Markante Altbauten: Das Haus Hollerallee 75
Stadtnah und ruhig wollte es der Bankier Johann Friedrich Müller-Schall haben, als er für sich und seine vierköpfige Familie nach einem geeigneten Domizil suchte. Angemessen erschien ihm eine Wohn- und Nutzfläche von 1200 Quadratmetern. Fündig wurde er im Neubaugebiet direkt am Bürgerpark. Später ließ sich die SA-Gruppe Nordsee in dem Gebäude nieder, heute beherbergt es das „forum Kirche“.
Als am späten Abend des 9. November 1938 im Hauptquartier der SA-Gruppe Nordsee an der Hollerallee 75 das Telefon klingelte, nahm das Verhängnis seinen Lauf. „In diesem Haus ging der Befehl zur Brandstiftung in der Reichspogromnacht ein“, sagt Ruth Fenko, die Leiterin der heute in dem Gebäude angesiedelten Kircheneinrichtung „forum Kirche“.
Aus München, wo sich ranghohe Parteifunktionäre zur alljährlichen Feier des gescheiterten Putschversuchs von 1923 getroffen hatten, meldete sich SA-Gruppenführer Heinrich Böhmcker – ein „alter Kämpfer“, noch aus seiner Krawallzeit stammte der Spitzname „Lattenheini“. Doch die wilde Vergangenheit als Schlägertyp lag hinter ihm, als Bürgermeister ordnete er jetzt systematische Übergriffe auf die Bremer Juden an. Fenko: „Zwei SA-Männer haben dann von hier aus die Telefonkette ausgelöst.“
Am nächsten Tag war nichts mehr wie vorher.
Fünf jüdische Mitbürger wurden im Laufe der Nacht ermordet: der Mediziner Adolph Goldberg und seine Frau Martha, Heinrich Rosenblum, Leopold Sinasohn und die Neustädter Fahrradhändlerin Selma Zwienitzki. Die Synagoge im Schnoor an der heutigen Kolpingstraße ging in Flammen auf, zahlreiche jüdische Geschäfte wurden verwüstet. Nach den Nürnberger Gesetzen von 1935 war das die nächste Eskalationsstufe der staatlichen Judenverfolgung. Am Ende des Leidensweges standen die Todesfabriken im Osten, mehrere hundert Bremer Juden fielen dem NS-Rassenwahn zum Opfer.
Für Ruth Fenko ist das düstere Kapitel ein fester Bestandteil der Geschichte des Gebäudes. An die verhängnisvolle Nacht vor nunmehr 76 Jahren erinnert ein historisches Telefon auf einer Granitsäule im Kaminraum. „Granit, weil das der bevorzugte Stein für Prachtbauten im Dritten Reich war“, sagt die Pastorin.
Geld spielte bei den Neubauplänen keine Rolle
Die Anfänge des historistischen Prachtbaus gehen zurück bis in das Jahr 1899. Damals suchte der in den USA lebende Bankier Johann Friedrich Müller-Schall eine standesgemäße Unterkunft für seine vierköpfige Familie. Lange Jahre hatte der 53-Jährige die New Yorker Filiale des Bankhauses Schall geleitet, einem Unternehmen seines Schwiegervaters Wilhelm Schall. Der hatte das Geldinstitut im thüringischen Bad Frankenhausen gegründet und als Privatbank mit Zweigstellen in London und New York zu einer festen Größe auf dem Kreditmarkt gemacht. Das Bankhaus machte Geschäfte als Geldgeber für Schifffahrtslinien, der Hauptsitz lag in Bremen.
Vermutlich kehrte Müller-Schall nach Deutschland zurück, um seinen schon über 70-jährigen Schwiegervater an der Firmenspitze abzulösen. Geld spielte bei den Neubauplänen erwartungsgemäß keine Rolle. Über seine Wünsche hatte Müller-Schall klare Vorstellungen. Dem renommierten Bremer Architekten Fritz Dunkel teilte er mit, welche Voraussetzungen das neue Domizil zu erfüllen hatte: „Stadtnah und ruhig – wir brauchen ein Haus mit etwa 1.200 m2 Wohn- und Nutzfläche für unsere vierköpfige Familie und unser Personal.“
Was lag da näher, als das Neubaugebiet an der Hollerallee ins Auge zu fassen? Das nur für herrschaftliche Bebauung ausgewiesene Brachgelände, höchst attraktiv unmittelbar am Bürgerpark gelegen, erfüllte alle Bedingungen des Bauherrn, es war nicht weit entfernt vom Stadtzentrum und doch eine Oase des Friedens. Der Senat hatte das frühere Eisenbahnterrain an die Parklandgesellschaft des Unternehmers und Mäzens Franz Schütte veräußert. Der Verkauf trug maßgeblich zur Finanzierung des Neuen Rathauses bei.
Die einzelnen Grundstücke waren äußerst großzügig zugeschnitten, sie reichten von der Hollerallee bis zur Parkstraße. Es sollte eben genug Platz vorhanden sein für die Bedürfnisse der wohlhabenden Eigentümer. Eine Remise für den Wagenpark gehörte schon fast zum Standard, bei Bedarf kam ein Gartenhäuschen wie an der Hollerallee 75 hinzu. „Heute ist dieses Grundstück als einziges der damals bebauten noch ungeteilt“, sagt Fenko.
