Früherer Landesarchäologe publiziert Buch über Ur-Kogge
Als der damalige Landesarchäologe Manfred Rech zum ersten Mal einen Blick auf die verschlammten Fundstücke warf, witterte er noch keine Sensation. Bei Kanalbauarbeiten an der Schlachte hatte sich ganz in der Nähe der Bürgermeister-Smidt-Brücke in 13 Metern Tiefe im Sommer 1991 etwas gefunden, das aussah wie ein primitives Wasserfahrzeug. „Mein erster Eindruck war, dass es sich um einen Einbaum aus der Sachsenzeit handeln könnte“, erinnert sich der 74-Jährige.
Inzwischen ist Rech klüger, heute spricht er von einer „echten Besonderheit“. Er ist überzeugt: Was vor 25 Jahren ans Tageslicht kam, ist der lange gesuchte „missing link“, das fehlende Verbindungsstück zwischen der mittelalterlichen Kogge und dem, was vorher war.
Aus Kostengründen wurde damals allerdings nur das Heck geborgen, zwei Drittel des Wracks blieben an Ort und Stelle. „Wer eine Million Euro über hat, kann den Rest heben“, witzelt Rech. Nach vierjähriger Recherchearbeit hat der Historiker jetzt ein Buch dazu vorgelegt. „Damit auch die Öffentlichkeit etwas davon hat und die Überreste nicht einfach nur im Magazin liegen und verfaulen“, wie er sagt.
Besonders faszinierend findet Rech die Schiffssteuerung. Dafür gab es beim Schlachte-Schiff ein Heckruder. Das hat sich zwar nicht erhalten, wohl aber die unterste Aufhängung in Gestalt einer eisernen Öse. Für Rech ein Quantensprung in der Schiffstechnik. „Es handelt sich um das erste weltweit nachgewiesene Heckruder“, schwärmt er. Vorbei die Zeiten, als man noch wie die Wikinger mit einem Seitenruder hantierte. Das Schlachte-Schiff als Vorbote einer neuen Ära.
Warum ein Einbaum im Rumpf?
Doch warum um Himmels Willen ein Einbaum im Rumpf? Zumal Einbäume beim Schiffbau damals eigentlich nicht mehr en vogue waren, schon die Wikingerschiffe hatten einen Kiel. Rech meint denn auch, eine „Idee“ aus der Frühzeit des Schiffbaus hätte Pate gestanden beim Bau des Schlachte-Schiffs. Das denkbar einfache Rezept: Man nehme einen Einbaum und setze Planken darauf, um das Volumen und die Seetüchtigkeit des Wasserfahrzeugs zu verbessern.
Was sich wie ein Rückschritt ausnimmt, ist laut Rech allerdings das genaue Gegenteil, er sieht darin eine technische Innovation. „Und zwar um das neu eingeführte Heckruder sicher am Schiffskörper zu befestigen.“ Freilich erwies sich die Idee mit dem Einbaum als evolutionäre Sackgasse, das Schiff wurde dadurch viel zu schwer. „Das Ding muss richtig durch die Wogen gestampft sein“, sagt Rech.
Mit der klassischen, dickbauchigen Kogge hat das Schlachte-Schiff nur wenig gemein. Könnte man als Laie jedenfalls annehmen, schon allein weil es nur vier Meter breit und 14 Meter lang gewesen ist. Geradezu bescheidene Maße im Vergleich mit der 1962 in Rablinghausen gefundenen Hanse-Kogge von 1380. Die war 23 Meter lang und sieben Meter breit. Doch für einen Experten wie Rech sind Breite und Länge nicht das entscheidende Kriterium, wenn es um die Frage geht: eine Kogge – ja oder nein?
Nach sorgfältiger Prüfung kommt er zu dem Schluss, „es am wahrscheinlichsten mit einer frühen Kogge zu tun zu haben“, einer „Proto-Kogge“ aus der Zeit um 1100. Lauten doch die entscheidenden Kogge-Kriterien, ob das Schiff steile Bug- und Hecksteven hat, einen flachen Boden und kraweele, also glatte und nicht überlappende Planken im unteren Bereich. Und damit kann das Schlachte-Schiff dienen.
