Vor 70 Jahren: Der Extremwinter 1946/47 brachte Bremen an den Rand des Abgrunds
Eigentlich schien gegen Ende Dezember 1946 das Schlimmste überstanden zu sein. „Die strengen Tage sind vorbei“, jubelte der Weser-Kurier am 28. Dezember 1946. Zwei Wochen zuvor war die arktische Kälte über Norddeutschland hereingebrochen, kurz vor Weihnachten mussten die Menschen bei minus 12 Grad bibbern. Wahrlich kein Zuckerschlecken in den oft genug nur notdürftig wiederhergestellten Behausungen und Baracken. Doch nun zeigte sich ein Lichtstreifen am Horizont. „Es taut, Gottseidank“, atmete der Redakteur auf, „nun brauchste wenigstens nicht mehr im Mantel zu schlafen.“
Eine verfrühte Freude, wie sich nur allzu bald zeigen sollte. Bereits zum Jahreswechsel fiel das Thermometer wieder, am 7. Januar 1947 erreichte es minus 15 Grad. Zwar kletterten die Temperaturen innerhalb einer Woche noch einmal auf plus 10 Grad. Doch kurz danach setzte endgültig scharfer Frost ein, ab dem 19. Januar 1947 herrschte zwei Monate lang bittere Kälte von bis zu minus 19 Grad. Erst gegen Mitte März 1947 stiegen die Temperaturen wieder an.
Die Kältewelle hätte kaum zu einem ungünstigeren Zeitpunkt kommen können. Als „Hungerjahre“ sind vielen Menschen die Jahre unmittelbar nach Kriegsende in Erinnerung geblieben. Doch der eisige Winter 1946/47 setzte dem Ganzen noch einmal die Krone auf, als „Hungerwinter“ hat er sich tief ins Bewusstsein der Zeitgenossen eingegraben. Als ein kollektives Trauma, das die Menschen an den Rand des physischen und psychischen Zusammenbruchs brachte. Und bisweilen darüber hinaus.
„Hungerwinter“ mit Vorgeschichte
Die katastrophale Situation hat eine Vorgeschichte. Bereits im Januar 1946 galten 70 Prozent der Bremer Schulkinder als unterernährt. Verzweifelt versuchten die Behörden, durch immer härtere Einschnitte gegenzusteuern – das Wenige sollte bestmöglich unter die vielen verteilt werden. Bezeichnend genug, dass schon ab Februar 1946 gewerbliche Betriebe ihre Küchen- und Lebensmittelabfälle dem Ernährungsamt zur Verfügung stellen mussten. Der Bevölkerung wurde erlaubt, Brachflächen für den Gemüseanbau zu nutzen – wo es ging, pflanzten die Bremer Kartoffeln und Kohl an, so auch in den Grünanlagen vor dem Hauptbahnhof.
Doch das war schon damals nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Im März 1946 wurde die monatliche Brotration von zehn Kilogramm um die Hälfte gekürzt, 19.000 Menschen waren jetzt in Bremen auf die Versorgung durch Volksküchen der Arbeiterhilfe angewiesen. Mit anderen Worten, den Behörden entglitt die Lebensmittelversorgung. Dafür gab es eine Reihe von Gründen: die zerstörte Infrastruktur und gleichzeitig der Massenzustrom von Flüchtlingen und Vertriebenen aus dem Osten, die Rückkehr von Soldaten aus der Kriegsgefangenschaft.
Was die Behörden nicht mehr leisten konnten, musste durch private Initiative wettgemacht werden. Das „Hamstern“ wurde zum beherrschenden Schlagwort. Mit der Kleinbahn „Jan Reiners“ fuhren die Bremer massenweise ins nahe Umland, um noch verbliebene Wertgegenstände gegen Lebensmittel einzutauschen. Manch ein Bauer machte sich die Notsituation der Stadtmenschen skrupellos zunutze, das führte notwendig zu bösem Blut zwischen Stadt- und Landbevölkerung. Unter Zeitzeugen hat sich bis heute das Bild des habgierigen Bauern erhalten.
