Vor 60 Jahren: Am 22. Februar 1956 fiel mit dem „Gesetz zur Behebung der Wohnungsnot im Lande Bremen“ der Startschuss für den Bau der Neuen Vahr

Viel Licht und Sonne, Raum und Grünflächen sollten die Bewohner der Neuen Vahr haben. Das komplette Kontrastprogramm zu den düsteren und beengten Mietskasernen von ehedem. Auf der grünen Wiese stampfte das Land Bremen ab 1957 eines der ambitioniertesten Wohnbauprojekte Deutschlands aus dem Boden. Ein gesellschaftspolitischer Kraftakt, um die Wohnungsnot der frühen Nachkriegsjahre zu beseitigen.

Es ist ein diesig trüber Spätdezembermorgen, als ich durch den langen Gang einer Einkaufspassage die „Berliner Freiheit“ im Herzen der Neuen Vahr erreiche. Interessiert blicke ich mich an dem Ort um, den ich erstmals besuche. Fast fühle ich mich wie ein Tourist, der sich die Pyramiden von Gizeh anschaut. Und so verkehrt ist der Vergleich vielleicht auch gar nicht. Nennen sich doch die Bewohner dieses Stadtteils mit leichtem Schmunzeln „Vahraonen“.

Unübersehbar und wohl auch so von den Stadtplanern beabsichtigt, ragt das Aalto-Hochhaus mit seinen 22 Stockwerken vor mir in die Höhe. Längst hat sich das nach seinem finnischen Architekten Alvar Aalto benannte Haus zu einem Markenzeichen entwickelt. Und auch auf mich übt das Gebäude mit seiner markanten Balkonfassade eine Faszination aus.

Da ich den Eingang des Hauses nicht gleich entdecke, muss ich es zunächst einmal umrunden, bevor ich vor der unauffälligen Eingangstür stehe. Auf meine Bitte lässt mich ein freundlicher Concierge herein und führt mich anschließend in die oberste Etage des Hauses, welches laut Auskunft noch immer das höchste Bremer Wohngebäude darstellt. Leider erlaubt das Wetter keinen weiten Ausblick, der an besseren Tagen sicherlich möglich wäre.

Anlaufpunkt des Autors an einem trüben Dezembermorgen: das Aalto-Hochhaus.
Foto: Sönke Ehmen

Und doch bin ich beeindruckt von dem Häusermeer, das unter mir liegt. Ein Wohnblock reiht sich entlang der Richard-Boljahn-Allee an den nächsten.

Bis Anfang der 1950er Jahre gab es hier nur Weiden und Felder. Damit war das Gelände bestens geeignet für Bremens Stadtplaner, als es darum ging, die Wohnungsnot der Nachkriegszeit zu beheben. Und diese war in der Tat drückend. Mitte der 1950er Jahre standen über 25.000 Wohnungssuchende auf einer Dringlichkeitsliste und allmonatlich erhöhte sich die Einwohnerzahl Bremens um geschätzte 1500 Personen. Im Innenstadtbereich gab es für so viele Menschen aber nicht mehr genügend freie Flächen. Und selbst wenn, so wären langwierige Vertragsverhandlungen mit zahllosen Eigentümern notwendig gewesen.

Die Gewoba kaufte in aller Stille zwei Millionen Quadratmeter

Die unbebaute „Grüne Wiese“ bot hingegen eine rasche und unkomplizierte Lösung, sowohl in verwaltungstechnischer als auch in baulicher Sicht. In aller Stille war daher von der Gewoba der Kauf von rund zwei Millionen Quadratmeter links und rechts der Franz-Schütte-Allee durchgeführt worden.

Dieser Landstreifen war in den Augen der damaligen Städteplaner geradezu ideal für den Bau neuer Wohnsiedlungen. „Die flächendeckende Durchsetzung des langen Wochenendes und damit die Verlängerung der häuslichen Freizeit, außerdem die Verbreitung des eigenen PKW als Verkehrsmittel machten es nicht zuletzt für junge Familien attraktiv, aus den Städten ins ‚Grüne‘ zu ziehen. Jede Beeinträchtigung der Wohnqualität durch Industrie und Gewerbe, Transport und Durchgangsverkehr galt es zu verbannen.“

Der Grundstein für die Neue Vahr wurde am 9. Mai 1957 durch Bürgermeister Wilhelm Kaisen gelegt. Ihm zur Seite standen mit Richard Boljahn, SPD-Fraktionsvorsitzender und zugleich Vorsitzender des Gewoba-Aufsichtsrates, sowie Gewoba-Geschäftsführer Herbert Ritze zwei Vertreter der entscheidenden Institution für die Entstehung der Neuen Vahr. Vor allem Boljahn erwies sich als treibende Kraft bei der Verwirklichung des Bauprojekts.

Euphorisch waren die Worte, welche die Leser anderntags im Weser-Kurier vorfanden. „Hier wird nicht mehr die lärmende Straße, sondern der ruhige Grünanger der städtebauliche Mittelpunkt der Wohngemeinschaften sein“, so Max Säume, der „Hausarchitekt“ der Gewoba.

Innerhalb von vier Jahren sollten jährlich 10.000 neue Wohnungen entstehen

Der Startschuss für eines der ambitioniertesten Wohnbauprojekte Deutschlands war aber bereits ein Jahr zuvor gefallen. Am 22. Februar 1956 hatte die Bremer Bürgerschaft nach einer achtstündigen und teilweise hitzig geführten Debatte das „Gesetz zur Behebung der Wohnungsnot im Lande Bremen“ beschlossen.

