Der echte Che: Poster des südamerikanischen Revolutionärs im „Mädchenzimmer“ von Veronika Landau.
Quelle: Bestand Landau

Vor 50 Jahren: Rudi Dutschke spricht am 27. November 1967 in Bremen

Für Veronika Landau gab es keinen Zweifel, wo sie den Abend des 27. November 1967 verbringen würde. In die „Lila Eule“ wollte sie an diesem Montag, zum Vortrag des Studentenführers Rudi Dutschke. Der Kopf der Außerparlamentarischen Opposition (Apo) zu Gast in Bremen – das war ein Top-Ereignis für die Sympathisantenszene an der Weser. „Alle Links-Revolutionäre aus Bremen ‚mussten’ dahin“, sagt sie, „es ging gar nicht anders.“ Schon lange vor dem angekündigten Beginn um 20 Uhr sei der Jazzkeller „gerammelt voll“ gewesen, „die ‚Lila Eule’ platzte aus allen Nähten.“

Dutschke war keineswegs der erste, aber sicher der prominenteste Gastredner in der „Lila Eule“. Schon vorher hatten die Betreiber Olaf Dinné und Gerd Settje mindestens einmal pro Woche politische Diskussionen in der Kellerdisko veranstaltet. „Meistens sogar unter Anwesenheit irgendeiner APO-Berühmtheit“, so Dinné in seinem Erinnerungsbuch „15 Jahre SPD in Bremen, dann GRUEN“. Zu den Rednern zählte auch der bekannte DDR-Rechtsanwalt Friedrich Karl Kaul.

Doch die Zeiten änderten sich.

Der Tod des Berliner Studenten Benno Ohnsorg durch eine Polizeikugel im Juni 1967 hatte wie ein Fanal gewirkt. Mit rasanter Geschwindigkeit politisierte sich die ohnehin schon aufmüpfige Jugend, eine Welle der Empörung raste durch die Republik. Die Bremer Sozialdemokratie blieb davon nicht unberührt, die Jungsozialisten (Jusos) heizten das Feuer kräftig an. Unter ihnen auch Dinné und Settje, die schon vorher dem Partei-Establishment mächtig auf die Füße getreten waren. Für sie war klar, dass jetzt ein Mann anderen Kalibers in die „Eule“ musste.

Einer, der ein Zeichen setzen könnte. Einer wie Rudi Dutschke.

Keine Kontaktdaten von Dutschke

Im Visier der 68er: der Vietnamkrieg.
Quelle: Bestand Landau

Doch wie an den berühmten Revoluzzer herankommen? Weder Dinné noch sonst einer aus seinem Freundeskreis hatte eine Telefonnummer oder Adresse zur Hand. „Ich wußte nur, daß er in einer Kommune wohnte und oft im Büro des SDS verkehrte“, schreibt Dinné. Also machte sich der damals 31-Jährige auf den Weg nach West-Berlin, seinerzeit die Hochburg der studentischen Protestbewegung. Über die Transitstrecke rumpelte Dinné am 10. November 1967 durch die DDR gen Osten.

Wirklich einfach gestaltete sich die Kontaktaufnahme allerdings nicht.

Eine Mischung aus Misstrauen und Arroganz schlug dem Abgesandten aus Bremen mit seinem vermeintlich provinzlerischen Anliegen entgegen. „Was meint ihr, sollen wir die Revisionisten unterstützen?“ fragte Dutschke, so seine Frau in ihren Erinnerungen. „Oh, scheiße“, habe Dinné gemurmelt, „aber die Jusos machen etwas gegen die Partei.“

Erst drei Flaschen Wein und die positive Wirkung des Plakatentwurfs für den Auftritt in der „Lila Eule“ vermochten das Eis zu brechen. Nach kurzer Beratung sei er „mit einer Zusage entlassen“ worden, bemerkt Dinné süffisant.

Nun lief das Vorbereitungsprogramm an, allerorten kündeten die Plakate mit Dutschkes Konterfei vom bevorstehenden Besuch.

So richtig auf sein Kommen mochten sich seine Gastgeber aber nicht verlassen. Darum lautete der Beschluss: Dinné fährt am vorgesehenen Veranstaltungstag abermals nach West-Berlin und fliegt mit Dutschke zurück nach Bremen. Sicher ist sicher, die Luftverbindung sollte den pünktlichen Auftakt des Gastauftritts in der „Lila Eule“ garantieren.

Ein schöner Plan.

Doch trotz aller Vorkehrungen stellten sich unerwartete Probleme ein. „Als ich am 27. November vormittags in Berlin ankam, war dort die Hölle los“, erinnert sich Dinné. Der Grund: Eine Demonstration zur Befreiung der Apo-Aktivisten Fritz Teufel und Rainer Langhans aus der U-Haft in Moabit lief völlig aus dem Ruder, als Dutschke zum Angriff auf die Polizeikette blies. Sehr anschaulich schildert Dinné die Krawallen in seinem Buch. Wasserwerfer und berittene Polizei trieben die Demonstranten auseinander, auch er selbst musste Knüppelhiebe einstecken.

Schauplatz des Dutschke-Auftritts: die Lila Eule.
Quelle: Bestand Dinné

Keine Spur vom Apo-Führer

Inzwischen rannte die Zeit davon.

Nur noch drei Stunden blieben bis zum Termin in der „Eule“ und von Dutschke keine Spur. Unter eher glücklichen Umständen trieb Dinné ihn dann doch in einer Art konspirativen Wohnung im Kreis seiner Gesinnungsgenossen auf. Wenig erstaunlich, dass die jüngsten Ereignisse das Hauptgesprächsthema waren, nicht der anberaumte Trip an die Weser. „Als es halb sieben war, fragte ich zaghaft, wie es denn mit dem Bremen-Termin stehe“, so Dinné.

