Beim Amtsantritt am 1. August 1945 verzichtete Wilhelm Kaisen auf die Amtsbezeichnung aus NS-Zeiten
Bei seinem Amtsantritt verzichtete Wilhelm Kaisen auf die Amtsbezeichnung als „Regierender Bürgermeister“. Anders als sein Vorgänger wollte der Sozialdemokrat mit der kompromittierenden Wortfindung aus NS-Zeiten nichts zu tun haben. Gegen die dominierende Stellung des Stadtoberhaupts hatte er dagegen nichts einzuwenden. Das „Führerprinzip“ – wenigstens fürs erste auch eine Sache für ihn.
Als „Regierender Bürgermeister“ wollte Wilhelm Kaisen nicht in die Geschichte eingehen. Bei seiner Ernennung zum neuen Stadtoberhaupt am 1. August 1945 distanzierte er sich mit aller Vehemenz von dieser „Schöpfung des nationalsozialistischen Staates“. Gar nicht einmal so sehr wegen seiner sozialdemokratischen Parteizugehörigkeit. Sondern in erster Linie, weil er die braune Amtsbezeichnung als unvereinbar mit Bremer Art und Tradition betrachtete. Kaisen bevorzugte die traditionelle Amtsbezeichnung „Präsident des Senats“.
Der Bremer Bürgermeister pflege überall als schlichter Bürger aufzutreten, schreibt er in seinen Lebenserinnerungen. Da passte es einfach nicht, wenn ihm eine so hochtrabende Bezeichnung zuteil wurde.
Geläufig ist die Amtsbezeichnung des „Regierenden Bürgermeisters“ durch das Berliner Beispiel. Doch wer weiß schon, dass es auch in Bremen einmal einen „Regierenden Bürgermeister“ gab? Zwölf Jahre lang führte das Stadtoberhaupt diese Amtsbezeichnung: von 1933 bis 1945 – bis Kaisen dem Spuk ein Ende machte. Fragt sich nur, warum die Bezeichnung in Berlin keinerlei Bauchschmerzen verursacht. Dafür gibt es gute Gründe.
Doch wie kommt diese merkwürdige Amtsbezeichnung überhaupt zustande? An sich klingt „Regierender Bürgermeister“ wie eine völlig überflüssige Doppelung. Ist denn ein Bürgermeister nicht immer regierend? Nicht unbedingt. In Bremen gibt es auch heute noch einen zweiten Bürgermeister. Und der regiert nicht, sondern fungiert nur als Stellvertreter des anderen Bürgermeisters. Ganz ähnlich sprach man früher häufig von „regierenden Fürsten“. Gemeint waren Fürsten, die tatsächlich an der Spitze eines Landes standen. Im Gegensatz zu solchen, die zwar einen klangvollen Titel hatten, aber keinerlei Regierungsgeschäfte erledigten.
Der „Regierende Bürgermeister“ – eine Hamburger Erfindung
Erstmals tauchte die Amtsbezeichnung „Regierender Bürgermeister“ im Mai 1933 in Hamburg auf. Im Zuge der NS-Machtkonsolidierung avancierte der damalige Senatspräsident und Erste Bürgermeister Carl Vincent Krogmann zum Regierenden Bürgermeister mit Richtlinienkompetenz. Die neue Amtsbezeichnung blieb ihm auch dann noch erhalten, als er die Führung des Landes abgeben musste und nur noch als Leiter der Stadtgemeinde firmierte.
Vermutlich haben sich die Bremer NS-Strategen am Hamburger Vorbild orientiert, als sie ihrerseits zum 1. Oktober 1933 einen Regierenden Bürgermeister installierten. Und zwar im Rahmen eines neuen Landesverwaltungsgesetzes, das die letzten Reste senatorischer Mitbestimmung über Bord warf. Dabei marschierten die beiden Hansestädte im Gleichschritt, denn zeitgleich wurde das vielgepriesene „Führer-Prinzip“ auch in der Elbmetropole gesetzmäßig verankert. Bis dahin hatte im Senat wenigstens pro forma das Kollegialitätsprinzip gegolten. Traditionell agierte der Präsident des Senats vor allem als Außenbeauftragter Bremens und Sprecher der Senatorenschaft, er war der klassische primus inter pares, der erste unter den Gleichen.
