Vor 150 Jahren wurde die AG Weser gegründet – eine riskante Wette auf die Zukunft am 26. März 1872

„Use Akschen“ – „unsere Aktiengesellschaft“, so wird die AG Weser noch heute in Bremen genannt. Die besondere Verbundenheit mit der Werft und der Stolz auf die gemeinsam geleistete Arbeit drücken sich in dieser liebevollen Bezeichnung aus. Heute würde sie ihr 150-jähriges Bestehen feiern. Und tatsächlich: Für die Stadt Bremen ist die AG Weser auch fast vier Jahrzehnte nach ihrem Niedergang nicht nur Bremer Wirtschaftsgeschichte, sondern ein bewegender Teil der Bremer Identität.

Am 26. März 1872 fand die Gründung dieser „Actiengesellschaft Weser“ in einem dynamischen Umfeld statt. Sie entsprang dem grandiosen Anspruch der bremischen Kaufleute, ganz vorne mitzuspielen. Die schwerreichen „Pfeffersäcke“ wollten nicht nur Schiffe über die Meere schicken und Lagerhäuser mit in den Kolonien geernteten oder erbeuteten Waren betreiben, sondern das große Rad der Industrie drehen. Und das veränderte die Stadt grundlegend.

Auf dem neuen Werftgelände in Gröpelingen können vier Schiffe gleichzeitig gebaut werden.
Quelle: Focke-Museum

Schauen wir kurz zurück, wie sich diese Dynamik entfaltete. Als Johann Carsten Hinrich Waltjen und sein damaliger Partner Heinrich Leonhardt die private Eisengießerei Waltjen & Leonhardt 1843 ins Bremer Handelsregister eintragen lassen, hat die aus England stammende Dampfmaschine die Arbeitswelt bereits grundlegend verändert und ist zum Motor der Industriellen Revolution geworden. Die herkömmliche Handwerksarbeit wird vielerorts bereits durch industrielle Fertigung ersetzt. Industriereviere und Großstädte entstehen.

Die Freie Hansestadt Bremen ist zu dieser Zeit schon lange eine Hochburg der Seefahrer, Handwerker und Kaufleute. Dampfschiffe machen den Seetransport von Rohstoffen und anderen Gütern unabhängiger von den Naturelementen als Segelschiffe.

Da die Weser im 18. und 19. Jahrhundert jedoch stark versandet ist, müssen die Waren der Seeschiffe in Vegesack auf Leichter umgeladen und nach Bremen geschleppt oder getreidelt werden. Seit den 1830er -Jahren bemühen sich Wasserbauingenieure, eine Lösung für die zunehmende Versandung zu finden. Bisher ohne Erfolg.

Waltjen & Leonhardt und ab 1849 Waltjen & Co. bauen auf einem Gelände an der Stephanikirchenweide (da, wo später die Atlas-Werke und dann Kellogg’s produziert haben und heute ein neuer Stadtteil entsteht) zunächst „alles, was aus Eisen ist“, also Wendeltreppen, Schubkarren, Öfen, Windmühlenflügel, Gasometer und vieles mehr. Mit dem Bau des Dampfers Roland werden Waltjen & Co. zu Pionieren des Eisenschiffbaus in Deutschland. Zur Produktionspalette gehören außerdem Baggerschiffe und Schuten, Eisenbahnbrücken, Kessel und Maschinen. Das Material muss zu dieser Zeit noch umständlich per Fuhrwerk zur Werft gebracht werden.

Gleich nach der Gründung des Norddeutschen Lloyd 1857 baut die Werft den Schleppraddampfer Vulcan und den Passagierdampfer Nordsee, mit denen eine lange Zusammenarbeit von Reederei und Werft beginnt. Für die Stapelläufe muss allerdings noch geübt werden. Zum Stapellauf des Doppelschraubendampfers Nordsee heißt es in der Festschrift zum 100. Geburtstag der AG Weser: „Nachdem das Schiff etwa 10 Meter gerutscht war, blieb es auf der Helling sitzen. Es musste mit Winden und starken Balken wieder in Bewegung gesetzt werden und kam erst nach einer Arbeit von mehreren Tagen zu Wasser […]. Auch reichte die Hellingbahn nicht tief genug ins Wasser, so dass die Schiffe beim Stapellauf gleichsam ins Wasser geworfen wurden.“

Höchste Konzentration: Arbeiter in der Maschinenbauhalle um 1910.
Quelle: Sammlung Use Akschen-Verein

In der Stadt Bremen nimmt die Industrialisierung Fahrt auf, am Stadtbild ist das immer deutlicher abzulesen. In dieser Situation entwickelt eine Gruppe von 17 Bremer Kaufleuten den Plan, eine leistungsfähige Großwerft für den Bau von Seeschiffen aufzubauen. Unter ihnen sind Reeder vom Norddeutschen Lloyd, der D.D.G. Hansa und der Neptun-Reederei, Tabak- und Textilkaufleute sowie Mitglieder der Bürgerschaft und des Reichstags. Bremen soll im Welthandel künftig eine große Rolle spielen und dazu eigene Schiffbaukapazitäten vorhalten.