Das Gesetz sah vor, im Laufe der kommenden vier Jahre jährlich 10.000 neue Wohnungen zu errichten, wofür man etwa 450 Millionen DM veranschlagte. Auf das Baugebiet Neue Vahr entfielen dabei etwa 9000 Wohnungen, deren Baukosten man auf rund 150 Millionen DM bezifferte. Mehr als 35.000 Menschen sollten dort bis 1960 ein neues Zuhause finden und damit mehr als in Schwachhausen und Horn zusammen.

Vorgesehen waren die Wohnungen in erster Linie für sozial schwächere Bevölkerungskreise, weshalb der weitaus größte Teil der Wohnungen auch als Mietwohnung geplant war. Doch wollten die Planer dies nicht als Dogma verstanden wissen oder wie Boljahn es formulierte: „Eigentum so viel wie möglich, Mietwohnungen so viel wie nötig.“

Die maßgeblichen Architekten Ernst May, Max Säume, Hans Bernhard Reichow und Günther Hafemann folgten bei ihren Planungen den Gedanken einer demokratischen Gesellschaft. Strenge Formen galt es zu überwinden.

Das Leitbild der „aufgelockerten“ Stadt bestimmte die Planungen. Aus der „steinernen Stadt sollte ein Raumkontinuum werden, ohne Korridorstraßen“. An Ihre Stelle sollte ein fließender Raum mit markanten Dominanten treten. Licht und Sonne, Raum und Grünflächen sollten die dunklen, eng gesetzten Mietskasernen der Jahrhundertwende ersetzen. Eben ganz so, wie es die „Charta von Athen“ aus dem Jahre 1933 postulierte.

Für jede Wohneinheit als Bezugspunkt ein 14-geschossiges Hochhaus

Das Gesamtprojekt Neue Vahr gliedert sich räumlich in fünf Wohngemeinschaften. Für jede Einheit war eine Grundschule vorgesehen, ebenso aber auch Kinos, Kaufhäuser und öffentliche Einrichtungen wie Feuerwehr oder Ortsamt. Jede dieser Einheiten sollte als Bezugspunkt ein 14-geschossiges Hochhaus erhalten. „Jede Gemeinschaft braucht einen Mittelpunkt (und Mittelpunkt waren jahrhundertelang ja die Kirchen). Für mich braucht die Kirche nicht das höchste Gebäude zu sein. Es könnte auch ein entsprechendes Wohngebäude sein“, so Boljahn rückblickend in seinen Erinnerungen.

Als überragendes Zentrum der gesamten Großsiedlung war das bereits erwähnte Aalto-Hochaus vorgesehen, welches sozusagen symbolisch alle Wohneinheiten zusammenhalten sollte. Alvar Aalto, der in den 1950er Jahren sicherlich zu den wichtigsten Architekten Europas zählte, stand der modernen Architektur eher kritisch gegenüber.

Bei seinem Entwurf war er daher bemüht, den Menschen ein Haus zur Verfügung zu stellen, „in dem jede Wohnung dieselben physischen Qualitäten besitzt, wie ein Einfamilienhaus“. Hierzu gehörte für ihn auch ein möglichst langer Genuss von Sonnenlicht. Die markante, leicht wellenförmige Front des Hauses, welche dem Betrachter sicherlich als erstes auffällt, sollte dieses Ziel gewährleisten.

Um den Zusammenhalt des gesamten Wohnprojekts hervorzuheben, wurde nach Plänen des Hamburger Gartenarchitekten Karl-August Orf ein parkähnliches Erholungs- und Sportgelände geschaffen, welches bis an die einzelnen Häuser heranreicht. Bodenaufschüttungen, Wasserwege und vor allem der Vahrer See vermitteln dem Bewohner beim Blick aus dem Fenster das Gefühl, im Grünen zu wohnen.

Nach vier Jahren Bauzeit bezogen die ersten Bewohner ihr neues Zuhause

Nach vier Jahren Bauzeit konnten am 12. August 1961 in einem großen feierlichen Akt 9147 Mietwohnungen und 769 Eigenheime ihrer offiziellen Bestimmung übergeben werden. Mit überwältigender Freude bezogen die ersten Bewohner ihr neues Zuhause. Einbauküche, Balkon, gekachelte Bäder, eigene Schlafzimmer, warmes Wasser und Zentralheizung – welch ein Kontrast zu den früheren Unterkünften. Viele von ihnen waren ehemalige Flüchtlinge und hatten nicht selten über Jahre in Not- oder Behelfsunterkünften gelebt. Da anfangs vermehrt Gewerkschaftsmitglieder den Zuschlag für eine der begehrten Mietwohnungen erhielten, machte bald die wenig schmeichelhafte  Bezeichnung „Sozialistenghetto“ unter den Bremern die Runde.

Bei aller Kritik, die sich gegenüber dem Wohnprojekt Neue Vahr anbringen lässt, sollte man nicht außer Acht lassen, dass Städteplaner seit jeher mit einem Grundproblem zu kämpfen haben: Die Lebensdauer der errichteten Häuser, Straßen oder auch Brücken ist auf einen langen Zeitraum ausgerichtet ist, die Wünsche und Bedürfnisse der Bewohner wandeln sich hingegen sehr viel schneller.

Hierauf eine Antwort finden ist bis heute für die Verantwortlichen der Neuen Vahr eine permanente Herausforderung.

von Sönke Ehmen

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