Von ländlicher Idylle zum industriell geprägten Stadtteil: eine Spurensuche in Hastedt / Teil 1: das dörfliche Hastedt
Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts versprühte Hastedt einen ländlichen Charme. Doch dabei blieb es nicht, im Zuge der Industrialisierung wuchs das Dorf rasch über sich hinaus. Mit Grundstücksverkäufen verdienten die alteingesessenen Bauern nicht schlecht. Bauer Hagens, der „Löwe von Hastedt“, soll sich seine Zigarren gar mit Hundertmarkscheinen angesteckt haben. Kein Wunder, dass er als Bettler endete.
Der Charme Hastedts erschließt sich nicht sofort. Man hat Mühe, den ursprünglichen dörflichen Kern des Bremer Stadtteils zu finden und auch seine Grenzen sind nicht klar konturiert. Alte Hastedter Dorfkirche, Westfalensiedlung, Goliath, Lloyd-Dynamo, E-Werk, jüdischer Friedhof und Schulmuseum sind assoziative Stichworte mit geschichtlichem Gehalt und den Stadtteil prägendem Charakter. Eine historische Spurensuche fördert zu Tage, wie aus einem kleinen Bauerndorf ein industriell geprägter Stadtteil wurde, wie die Industrialisierung Wirtschaft, Gesellschaft und den Alltag der Menschen radikal änderte, wie eine Stadtplanung der Nachkriegszeit aus einem homogenen Stadtteil ein disparates und zerfasertes Gebilde machte.
Ein Foto von 1913 zeigt die Bennigsenstraße. Der Pferdewagen in der Mitte des Bildes fährt in Richtung Kirchbachstraße. Die Bennigsenstraße war ein Weg in die Hastedter Feldmark und die zentrale Verbindung zwischen Hastedt und Schwachhausen. Die Straße ist mit Bäumen bepflanzt und sogar zumindest teilweise beleuchtet (s. die Gaslaterne im Vordergrund). Gegenüber der Kirche liegt das Wohnhaus von Lehrer Beckmann und dann nichts mehr. Jenseits der Kirche sind nur Felder und Weiden. Das erkennt man auch sehr gut auf dem Bild, das den Bau der Westfalensiedlung 1927-29 zeigt. Am rechten Bildrand ist die Kirche zu sehen, dahinter keine Straße und keine Bebauung. Rechts an der Kirche führt wieder die Bennigsenstraße vorbei in Richtung Bahnlinie und weiter über die Kirchbachstraße nach Schwachhausen. Die Bismarckstraße endet praktisch an der Kirche.
Ein weiteres Foto aus den 1920er Jahren gibt einen kleinen Einblick in die dörfliche Sozialstruktur. Wir blicken auf die Alt-Hastedter Kirche in Richtung Hastedter Feldmark. Das weiße Haus mit dem vorgesetzten Giebel ist wohl das Pastorenhaus, die Gebäude daneben die zur Kirche gehörenden Wirtschaftsgebäude. Links daneben hinter den Bäumen liegt der Hof Lampe, einer der Vollbauern des Dorfes. Am rechten Bildrand sieht man die Häuslingshäuser von Seggermanns Born, ganz links steht eine Frau in der Tür, dahinter ist noch das Dach des Depken Hofes zu erkennen, auch ein Vollbauer, mit einem Besitz von 120 Morgen aber eher einer der kleineren.
Auch „das Dorf“, das wir gelegentlich als homogen wahrnehmen, weist eine soziale Differenzierung auf. Neben reichen Vollbauern, die z. T. mehr als 250 Morgen Land besaßen, gab es Pflugköthner, Kohlhöker und Häuslinge. Diese Ansicht vom Schoosterboorn aus den 1950er Jahren zeigt die Häuslingshäuser im Vordergrund, die zum Hof Papenhusen hinten, einem Kohlhöker, gehören. Im Hintergrund sieht man die Vahr.
Auf dem Weg zur Industrialisierung
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts dehnte sich die Stadt aus, die Bevölkerungszahlen explodierten. Um 1800 lebten in Bremen um die 60.000 Einwohner, hundert Jahre später 325.000. Verzeichnete Hastedt 1780 noch 300 Einwohner, so waren es 1905 7800. Die Stadt musste Straßen bauen, u.a. in der Hastedter Feldmark. Industrieunternehmen, die Arbeitskräfte brauchten, siedelten sich auch in Hastedt an, Infrastrukturmaßnahmen wurden durchgeführt. Für all diese Projekte verkauften die Hastedter Bauern ihr Land und verdienten letztendlich viel Geld – das sie auf unterschiedliche Art und Weise nutzten.
Bauer Hagens, der „Löwe von Hastedt“, soll sich mit Hundertmarkscheinen Zigarren angesteckt haben, kein Wunder, dass er als Bettler endete. Theodor Garbade, dessen Hof an der Hastedter Heerstraße lag, ist im Adressbuch von 1941 als „Privatmann“ verzeichnet. Nachkommen der Familie Garbade wanderten nach Südafrika und Brasilien aus, wo sie auf großen Farmen u.a. Pferde züchteten. Bauer Lampe übernahm eine Bauernstelle in Holstein. Der Ehler-Cuno-Hof erinnerte bis in die 1930er Jahre, nachdem auch hier große Teile der Ländereien verpachtet worden waren, mit einem paradiesischen Obstgarten mit Kirsch-, Apfel- und Birnenbäumen sowie Himbeeren, Johannisbeeren und Stachelbeeren inmitten des urbanen Treibens an die ländliche Vergangenheit Bremens.
