Ein Kriegsheimkehrer zerbricht an seinen Traumata: die Geschichte von Fritz Paul Meiser
Es ist Januar 1946, als Fritz Meiser eine Karte an seine Lieben schreibt. Er sitzt seit Kriegsende in einem sowjetischen Kriegsgefangenenlager im Großraum Moskau. Seine Wehrmachtseinheit hatte am 8. Mai 1945 am Kurland-Brückenkopf kapituliert. Er ist einsam, hat extremes Heimweh und sehnt sich nach seiner Frau und seinen Kindern. Seine Hoffnung: Bald wieder bei ihnen zu Hause zu sein, seine Sorge: Dass ihn seine Kinder nicht mehr als ihren Vater erkennen. „Ich befürchte, daß ich nicht zur Tür hereingelassen werde“, schreibt der damals 39-Jährige seiner Frau Erna.
Meisers Biografie ist durchaus typisch für viele Soldaten. Ihre Frauen, Mütter und Schwestern haben in Wirtschaft und Gesellschaft die Rollen der Männer übernommen. Kinder sind ihren Vätern entfremdet. Kommen die Soldaten nach Hause, fühlen sie sich oft fehl am Platze, nutzlos. Häufig entspricht die Wiedervereinigung der Familien nicht den Wünschen und Sehnsüchten. Auch Fritz Meiser wird das erfahren.
Bewegende Karten aus dem Lager
Fritz Paul Meiser ist der Großvater von Heike Schwerdtner aus Bremen, die intensiv ihre Familiengeschichte recherchiert hat, da sie seine Karten aus dem Lager sehr berührt haben. Der gebürtige Ostpreuße ist verheiratet mit Erna Kallweit, dem „lieben Ernchen“ der Postkarten. Ihre Kinder sind Karl-Heinz, Margot und Marianne. Seine Hoffnung auf eine baldige Heimkehr erfüllt sich nicht. Erst im April 1950 wird er aus dem Lager entlassen und kommt heim zu seiner Familie nach Zossen in der Nähe von Berlin, damals DDR.
Offensichtlich flieht er wenig später nach Bremen-Oslebshausen. Denn sein Flüchtlingsausweis, ausgestellt im Juni 1954, nennt als ständigen Wohnsitz im Bundesgebiet seit dem 1. April 1950 die Bockhorner Straße 63. Seine Frau Erna schreibt in ihrem Lebenslauf aber, dass sie erst im April 1951 im Zuge der Familienzusammenführung nach Bremen kam und bei der Firma Franz Wille, Haus- und Küchengeräte am Dobben 76/77 arbeitete. Anschließend, ab Sommer 1953, habe sie sich ganz ihrer Familie gewidmet.
Ungefähr ein Jahr muss das Paar also warten, bis es wieder vereint ist. Ab 1950 findet deshalb ein reger Postkartenaustausch zwischen Bremen und Berlin, zwischen Fritz Paul und Erna, statt. Am 30. Juni 1950 schreibt Fritz: „Mein liebes Ernchen! In Bremen gut angekommen und von Ewald (d.i. Ernas Bruder) herzlich empfangen, beraten, betreut und Hilfe erhalten.“ Ewald fügt auf derselben Karte den merkwürdig verklausulierten Hinweis hinzu: „Meine liebe Erna. Ich bestätige Dir nun das Einlaufen des Dampfers, der hier vor Anker ging. Rückfahrt wird unter allen Umständen verhindert. Erste Löschversuche erfolgversprechend. Weitere Berichte erfolgen laufend.“
Eine versteckte Botschaft
Handelt es sich um eine versteckte Botschaft, dass Meiser möglicherweise illegal nach Bremen zu Ernas Bruder kam? Schließlich wurde er erst kurz vor seiner Ankunft in Bremen aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft entlassen.
Seine Enkelin Heike Schwerdtner vermutet, dass Meiser bereits von Kameraden, die in Bremen angekommen waren, informiert worden war, dass es in der amerikanischen Besatzungszone besser sei. Schwerdtner glaubt, dass er sich aus der DDR abgesetzt habe und die Familie nachkommen sollte: „Der Fluchtplan für Erna und die Kinder ging dann über seine Schwester in Berlin, Remkes in der Kantstrasse in Westberlin. Sie sind an einem Morgen nur mit leichtem Gepäck getrennt, meine Mutter mit Klein-Marianne und Oma mit Kalle zu Remkes gefahren, damit es nicht auffällt! Denn damals fing das bereits mit der massenhaften Flucht aus der DDR an!“ Ewald und Fritz seien zunächst im ehemaligen Zwangsarbeitslager Graf Spee in Bremen im Halmerweg in einer Nissenhütte untergebracht gewesen, so Schwerdtner.