Spekulationen über Ort des Schiffsbaus
Wo das Schlachte-Schiff gebaut wurde, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. „Vielleicht in Stade“, sagt Rech. Weil dort die gleichen Kalfatklammern zum Zusammenhalten der Planken gefunden worden seien wie beim Schlachte-Schiff. Doch ebenso gut könnte es in Bremen hergestellt worden sein. Denn für den Einbaum im Schiffsrumpf brauchte man eine besonders stattliche Eiche, ein Exemplar mit einem Durchmesser von über anderthalb Metern. Und die gab es ganz in der Nähe. „Damals wuchsen noch schöne, dicke Eichen rund um Bremen“, sagt Rech.
Gut und gern 50 Jahre dürfte das Schlachte-Schiff unterwegs gewesen sein, schätzt Rech. Und zwar als Handelsschiff in Diensten des Erzbischofs von Bremen. Weil der in Skandinavien einen Missionsauftrag hatte, war er ständig auf Reisen. Und leistete auch schon mal ganz konkrete Aufbauhilfe, wenn es um neue Gotteshäuser ging. Etwa beim Bau des Doms im dänischen Ribe, der just in jenen Jahren errichtet wurde, als das Schlachte-Schiff übers Meer segelte. Die mögliche Ladung auf der Route gen Norden: Tuffstein aus abgebrochenen Römer-Kastellen in der Rheingegend, damals ein ziemlich begehrtes Baumaterial.
Als das Schiff in der Weser versank, war seine Zeit schon abgelaufen. Zum Zeitpunkt seines Untergangs sei es bereits „halb abgewrackt“ gewesen, sagt Rech. Seine Vermutung: Man rückte dem Schiff auf einer Abwrackwerft an der längst zugeschütteten Balge zu Leibe, dem ersten stadtbremischen Hafen bevor der Betrieb an die Schlachte verlagert wurde.
Fragt sich nur, wie es dann in die Weser kam. Auch darauf hat Rech eine Antwort. Um 1150 herum habe es eine Jahrhundertflut gegeben, dabei sei das Wrack offenbar aus der Balge herausgetrieben worden. Daher also der im Grunde anachronistische Fundort, weil es damals noch überhaupt keinen Hafen an der Schlachte gab. „Da war nichts weiter als Sandland“, sagt Rech.
Namenlose Gefährt ans Herz gewachsen
Dem früheren Landesarchäologen ist das namenlose Gefährt so sehr ans Herz gewachsen, dass er für die Buchpublikation sogar Geld aus der eigenen Schatulle beigesteuert hat. Dass die Kulturbehörde sich an den Druckkosten nicht beteiligen wollte, wurmt ihn bis heute. „Armes Bremen“, murrt er in der Danksagung seines Buchs. Und berichtet, eine leitende Behörden-Mitarbeiterin habe ihm empfohlen, die geborgenen Holzteile doch einfach „in den Ofen zu stecken“. Das ist natürlich nicht geschehen, vielmehr befinden sich die Wrackstücke in der Obhut des Deutschen Schiffahrtsmuseums (DSM) in Bremerhaven. „Ich hoffe, dass sie dort auch gewürdigt werden“, sagt Rech.
Eine vergebliche Hoffnung, wie auf Nachfrage zu erfahren ist.
Im Mittelpunkt der neuen Dauerausstellung ab kommenden Winter stehe die Bremer Kogge, so die Geschäftsführende Direktorin Sunhild Kleingärtner. „Von diesem Objekt leiten sich alle Narrative, alle Erzählstränge ab.“ Soll heißen: Für das Schlachte-Schiff ist da kein Platz mehr. Wobei sich die Frage stellt, ob die gehobenen Teile überhaupt in einem vorzeigbaren Zustand sind. Führt Rech in seinem Buch doch aus, wie stark sie durch eine fragwürdige Konservierung in Zucker-Lösung in Mitleidenschaft gezogen worden seien.
Da ist es vielleicht besser, wenn die geborgenen Überreste des Schlachte-Schiffs einfach bleiben, wo sie sind – unter Verschluss im Museumsmagazin.
Manfred Rech: Das Bremer Schlachte-Schiff. Oceanum Verlag: Bremerhaven 2016, Preis: 34,90 Euro.
Bei diesem Beitrag handelt es sich um die erweiterte Fassung eines Artikels, der am 24. September 2016 im Weser-Kurier erschienen ist.