Vor 80 Jahren: Deutscher Überfall auf die Sowjetunion

Der 22. Juni 1941 war ein Sonntag. Wer dennoch früh auf den Beinen war, konnte die Meldung vom deutschen Überfall auf die Sowjetunion um 5.30 Uhr zum ersten Mal im Radio hören. Propagandaminister Joseph Goebbels verlas eine Proklamation Hitlers, die anderntags im vollen Wortlaut in der „Bremer Zeitung“ zu lesen war, dem Organ der Bremer Nationalsozialisten. „Von schweren Sorgen bedrückt“, so Hitler, „zu monatelangem Schweigen verurteilt, ist nun die Stunde gekommen, in der ich endlich offen sprechen kann.“

Doch das bedeutete nicht, dass man nun die Wahrheit zu hören bekam. Unter der Überschrift „Bolschewistischer Dolchstoß pariert“ setzte die „Bremer Zeitung“ nur eine neue Lüge in die Welt. Die „Präventivkriegsthese“, nach der Deutschland einem bevorstehenden Angriff der Sowjetunion lediglich zuvorgekommen sei, ist längst widerlegt. Die deutsche Aufklärung deutete die Truppenansammlungen an der Grenze als Defensivmaßnahme, die Rote Armee galt ohnehin als nicht ernstzunehmender Gegner.

Sowjetische Kriegsgefangene mit dem Kürzel „SU“ im Sommer 1944 beim Bau des U-Boot-Bunkers Valentin.
Quelle: Johann Seubert, Bundesarchiv Koblenz

Tatsächlich verhielt es sich genau umgekehrt, als die „Bremer Zeitung“ ihrer Leserschaft weismachen wollte: Nicht die Sowjetunion, sondern das Deutsche Reich betrieb ein „verräterisches Doppelspiel“. Bereits im Dezember 1940 hatte Hitler der Wehrmacht die Weisung erteilt, das Unternehmen Barbarossa vorzubereiten: den Krieg gegen die Sowjetunion unter Bruch des deutsch-russischen Nichtangriffspakts vom August 1939. Als „Kampf um Lebensraum im Osten“ war dieser Krieg von Anfang als Vernichtungskrieg konzipiert, der Tod von vielen Millionen Menschen war gewollt und einkalkuliert.

Laut Bremen-Chronist Fritz Peters reagierte die Bremer Bevölkerung „mit Bestürzung“ auf den Einmarsch in die Sowjetunion. Noch einige Tage zuvor sei durch die „Flüsterpropaganda“ der NSDAP die Nachricht verbreitet worden, Stalin wolle dem Dreimächtepakt beitreten und zur Vertragsunterzeichnung nach Berlin kommen. In Wahrheit heizte das Propagandaministerium die Gerüchteküche vorsätzlich an, „um die ganze Situation, wie sie wirklich ist, zu verschleiern“, wie Goebbels seinem Tagebuch anvertraute.

Das Täuschungsmanöver funktionierte. Sogar die deutschen Soldaten wurden von der Invasion überrascht, man hatte über eine Erlaubnis zum Durchmarsch in die Türkei spekuliert oder über eine Pachtung der Ukraine. Die „Bremer Zeitung“ brachte der Propagandatrick in Erklärungsnot: Von den angeblichen „Ränken und Verschwörungen“ zwischen England und Russland habe man nichts wissen können, hieß es entschuldigend in der Kommentarspalte. „Das wußte nur der Führer, und mit ihm nur wenige der allerengsten Mitarbeiter.“ Monatelang habe er sich „immer und immer wieder“ um einen Ausgleich bemüht. Doch der „jüdisch-bolschewistische Einfluß“ sei zu mächtig gewesen.

Wenn auch diese Behauptung blanker Unsinn ist, so wird man doch annehmen müssen, dass Hitler an die angebliche jüdische Weltverschwörung wirklich glaubte. In seiner Proklamation sprach er vom „bekannten Komplott zwischen Juden und Demokraten, Bolschewisten und Reaktionären mit den einzigen Zielen, die Errichtung des neuen deutschen Volksstaates zu verhindern“. Der „jüdische Rassenfeind“ also als ruchloser Strippenzieher, der sich hinter jeder beliebigen Maske verbirgt, um heimlich die Weltherrschaft an sich zu reißen. Das ist der klassische antisemitische Verschwörungsmythos, der bis heute seine verhängnisvolle Wirkungskraft entfaltet.