Der letzte Teil der Hastedter Feldmark musste in den 1950er Jahren der Gartenstadt Vahr weichen. Der Zweite Weltkrieg hatte allerdings schon vorher zehn der elf großbäuerlichen Höfe zerstört. Damit war das „alte Hastedt“ aus dem Stadtbild so gut wie verschwunden. Einziges Zeugnis der bäuerlichen Vergangenheit ist der ehemalige Hof von Bernhard Garbade an der Hastedter Heerstraße, in dem seit 1905 die Tischlerei Kracke sitzt. Aus einem großen Bauernhof wurde ein großer Handwerksbetrieb.
Hastedt als „Zigarrenmacherdorf“
Man nannte Hastedt auch das „Zigarrenmacherdorf“. In der Tat: Noch 1910 verzeichnet das Adressbuch in der „Hastedter Chaussee“ über 25 Zigarrenmacher, Sortierer, Tabakarbeiter. Dazu kommen viele Zigarrengeschäfte. In der Chaussee Nr. 41 lebte und arbeitete der Zigarrenmacher Frese. Ein Bild zeigt in geradezu klassischer Weise, dass die Zigarrenmacherei Heimarbeit war. Der Zigarrenmacher holte mit einem Handwagen den Tabak beim Fabrikanten ab und fertigte die Zigarren zu Hause. Alle aus der Familie, auch Kinder, Alte und Invaliden, mussten mitarbeiten.
Außer einem Brett mit den Pressformen für die Zigarren, einem Messer und einem Tisch brauchte man keine Produktionsmittel. Etwas Fingerfertigkeit reichte aus. Der „Stropper“ entfernte Stängel und Rippen aus dem Tabakblatt. Die „Wickelmacher“ fertigten die „Wickel“, die gerollten Blätter als Einlage für die Zigarren an. Der „Zigarrenmacher“ selber legte um die Wickel das Deckblatt. Das war eine entscheidende Tätigkeit, die große Sachkenntnis erforderte, denn nur wenn das Deckblatt ordnungsgemäß saß, brannte die Zigarre. Der Zigarrenmacher sortierte zudem die fertigen Produkte nach Farbe und Größe. Einmal wöchentlich lieferte er dann seine fertigen Zigarren beim Fabrikanten ab.
Die Hastedter Zigarrenmacherfamilien arbeiteten auf engstem Raum. Zwar hatten sie meist ein kleines Häuschen für sich, die Wohnfläche überschritt aber selten 40 bis 50 m², die auf eine Küche, ein Wohn- und ein Schlafzimmer aufgeteilt war. Der Tabakstaub, der beim Verarbeiten der Blätter aufgewirbelt wurde, und der Dunst, der beim Trocken der Blätter auf dem Ofen entstand, drangen in die Lungen und schufen einen günstigen Nährboden für Krankheiten, vor allem Bronchitis und Tuberkulose.
Zigarrenfabrikation hat in Bremen eine lange Tradition
Im einem zweiten Bild sieht man nun, wie die Produktion umfänglich und in der Arbeitsteilung zunahm. Mehr Tabakarbeiter sortierten und wickelten nun in einem (größeren) Raum. Der Zigarrenmacher Frese nannte sich im Adressbuch denn auch „Zigarrenmacher und Zigarrenfabrikant“, ein entscheidender Schritt zur Auflösung der Verhältnisse der Heimarbeit.
Zigarrenfabrikation hat in Bremen eine lange Tradition. Sie hatte um 1800 begonnen und um 1850 arbeitete jeder sechste Bremer in der Zigarrenindustrie. Der Anschluss von Oldenburg und Hannover an den deutschen Zollverein im Jahre 1854 hatte zur Folge, dass die Zollgrenzen direkt vor den Toren der Stadt verliefen. Der Export von Bremer Zigarren war teuer geworden, mit der Konsequenz, dass viele Bremer Zigarrenfabrikanten ihre Betriebe in das Umland verlegten, z.B. nach Hemelingen. So konnten sie den Zoll sparen.
Diese Entwicklung hatte auch für Hastedt Folgen. Viele Tagelöhner, Häuslinge, arme Köthner sahen hier eine neue Einkommensmöglichkeit. Weil Hastedt jedoch zu Bremen gehörte und folglich nicht zum Gebiet des Zollvereins, war der Stadtteil als Standort für die Zigarrenfabriken unattraktiv. 1871 gab es nur drei in Hastedt, jedoch 166 Zigarrenmacher, in Hemelingen zum Vergleich waren 24 Zigarrenmanufakturen, die im Durchschnitt fünf bis zehn Arbeiter beschäftigten, ansässig.
von Diethelm und Mira Knauf