Am 26. Januar 1951 jedenfalls schreibt Meiser aus Bremen: „Heute beeile ich mich Euch, meinen Lieben, mitzuteilen, daß die Aussicht besteht, Euch bald bei mir zu haben. Ich bin heute gehört worden und nun habt Mut und seid tapfer im Aushalten, wie ihr es bisher wart.“ Und auf einer Postkarte mit der Umgedrehten Kommode in der Neustadt vom 9. April 1951 jubelt er: „Heute ist mein erster Arbeitstag.“
Ab Februar 1953 wird Meiser als Verwaltungsinspektor bei der Kataster- und Vermessungsverwaltung beschäftigt. Zwischenzeitlich ziehen die Meisers in ein kleines Haus in der Bexhöveder Straße, ebenfalls in Oslebshausen, nahe des Industriehafens. Alles könnte also gut werden. Tut es aber nicht. Heike Schwerdtner kennt die Familienlegende über das Drama, das sich am 30. April 1965 abspielte: „Fritz-Paul versuchte, sich im Dachstuhl des kleinen Hauses in der Bexhöveder Straße umzubringen.“ Er sei kurz davor gewesen, den Hocker umzustoßen, als seine Frau Erna nach Hause kam und nach ihm rief. „Er hat sich erschrocken, einen Herzinfarkt bekommen und stürzte ins Seil.“ Die Todesursache sei ein Herzinfarkt und Erhängen gewesen.
Die Enkelin vermutet, dass schon eine ganze Weile Probleme in der Ehe aufgetaucht seien. Dafür spricht, dass Ernas Bruder Ewald ihr schon im Dezember 1950 aus Bremen schrieb: „Heute jedoch halte ich es für notwendig, Dir den dringenden Rat zu geben, so schnell wie möglich nach hier (d. i. Bremen) zu kommen. Tust du das jetzt nicht, so sehe ich Deine Ehe für gefährdet an und es kann zu einem Bruch kommen. Das kannst Du Dir nicht leisten und dazu darf es nicht kommen. Der Fritz erträgt eine weitere Trennung nicht mehr.“
Hält man sich zudem noch vor Augen, mit welcher Inbrunst sich Meiser in dem sowjetischen Kriegsgefangenenlager nach seiner Familie sehnte und mit welchen Illusionen er auf eine baldige Entlassung hoffte, so scheint an Ewalds Einschätzung etwas dran zu sein. Zudem weiß man, dass die meisten Kriegsgefangenen mit ihren schlimmen Erfahrungen und Traumata oft vollkommen allein gelassen wurden. Die Folgen der Kriegsgefangenschaft sind noch lange spürbar – in Familien und der Gesellschaft: gebrochene Biografien, die Leiden und Entbehrungen in den Lagern, die mitunter Erkrankungen mit sich gebracht haben, schlechten Hygienebedingungen, Kälte und vor allem Hunger. Nicht alle Wunden heilen, nicht jeder wird gesund.
Der Einstieg in das neue Leben ist für viele Kriegsrückkehrer Ende der 1940er-, Anfang der 1950er-Jahre eine Herausforderung. Beruflich können sie in den Wirtschaftswunderjahren zwar oft Fuß fassen, wie Meiser, und der Staat unterstützt sie auch finanziell. Die Folgen des Krieges und der Gefangenschaft aber machen es vielen schwer, den Leistungsanforderungen der Wiederaufbau-Gesellschaften zu entsprechen. Viele Rückkehrer haben körperliche und psychische Probleme.
Allein mit ihren Traumata
„Die Zeit hatte etwas Wölfisches“, sagt der Erfolgsautor Harald Jähner in seinem Buch „Wolfszeit“. Oft waren die Familien über viele Jahre auseinandergerissen, anschließend bleiben viele Menschen isoliert, vereinsamt, insbesondere die ehemaligen Wehrmachtssoldaten fühlen sich als Opfer des Krieges, des Nationalsozialismus, des Kommunismus, verraten von ihren Vorgesetzten, allein gelassen mit ihren Traumata.
Allein gelassen fühlt sich wahrscheinlich auch Meiser. Nach Jahren der Sehnsucht und Hoffnung auf ein glückliches Zusammenleben mit seinen Lieben scheint die Wiedervereinigung nicht die erhoffte Erleichterung gebracht zu haben. Vielleicht liegt hier die besondere Tragik: Nach vielen Jahren in Einsamkeit, in denen sich Meiser in seine Familie zurückgewünscht hat, fühlt er sich, obwohl umgeben von seiner Familie, trotzdem fremd in der neuen Bundesrepublik.
Postkarte vom 16. Januar 1946 im Wortlaut:
Mein liebes, liebes Ernchen!
Dir und unseren Kindern ein Lebenszeichen von mir zu senden, ist mir eine besondere Freude. Ich hoffe, daß Du gesund bist. Ich habe keinen Grund zur Klage, denn mir geht es gut. Mein Heimweh plagt mich. Vor allem sind es die Kinder, die ohne ihren Papa heranwachsen. Wenn ich nach Hause komme, was in absehbarer Zeit geschehen wird, werden die Kinder mich gar nicht als ihren Vater anerkennen. Ich befürchte, daß ich nicht zur Tür hereingelassen werde. Mein Lieb, bitte schreibe recht bald, denn ich warte genauso wie du auf ein Lebenszeichen aus der Heimat. Grüße die Kinder recht herzlich von mir. Du, mein einzig Lieb, sei vielmals gegrüßt mit Kuss von Deinem Fritz.