Alles nur vom Feinsten
Sein neues Domizil ließ Müller-Schall ganz nach dem Geschmack seiner Zeit errichten. Zur Straßenseite präsentiert sich das Haus in einem historistischen Stilmix aus neogotischen und neoklassizistischen Elementen. Besonders auffällig: der zinnenbewehrte Balkon über der Kutschenvorfahrt. Einen praktischen Zweck hatte der Balkon freilich nicht, bis heute fehlt ein Zugang. „Dazu muss man wissen: Architekt Fritz Dunkel hat Theaterkulissen entworfen“, sagt Fenko. „Und der Balkon ist eben auch Kulisse.“ Ganz anders die Gartenseite, die im damals populären englischen Landhausstil gestaltet wurde: mit leichten Balkons unter Verzicht jeglicher Repräsentationszwecke.
Nur vom Feinsten auch die luxuriöse Innenausstattung. Da gab es Bäder mit fließendem Wasser, Toiletten mit Wasserspülung, aufwendig gestaltete Stuckdecken, Kronleuchter, einen Kamin- und einen Billardraum. Auf dem neuesten Stand der Zeit waren die Sprechanlage zur Küche sowie Speiseaufzug und Lift, als wahres Prachtstück durfte die Zentralheizung gelten. Ofenbeheizung in jedem einzelnen Zimmer erübrigte sich deshalb, der Kamin in der ersten Etage war nur ein Schaukamin. Die Fensterrahmen waren aus Mahagoni, die Beschläge in England handgefertigt. Auch innen mischte der Architekt verschiedene Baustile nach Belieben: Vorherrschend war die sogenannte deutsche Renaissance, ergänzt durch Empire- und Rokoko-Elemente. Nur den Jugendstil sucht man vergeblich. Oder wenigstens so gut wie vergeblich. „Außer dem Kachelfries im Keller gibt es keinen Jugendstil in diesem Haus“, betont Fenko.
Der Bremer Prachtbau könnte Müller-Schall inspiriert haben, auch in der thüringischen Heimat seiner Frau einen Neubau in Auftrag zu geben: Das bis heute erhaltene Haus Hoheneck in Bad Frankenhausen entstand 1912/13 abseits vom Stadtzentrum. Mit einer reinen Wohnfläche von 538 Quadratmetern ist das Gebäude deutlich größer als das Bremer Gegenstück, von dessen historistischer Verspieltheit war nichts mehr zu sehen.
Wuchtig steht das weitläufige Bauwerk im Stil englischer Landhäuser an einem Hang des Kyffhäusergebirges, der Blick reicht weit über Bad Frankenhausen hinaus in die Ferne. Als Architekten hatte Müller-Schall eine echte Kapazität engagiert: Hermann Muthesius, einen Mitbegründer des Werkbundes. In einem Beitrag über Wilhelm Schall wird über „einen engeren Zusammenhang“ der beiden Bauten spekuliert, vermutlich habe die Familie dem Seniorchef einen Alterssitz zur Verfügung stellen wollen. Doch der alte Herr habe anscheinend keinen Geschmack an dem repräsentativen Domizil am Waldesrand gefunden, er sei lieber in der innerstädtischen Wohnung geblieben. Anders die Lesart in einem zeitgenössischen Katalog über die von Muthesius errichten Landsitze: Dort heißt es, „ein auswärtiger Bankier“ habe Haus Hoheneck als „Sommerhaus“ errichten lassen. Dieser Bankier kann nur Müller-Schall gewesen sein, über seine Funktion als Bauherr gibt es keinen Zweifel.
Der Mann für die künstlerische Gestaltung: Arthur Fitger
Für die künstlerische Ausgestaltung der Eingangshalle sicherte sich Müller-Schall die Dienste von Arthur Fitger, damals in Bremen der gefragteste Künstler, wenn es um bürgerliche Repräsentationsbedürfnisse ging. „Es sollte gebildet aussehen“, sagt Fenko. Mit Unterstützung seiner Gehilfen fertigte der Meister in der Halle ein Deckengemälde und einen Fries an, der Goethes Text über Fausts Osterspaziergang illustriert. Auf der Fahne eines Knappen hat Fitger den Namen Ludwig Richters in Spiegelschrift verewigt: eine Hommage an den seinerzeit berühmten Märchenbuch-Illustrator. Mit dem Schöpfer der Gemälde hat Stadtteilforscher und Bremen History-Autor Peter Strotmann ein fiktives Interview geführt. Die höchst amüsante und dazu noch lehrreiche Fachsimpelei ist kürzlich im Schwachhauser-Magazin veröffentlicht worden und hier online nachzulesen.