Das Konsortium tritt an den einzigen zu dieser Zeit verfügbaren Fachmann für Seeschiff- und Maschinenbau in Bremen heran. Carsten Waltjen soll seinen privaten Betrieb verkaufen und in eine Aktiengesellschaft umwandeln lassen – mit ihm selbst im Vorstand. Waltjen willigt schließlich ein, und die „Actiengesellschaft Weser“, kurz AG Weser, wird am 26. März 1872 gegründet und mit einem Grundkapital von 1,5 Millionen Talern ausgestattet, eingeteilt in 7 500 Aktien zu je 200 Taler.

Damit wird die AG Weser von einer mittelständischen Firma unter Führung eines Pioniers der Eisenverarbeitung zu einem Großunternehmen, in dem Bremer Kaufleute, Reeder, Vertreter der Bürgerschaft und des Reichstags ihre maritimen Interessen organisieren. Und der Schiffbau wird von einem Geschäft zwischen Reederei und Werft zu einer Angelegenheit von nationaler Bedeutung.

Umtriebig: Unternehmer Carsten Waltjen.
Quelle: Archiv

Wohlgemerkt: Die Gründung findet zu einem Zeitpunkt statt, an dem niemand wissen kann, ob Schiffe mit einem Tiefgang von mehr als einem halben Meter jemals wieder die Stadt anlaufen werden können. Es ist eine Wette auf die Zukunft. Alle Beteiligten setzen darauf, künftig Reis, Kaffee, Kakao, Jute und viele andere Güter in Bremen umschlagen und veredeln zu können.

Doch dann kommt Ludwig Franzius. Er wird 1875 Oberbaudirektor der Stadt und hat aussichtsreiche Pläne entwickelt, die Weser für Schiffe mit einem Tiefgang bis fünf Meter schiffbar zu machen. Er will den Fluss aber nicht nur mit besserem Gerät ausbaggern. Sein Meisterstück soll die Weserkorrektion von 1883 bis 1886 werden, begonnen mit dem Durchstich durch die Lange Bucht bei Gröpelingen. Das neue Konzept: Durch die Begradigung des Flusses soll sich die Fließgeschwindigkeit des Wassers erhöhen, wodurch sich der Strom selbst ein tiefes Bett graben kann.

Ludwig Franzius elektrisiert mit seinen Plänen die Kaufleute der Stadt. Er bekommt zusätzlich den Auftrag, ein großes Hafenbecken, den Freihafen I (den heutigen Europahafen), anzulegen. Bremen tritt dem Deutschen Zollverein bei. Der Freihafen I selbst bleibt Zollausland. So können die Kaufleute Waren anlanden, im Hafengebiet bearbeiten und wieder verschiffen, ohne Zoll bezahlen zu müssen.

Die Zähmung der Weser: Mit der Weserkorrektion wird die Voraussetzung für den Bau großer Schiffe in Bremen geschaffen.
Quelle: Archiv

Rund um den Hafen setzt ein wahrer Boom von Betriebsgründungen ein. Im großen Stil werden zwischen 1875 und 1914 Großbauten und Industrieanlagen errichtet. Die Bremer Lagerhaus-Gesellschaft (BLG) übernimmt 1877 den Hafenumschlag und verwaltet die Lager und Kajen der Stadt. 1888 siedelt sich die Jute Spinnerei und Weberei an der Nordstraße an. In Delmenhorst entsteht die Norddeutsche Wollkämmerei. Das Schienennetz der Staatsbahn und die Straßenbahn werden ausgebaut.