Dramatischer Kohlenmangel
Kaum weniger dramatisch war der Kohlenmangel. Bereits im Sommer 1946 versammelten sich am linken Weserufer gegenüber der Einfahrt des Überseehafens täglich Dutzende von Männern, Frauen und Kindern, um Kohle aus dem aufgeschlämmten Sand zu bergen. Mit schöner Regelmäßigkeit wurden Kohlenzüge um ihr Gut erleichtert – der Kohlenklau galt als Kavaliersdelikt, als legitime Notwehr. Man konnte sich an fünf Fingern abzählen, dass ein strenger Winter die schlechte Versorgungssituation dramatisch verschärfen würde. Zumal auch Brennholz in keiner nennenswerten Menge zur Verfügung stand. „Nachts verschwanden die Bäume an der Straße, sie wanderten in die Öfen“, erinnerte sich Bürgermeister Wilhelm Kaisen in seinen Memoiren. Im Sommer 1946 war eine vorgesehene Baumfällaktion im niedersächsischen Umland kläglich gescheitert. Als Ersatz sollte Torf herhalten, doch der musste erst einmal bei günstiger Witterung gestochen werden und konnte allenfalls im darauffolgenden Winter eine Option sein. „Die Lage ist also nicht nur bitter ernst, sie ist katastrophal“, konstatierte deshalb schon nach den ersten Frosttagen am 18. Dezember 1946 der Weser-Kurier. Und warnte: aus der „Kohlenkatastrophe“ könne eine „Massenkatastrophe“ werden.
Die ließ denn auch nicht lange auf sich warten. Historiker schätzen, der „Hungerwinter“ 1946/47 habe in Deutschland mehrere hunderttausend Hunger- und Kältetote gefordert. Zu denen zählten auch 34 Menschen, deren Kältetod der Weser-Kurier am 11. Januar 1947 vermeldete – sie waren bei einem Vertriebenentransport aus Breslau in einem ungeheizten Güterwaggon erfroren.
Doch wie der Notlage begegnen? Erste Maxime war, so gut wie möglich Energie zu sparen. Der Straßenbahnbetrieb wurde radikal zurückgefahren und die Arbeitszeit verkürzt, um nicht öffentliche Gebäude heizen zu müssen. Auch für die Schulen blieb die Eiszeit nicht ohne Folgen: Die Weihnachtsferien wurden bis zum 14. Januar 1947 verlängert. Auch danach wurde der Schulunterricht nicht wieder aufgenommen, stattdessen erhielten die Kinder zweimal wöchentlich Hausaufgaben.
35 Wärmehallen in Bremen
Um der frierenden Bevölkerung wenigstens zeitweise eine geheizte Unterkunft zu bieten, richtete die Stadt etliche Wärmehallen ein, meistens in Gaststätten. Anfang Januar 1947 gab es davon 19, einen Monat später sogar 35. Gleichwohl machte sich Hoffnungslosigkeit breit, vor allem unter den Heimatlosen und Vertriebenen. Die Nerven lagen blank, es kursierten Gerüchte über eine sprunghaft ansteigende Suizidrate. Einer, der seinem Leben in dieser düsteren Zeit ein Ende machte, war der bekannte Bremer Schriftsteller Karl Lerbs. Allerdings nicht in seiner Heimatstadt, sondern im bayrischen „Exil“.
Wer noch genügend Kraft hatte, versuchte auf eigene Faust durchzukommen. Wobei das auch schon mal wörtlich genommen werden darf. Am 10. Januar 1947 plünderten 60 bis 70 Personen einen Lebensmittelzug an der Reiherstraße in Oslebshausen und attackierten sogar die herbeigeeilte Polizei. Die wusste sich nur noch durch den Gebrauch der Schusswaffe zu helfen, ein 13-Jähriger wurde getroffen. „Ohne Unterschied von Geschlecht, Alter und sozialer Herkunft geht man auf Kohlendiebstahl aus“, berichtete einigermaßen konsterniert der Weser-Kurier. „Alle moralischen Hemmungen fallen.“
Schon beinahe als Sündenpfuhl erschien dem US-Bestsellerautor Mario Puzo die Weserstadt. Der spätere Verfasser von „Der Pate“ war in den frühen Nachkriegsjahren in Bremen stationiert, er wohnte in Schwachhausen unweit der Kurfürstenallee. In seinem Debütroman „Die dunkle Arena“ zeichnet er das Bild einer Gesellschaft, die unter den extremen Anforderungen regelrecht zusammenbricht. Jeder ist sich selbst der Nächste, bürgerliche Tugenden zählen nichts mehr. Von dieser Diagnose nimmt er auch die US-Soldaten nicht aus – allenthalben Chaos und Korruption.