Bewusste Irreführung: die Titelseite der „Bremer Zeitung“ vom 23. Juni 1941.
Quelle: Digitale Sammlungen Bremen

Längst entschleiert ist immerhin der Mythos von der vermeintlich sauberen Wehrmacht. Die regulären Truppen waren ein integraler Bestandteil bei der systematischen Ermordung der Juden im Osten. Und nicht nur die Wehrmacht war beteiligt, auch die beiden Bremer Polizeibataillone 105 und 303 mischten als Helfershelfer beim Holocaust kräftig mit. Beim berüchtigten Massaker von Babij Jar Ende September 1941, bei dem mehr als 33.000 jüdische Männer, Frauen und Kinder in einer nahe Kiew gelegenen Schlucht erschossen wurden, trieben Bremer Polizisten die Opfer zusammen und sperrten Straßen ab.

Dass Bremer Polizisten in Babij Jar nicht direkt an Exekutionen beteiligt waren, entlastet sie keineswegs. Wie der Historiker Karl Schneider in seinem Buch „Auswärts eingesetzt“ akribisch nachgewiesen hat, griffen sie dafür andernorts zur Waffe. Und sie hinterließen eine wahre Blutspur in den besetzten Gebieten, nicht nur bei der Ermordung von Juden, sondern auch bei der „Partisanenbekämpfung“. Besonders erschütternd ist der Fall eines etwa dreijährigen Kindes, das im Winter 1941 zu Tode geschleift wurde. „Es gab viele kleine Babij Jars“, lautet Schneiders Fazit.

Kein Ruhmesblatt für Bremen ist die lange Zeit verschwiegene Beteiligung Bremer Kaufleute an der ökonomischen Ausbeutung der eroberten Gebiete. Dabei taten sich neben Bremer Baumwollhändlern auch die Martin Brinkmann AG in Kooperation mit dem Hamburger Tabakkonzern Reemtsma hervor. Auf der Krim und im Nordkaukasus gründeten die beiden Firmen im Frühjahr 1942 ein Syndikat zur Zigarettenproduktion. Wie der Tabakanbau mithilfe von Zwangsarbeitern in Gang kam, hat der Historiker Karl Heinz Roth bereits vor zehn Jahren in seinem Buch „Reemtsma auf der Krim“ analysiert.

Auch nach Bremen wurden zahlreiche Zwangsarbeiter aus den besetzten Ostgebieten verschleppt. Neben sowjetischen Kriegsgefangenen machten sie das Gros der ausländischen Arbeitskräfte aus. Wie wenig ein Leben dabei zählte, hat erst kürzlich die Debatte um den sogenannten Russenfriedhof in Oslebshausen eindringlich vor Augen geführt.

Mit einem hohen Blutzoll bezahlt: der Bau des U-Boot-Bunkers Valentin.
Quelle: Johann Seubert, Bundesarchiv Koblenz

Wie viele Bremer Soldaten im Russlandkrieg ums Leben kamen, ist nicht eindeutig zu klären. Fritz Peters spricht in seiner Chronik von 13.400 Bremer Gefallenen. Einer von ihnen war Heinz Herrgut, der am 17. Juli 1942 unweit des Ilmensees mit gerade einmal 18 Jahren starb. Noch einen knappen Monat zuvor hatte der Schlossersohn aus Gröpelingen seiner Mutter geschrieben, sie brauche keine Angst zu haben, dass ihm etwas passieren könnte. „Ich werde so gut aufpassen, wie es irgend geht und werde hier im Osten meinen Mann stehen.“

Doch das lag natürlich nicht in seiner Macht allein. Bereits am 10. Juli war er nur knapp dem Tod entronnen, als eine Fliegerbombe unmittelbar vor seinem Erdbunker detonierte. Eine Woche später hatte Herrgut weniger Glück: Bei einem Volltreffer wurden er wie auch alle anderen Bunkerinsassen getötet. Der 18-Jährige war damit einer von 2,7 Millionen deutschen Soldaten, die an der Ostfront ihr Leben ließen.

Ein anderer war Paul Dinné, der Vater des Grünen-Mitbegründers Olaf Dinné. Kurz vorher war er beim Vormarsch auf Stalingrad gefallen (mehr dazu hier). Nimmt man noch die 1,1 Millionen in Kriegsgefangenschaft gestorbenen Soldaten hinzu, summiert sich die Verlustzahl auf 3,8 Millionen.

Noch weitaus größer war die Anzahl der Toten auf sowjetischer Seite, die Zahlen pendeln zwischen 25 und 40 Millionen. Im Kampf gegen die Invasoren verloren 8,4 Millionen Soldaten ihr Leben, in deutscher Gefangenschaft starben drei Millionen. Die meisten Opfer waren Zivilisten.

Das Archivfoto vom 24. Juni 1941 zeigt deutsche Infanteristen, die schwere Gefechtsfahrzeuge in der litauischen Ortschaft Vilkija bergauf ziehen.
Quelle: dpa

Von Anbiet bis Zuckerklatsche

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