Die Marine wird zu einem großen Treiber des Werftstandortes. Zwischen 1875 und 1884 werden auf der AG Weser insgesamt 29 Kanonenboote gebaut. Sie heißen Wespe, Viper, Biene, Mücke, Scorpion, später Basilisk, Chamäleon, Crocodill, Salamander, Natter und Hummel. Es sind Namen der Tiere, die „auf der Erde und in der Luft ein harmloses Dasein führen (…), bis der Feind die Berührung herausfordert, bis sie gereizt werden; alsdann aber werden sie stechen, beißen und tödten“. So wird die Rede des Vorsitzenden der AG Weser, Alexander Mosle, zum Stapellauf des Kanonenbootes Scorpion am 19. Mai 1877 von der Weser-Zeitung zitiert.

Die Weserkorrektion gelingt und macht in ganz Deutschland großen Eindruck. 1891 beginnt der Bau des Holz- und Fabrikenhafens. Carl Erling betreibt dort ab 1897 die Rolandmühle. Bis 1906 wird das dritte Hafenbecken, der Freihafen II (der spätere Überseehafen), gebaut. Am Holz- und Fabrikenhafen entstehen Kaffee Hag und die Getreideverkehrsanlage.

Eifrig am Arbeiten: Rammarbeiten zur Weserkorrektion von 1887 bis 1895.
Quelle: Wikimedia Commons

Um größere Fracht- und Passagierschiffe, Spezialfahrzeuge und vor allen Dingen mehrere Schiffe gleichzeitig bauen zu können, pachtet die AG Weser 1901 ein Grundstück am Wendebecken des Holz- und Fabrikenhafens. Dieses wird mit einem Werfthafen von 1 200 Metern Länge und vier Hellingen mit Längsablauf zwischen 140 und 200 Metern ausgestattet. Im Juni 1905 ist die Umsiedlung der Werft und ihrer mittlerweile rund 2 500 Mitarbeiter vollzogen.

Die Stadt wächst in atemberaubendem Tempo. Der Bau- und Wirtschaftsboom soll Bremen bis zum Ersten Weltkrieg zu einer der wohlhabendsten Städte des Reichs machen. Parallel zum Aufstieg der Industrieunternehmen beginnt die Arbeiterschaft, sich gewerkschaftlich zu organisieren.

Denn für die Industrialisierung und den Hafenbau sind Tausende Arbeiterinnen und Arbeiter aus ganz Deutschland, Polen, Böhmen und Galizien angeworben worden. Im Bremer Westen schießen die kleinen Wohnstraßen aus dem Boden. Walle und Gröpelingen wandeln sich von Dörfern mit Bauernhöfen und Ausflugslokalen zur Vorstadt. Die Landarbeiter verschwinden, es entsteht die Bevölkerungsschicht der „Malocher“, des Proletariats. Harte körperliche Arbeit, Dreck, Krach und Gestank, endlose Arbeitszeiten und niedrige Löhne bestimmen das Leben. Die kleinen Häuser und Wohnungen sind oft völlig überbelegt. Unterernährung, Säuglingssterblichkeit und Typhus grassieren.

Beeindruckende Dimensionen: ein Arbeiter der AG Weser kurz vor dem Stapellauf eines großes Schiffes, vielleicht der legendäre Schnelldampfer „Bremen“.
Quelle: Sammlung Menke

Der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein (ADAV) von 1863 und die von Wilhelm Liebknecht und August Bebel 1869 gegründete Sozialdemokratische Deutsche Arbeiterpartei (SDAP) schließen sich 1875 zur Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (SAP) zusammen, der späteren SPD.

Ein langer Kampf zwischen Arbeiterschaft und Kapital beginnt. Große Streiks und Massenentlassungen kennzeichnen die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, in der die sozialistischen Parteien und Interessenverbände die soziale Lage der Arbeiterklasse verbessern und die politischen Herrschaftsstrukturen überwinden wollen, während Reichskanzler Otto von Bismarck die gesamte Sozialdemokratie und die Gewerkschaftsbewegung als „Reichsfeinde“ bezeichnet und per „Sozialistengesetz“ verbietet.

Doch die Gewerkschaften sind nicht aufzuhalten. In der Räterepublik 1919 spielen besonders die Arbeiter der AG Weser eine große Rolle, ebenso im späteren Widerstand gegen die Nazis. Über lange Verhandlungen in der Wirtschaftswunderzeit erkämpft die Arbeiterschaft sich nach und nach Anerkennung, angemessene Bezahlung und sogar den Platz am Tisch des Aufsichtsrates ihrer „Use Akschen“.

Die zweite Auflage des Buches „Stahlschnitt Schweisser Stapellauf – Geschichte(n) von der Arbeit auf der AG WESER“ von Frauke Wilhelm erscheint am 7.4.22 und kostet 29,90 Euro. Vorbestellungen siehe www.goldencity-bremen.de

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