Immer mehr „zweifelhafte Frauen“
Aber ist das erstaunlich in einer Situation, in der staatliche Instanzen die Existenzgrundlage nicht mehr sichern können? Kein Wunder, dass die Menschen versuchten, aus der behördlich geregelten, aber unzureichenden Bewirtschaftung auszubrechen. Ein idealer Nährboden für den Schwarzmarkt. Auf dem gab es nicht nur Nahrhaftes, sondern auch Dinge des täglichen Bedarfs wie Kleidung und andere Gebrauchsgegenstände. Man kaufte und verkaufte, notfalls auch den eigenen Körper. Wohl kaum zufällig stieg im Extremwinter 1946/47 die Zahl der aufgegriffenen „zweifelhaften Frauen“ rapide an. Wer sich prostituieren wollte, hielt sich in der Nähe der US-Freizeiteinrichtungen auf. Ein bevorzugtes Ziel: die Glocke als Standort des „Recreation Centers“. Über das „Fräuleinkarussell“, das sich unaufhörlich rund um das Konzerthaus drehte, schrieb Puzo: „Die GIs lungerten herum und beäugten die Frauen und die ‚Fräuleins‘, die langsam vorbeidefilierten und eine kleine Weile später, nachdem sie die Runde um das Haus gemacht hatten, abermals vorbeikamen.“
Ein heikles Thema gerade in Zeiten der Wohnungsnot waren die von der US-Army durchgeführten Wohnungsbeschlagnahmungen. Im November 1946 kam es deswegen sogar zu einer Protestaktion vor dem Rathaus, Senator Hermann Wolters musste die erhitzten Gemüter besänftigen. Andererseits leisteten die Amerikaner unschätzbare Hilfe bei der Versorgung der notleidenden Bevölkerung mit Lebensmitteln. Die Lebensmittellieferungen aus den USA sowie aus Schweden und der Schweiz bewahrten Deutschland vor einer Hungerkatastrophe. Die sogenannten Hoover-Speisungen, so benannt nach dem früheren US-Präsidenten Herbert Hoover, machten Geschichte. Freilich hätten die Landeshäupter die Lage lieber aus eigener Kraft bewältigt. „Es war deprimierend für die Ministerpräsidenten, die Besatzungsmacht um Hilfe bitten zu müssen“, befand Bürgermeister Kaisen, als er rückblickend die Lage im Februar 1947 schilderte.
Die prekäre Situation entspannte sich erst, als die Temperaturen am 4. März 1947 erstmals wieder über den Gefrierpunkt stiegen. Ärgerlich nur, dass sich damit auch die Eisschollen auf der Weser in Bewegung setzten. Die drohende Gefahr für die hölzernen Notbrücken und die Instandsetzungsarbeiten an den massiven Übergängen sah man wohl kommen – und war doch machtlos, als es am 18. März 1947 so weit war. An einem einzigen Tag wurden sämtliche Bremer Weserbrücken zerstört.
Das Frappierende: Noch nicht einmal nach Ende des „Hungerwinters“ trat eine spürbare Besserung der Ernährungslage ein. Noch im Mai 1947 lud die SPD in die Sporthalle zu einer öffentlichen Versammlung unter dem Motto „Kampf dem Hunger“ ein. Auch im Winter 1947/48 wiederholten sich die bekannten Bilder: Abermals bevölkerten die Menschen die Bahndämme in Erwartung von Kohlenzügen, wiederum bestimmte Meister Schmalhans den Speiseplan. Der bizonale Ausschuss für Ernährung erklärte Bremen im Januar 1948 sogar zum „Notstandsgebiet“.
Erst mit der Währungsreform vom 20. Juni 1948 zeichnete sich das Ende der „Notjahre“ ab. Doch selbst das war nur ein Anfang – bis zum Aufschwung des „Wirtschaftswunders“ sollte noch einige Jahre ins Land gehen.
von Frank Hethey