrauertag durch seine Verlegung auf den vorletzten Sonntag vor dem ersten Advent in das Zeitfenster für die religiösen Totengedenktage eingebettet. Seinen Status als gesetzlicher Feiertag büßte der Volkstrauertag jetzt wieder ein, seit dem 1. April 1955 ist er aber in Bremen durch Ruhebestimmungen als Trauertag geschützt.

Schon damals stand der Friedens- und Versöhnungsgedanke im Vordergrund. Und zugleich das Bestreben, die Jugend für die Friedensarbeit zu gewinnen. Im Archiv des Volksbunds hat sich ein Aufruf zum Volkstrauertag 1968 erhalten, der Arbeitskreis Bremer Schülerringe und der Volksbund luden gemeinsam zu einem Schweigemarsch von Schülern und Lehrkräften zu den Kriegsgräbern auf dem Osterholzer Friedhof ein. Und zwar als „Demonstration für den Frieden“.

Nicht mehr zeitgemäß erschien in den 1960er-Jahren das aus der NS-Zeit stammende Ehrenmal auf der Altmannshöhe als Ort für die Kranzniederlegungen. „Es hat immer mal wieder kleinere Demos gegeben“, sagt Sobotta. Auch deshalb sei das Gedenken am Volkstrauertag auf den Osterholzer Friedhof verlegt worden, der schon vorher neben dem Waller Friedhof zu den Anlaufpunkten zählte. Dabei ist es bis heute geblieben, am Vortag steht seit 1995 die Gedenkstunde im Rathaus auf dem Programm.

Inzwischen geht es am Volkstrauertag längst nicht mehr nur um gefallene Soldaten. Sondern ganz allgemein um das Gedenken an die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft.

Schon in den frühen Nachkriegsjahren die Jugend im Blick: Schülerinnen beim Gedenken im November 1954. 
Foto: Otto Lohrisch-Achilles

 

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