Damit war nun endgültig Schluss. Der Regierende Bürgermeister sei nunmehr absolut, stellten die Bremer Nachrichten fest. „Das Autoritätsprinzip ist damit sozusagen bis ins letzte durchgeführt.“ Was im Klartext bedeutete: Als unumschränkter Führer des Senats konnte der Regierende Bürgermeister schalten und walten, wie er wollte. Er musste vor niemandem Rechenschaft ablegen, war keiner Institution verantwortlich, schon gar nicht einer parlamentarischen Versammlung. Vorgesetzt war ihm nur noch das Reich, verkörpert durch den Reichsstatthalter in Person von Gauleiter Carl Röver. Das praktische Resultat im Wortlaut der Bremer Nachrichten: „Regelmäßiger Senatssitzungen bedarf es in Zukunft nicht mehr, und sollte es gelegentlich dazu kommen, so werden die Stimmen der Senatoren nur mehr beratende sein.“
Kaisens Vorgänger Erich Vagts wollte das „Führerprinzip“ beibehalten
Als geradezu maßgeschneidert empfand Kaisens Vorgänger Erich Vagts die Amtsbezeichnung als Regierender Bürgermeister. Schon allein, um dessen Autorität gegenüber den von ihm beaufsichtigten Bürgermeistern zu betonen. Freilich steckte noch weitaus mehr dahinter. Ließ er doch in der Senatssitzung vom 6. Juni 1945 wissen, das sogenannte Führerprinzip müsse „bis auf weiteres“ beibehalten werden. Indirekt machte er dafür die amerikanische Besatzungsbehörde verantwortlich, der gegenüber er die alleinige Verantwortung trage. Das Führerprinzip als angemessene Regierungsgrundlage auch noch nach dem Untergang des „Dritten Reichs“ – man höre und staune.
Nicht minder erstaunlich ist, dass Wilhelm Kaisen damit völlig einverstanden war. Zwar stieß er sich am „Regierenden Bürgermeister“, die Machtposition seines Vorgängers wollte er aber ausdrücklich beibehalten. Im Gespräch mit Militärgouverneur Bion C. Welker verlangte er, dass „in der Stellung, wie sie der Regierende Bürgermeister Vagts inne hatte, nichts geändert werden solle“. Anscheinend hätte Kaisen das auch anders haben können, solange er sich nur als Bürgermeister zur alleinigen Gesamtverantwortung gegenüber der Militärregierung bekannte. Doch er wollte eben nicht. Ein bemerkenswerter Aspekt, weil es in bisherigen Darstellungen unisono heißt, Kaisen habe schon bei seiner Ernennung zum Kollegialprinzip zurückkehren wollen.
In Berlin wurde der „Regierende Bürgermeister“ erst 1950 eingeführt
Anders als man annehmen könnte machte die neue Amtsbezeichnung im „Dritten Reich“ keine Schule. Der „Regierende Bürgermeister“ scheint eine Besonderheit der beiden Stadtstaaten Hamburg und Bremen geblieben zu sein. Offenbar handelte es sich um eine Art von hanseatischem Alleingang, um der ungeliebten Bezeichnung „Oberbürgermeister“ aus dem Weg zu gehen. In der Deutschen Gemeindeordnung von 1935 sucht man den „Regierenden Bürgermeister“ vergebens, er ist schlichtweg nicht vorgesehen. Sondern nur die schon gebräuchliche Amtsbezeichnung eines Oberbürgermeisters für Stadtkreise.
Weit gefehlt auch zu meinen, der Regierende Bürgermeister von Berlin sei ein Überbleibsel aus der NS-Zeit. Vielmehr wurde die neue Amtsbezeichnung erst mit Verabschiedung der neuen Verfassung im September 1950 eingeführt, erst seitdem traten die vormaligen Oberbürgermeister als Regierende Bürgermeister auf. Offenbar um dem Wunsch West-Berlins Nachdruck zu verleihen, der Bundesrepublik als zwölftes Land zugeschlagen zu werden. Dass man dabei ausgerechnet eine NS-Schöpfung quasi durch die Hintertür wieder salonfähig machte, zeugt nicht gerade von Fingerspitzengefühl. Oder war der braune Hintergrund der neuen Amtsbezeichnung einfach nicht mehr präsent? Eher unwahrscheinlich nach so wenigen Jahren.
So viel lässt sich zumindest sagen: Ein Problembewusstsein für„kontaminierte“ Begrifflichkeiten aus der NS-Zeit gab es damals noch nicht. In den Wahlkämpfen der 1950er Jahre sprachen auch Bremer Sozialdemokraten ganz sorglos von „Agitation“ und „Propaganda“.
von Frank Hethey