Nach zweijähriger Bauzeit konnte die Familie 1902 endlich einziehen: der jetzt bereits 56-jährige Vater, seine 42-jährige Frau Teresa Mary sowie die beiden Kinder Mary Katherine (16), genannt Kitty und der in New York geborene Sohn Frederick (13). Hinzu kam noch reichlich Personal, darunter mehrere Dienstboten, eine Köchin, eine Hauslehrerin, ein Gärtner und ein Kutscher. Freilich verließ die Tochter des Hauses das neu bezogene Heim bald schon wieder. Nach der Heirat mit dem Leiter der Kaiserbrauerei Beck & Co., Hermann Marwede, im April 1907 wohnte sie gleich um die Ecke an der Blumenthalstraße. 1924 bezog das Ehepaar das von Rudolf Alexander Schröder entworfene Herrenhaus Hohenkamp in Oberneuland. Frederick hielt es nicht in Deutschland, er kehrte 1914 in seine Geburtsstadt New York zurück.
Als Bauherr Friedrich Müller-Schall im März 1929 im Alter von 83 Jahren starb, blieb seine Gattin allein zurück in dem verwaisten Gebäude. Ein Jahr lang hielt sie es aus, im März 1930 suchte sie sich eine bescheidenere Bleibe an der Schwachhauser Heerstraße, später zog sie zur Familie ihrer Tochter nach Oberneuland. Seit dem Auszug der Bankierswitwe war das herrschaftliche Domizil vermutlich unbewohnt.
Vier Jahre lang währte dieser Zustand – bis sich 1934 die SA an der Hollerallee 75 niederließ. Die genauen Hintergründe sind laut Fenko bis heute undurchsichtig. Hat sich die Parteigliederung das Quartier angeeignet, musste sich Teresa Müller-Schall äußerem Druck beugen? Oder verhielt es sich umgekehrt, hat sie der SA den repräsentativen Prachtbau angetragen? „Ob die SA als Mieter kam oder das Haus beschlagnahmt hat, können wir nicht sagen“, so Fenko. Auf Nachfragen habe die Familie eher ausweichend reagiert. Jedenfalls dürfte die SA ein gesteigertes Interesse an dem leerstehenden Gebäude gehabt haben. War doch die NS-Verwaltung genau in diesem Abschnitt der Hollerallee sehr präsent: Die SA-Gruppe Nordsee logierte im Müller-Schall-Haus mit der Nr. 75, die NS-Kreisverwaltung im heutigen Standesamt mit der Nr. 79 ein und im Nachbargebäude mit der Nr. 81 saß der Stab der SA-Brigade Unterweser.
Das Briefpapier der SA erfüllte doch noch einen guten Zweck
Bis 1956 blieb das Gebäude in Familienbesitz. Unmittelbar nach Kriegsende bezog die Wollimportfirma Fuhrmann & Co. das Haus, erst als Mieterin der Familien Marwede und Müller-Schall, dann als Eigentümerin. Beim Einzug fand sich in den Schreibtischen unbenutztes Briefpapier mit den Insignien der SA. In Zeiten gravierenden Papiermangels eine willkommene Hinterlassenschaft: Der wenig opportune Briefkopf wurde einfach abgeschnitten und schon hatte die Firma ausreichend Papier für den Geschäftsverkehr.
Nach dem Ankauf des Gebäudes ließ Firmenchef Henry S. Thomas die Räume neu ausstatten. Er selbst richtete sich im einstigen Elternschlafzimmer ein, die Wände wurden mit Tropenholz vertäfelt. Mobile Zwischenwände und eine Holzbaracke im Garten schufen Platz für die über 50 Angestellten des florierenden Unternehmens. Fast zum Verhängnis wäre den Fitger-Fresken 1960 die Feier zum 225. Jahrestag der Firmengründung geworden. Eigentlich sollten die Szenen des Osterspaziergangs kurzerhand übertüncht werden. Doch der Malermeister hatte ein Einsehen und bedeckte die Fresken vorher mit dünnen Holzplatten. So konnte das wertvolle Kulturzeugnis gerettet werden. Nur ein Motiv am Treppenaufgang hat die Zeitläufte nicht überdauert. „Das ist durch einen Wasserschaden zerstört und später ergänzt worden“, berichtet Ruth Fenko.
Als die Wollfirma 1991 ihren Betrieb einstellte, erwarb die Bremische Evangelische Kirche das Haus. Bis dahin waren die gesamtkirchlichen Ämter über Bremen verstreut. Mit dem Kauf des Hauses sollten die Dienste gebündelt und ihre Zusammenarbeit gefördert werden. 1993 war es dann endlich so weit, sechs kirchliche Einrichtungen bezogen als „forum Kirche“ das Gebäude, aus Veranda, Halle, Chefbüro und Musterzimmer wurden fünf Seminarräume. Im früheren Luftschutzkeller befindet sich jetzt eine Kantine, im Dachgeschoss eine religionspädagogische Bibliothek. Zahlreiche Veranstaltungen finden jedes Jahr in dem Gebäude statt. Die Leiterin der Einrichtung erfüllt das mit Stolz. „Zum ersten mal in seiner Geschichte ist dieses Haus ein öffentliches Haus“, sagt Fenko.
von Frank Hethey