Den hatte die 68er-Ikone offenbar völlig vergessen. „Dutschke sagte, er habe nicht mal mehr Schuhe, sei total durchnäßt und eigentlich sei doch alles zu spät.“

Doch so einfach ließ sich Dinné nicht abwimmeln. Trockene Kleider sammelte er von den Anwesenden ein, mexikanische Plastikschuhe steuerte er aus eigenem Besitz bei – just jene Schuhe, die später zu trauriger Berühmtheit gelangten, weil sie auf dem Pressefoto vom Schauplatz des Attentats auf Dutschke im April 1968 zu sehen waren. Dinné drängte zur Eile, mit seinem Renault 4 rasten die beiden unter Missachtung so ziemlich aller roter Ampeln zum Flugplatz Tempelhof. Tickets mussten erst noch gekauft werden – und dennoch schafften es Dutschke und Dinné rechtzeitig um 19 Uhr ins Flugzeug.

In Bremen sehnsüchtig erwartet: Rudi Dutschke.

Eigentlich war damit alles gut.

Dumm nur, dass Dutschke mittlerweile als Rädelsführer polizeilich gesucht wurde. Vier schwer bewaffnete Polizisten holten ihn aus dem Flugzeug, mussten ihn aber wieder laufen lassen. Mit halbstündiger Verspätung hob die Maschine dann doch noch ab. Dutschke hatte dem Flugkapitän das Versprechen abgenommen, nicht ohne ihn zu starten.

Ein Medienereignis erster Güte war gegen 21 Uhr die Landung der Maschine auf dem Neuenlander Feld, nach den Vorkommnissen in West-Berlin hatten sich zahlreiche Pressevertreter eingefunden, gleißendes Scheinwerferlicht empfing Dutschke und Dinné – die Bilder haben Geschichte gemacht.

„Kein unausgegorener Studentenclown“

Im Taxi eines Freundes raste das Duo in Richtung Ostertor, knapp zwei Stunden war man inzwischen über der Zeit. Die laut Radio Bremen rund 400 Besucher im prall gefüllten Jazzkeller mussten sich mithin lange gedulden, bis Dutschke endlich das Wort ergriff. Auf zeitgenössischen Fotos ist ein Schachbrett zu sehen, auf dem die Mikrofone standen. „Das war der Schachtisch aus der Schachecke“, erinnert sich Dinné. „Da haben wir improvisiert, das war der einzige Tisch in der ‚Eule’.“

Wer indes einen geifernden Volkstribun erwartet hatte, wurde eines Besseren belehrt. Es sei „kein unausgegorener Studentenclown“ vor das Publikum getreten, bemerkte der spätere Bildungssenator Horst Werner Franke, damals frisch gebackener SPD-Bürgerschaftsabgeordneter, in seinem Beitrag für die Bremer Bürger-Zeitung. Ähnlich der Eindruck des Weser-Kurier: „Er spricht frei und sehr konzentriert, artikuliert überdeutlich und gestikuliert wenig.“

Das Thema seines Vortrags hatte die Lokalpresse schon im Vorfeld verbreitet, es war auch auf den Plakaten zu lesen: „Was heißt außerparlamentarische Opposition in unserer gegenwärtigen Lage?“ Ein Standardvortrag, in dem Dutschke die aktuelle Situation als spätkapitalistische Übergangsphase deutete. Das parlamentarische System taugte in seinen Augen ebenso wenig wie der osteuropäische Sozialismus zur Herausbildung des neuen, selbst bestimmten Menschen. Und der könne sich nur emanzipieren durch kritische Reflexion der bestehenden Verhältnisse, durch die Erkenntnis der ökonomischen Bedingtheit politischen Handelns.

Viel Protestpotenzial: Auch in Bremen gingen die Menschen auf die Straße, hier beim Ostermarsch 1968.
Quelle: Bestand Landau

Nach eigenem Eingeständnis verstand Veronika Landau kein Wort von Dutschkes Polit-Kauderwelsch. Sie dürfte damit nicht allein gewesen sein: Franke empfahl Dutschke, dem Volk aufs Maul zu schauen statt sich einer akademisch-sozialrevolutionären Fachsprache zu befleißigen.

Freilich gibt Landau bereitwillig zu, dass sie damals nicht nur rationalen Gedankengängen zugänglich war. Als 18-Jährige himmelte sie Dutschke an, er war für sie der „deutsche Che Guevara“. Dutschke habe eine „irre Ausstrahlung“ gehabt. „Ich bin ganz andächtig gewesen, die ganze Zeit habe ich nur diesen Mann angestarrt.“ Für sie sei damals klar gewesen: Wie er wollte sie Soziologie studieren.

Unbefriedigende Diskussion 

Auf Grundlage des Lila Eule-Plakats konzipiert: das Logo der neuen Schau im Focke-Museum.
Quelle: Focke-Museum

Nicht ganz nach dem Geschmack etlicher Zuhörer scheint die anschließende Diskussion gelaufen zu sein. Statt irgendwelcher Utopien wollte man aus dem Munde des Revolutionärs lieber konkrete Handlungsanweisungen hören. „Unbequemen Fragen weicht er dialektisch aus, ungeschulte Fragesteller macht er lächerlich“, ließ der Reporter von Radio Bremen wissen. „Seine Diktion ist demagogisch, sein Wesen intolerant.“ Dutschkes wenig befriedigender Tipp für praktische Betätigung: die Bildung kritischer Arbeitskreise, wobei er auf die Funktion der Häfen als „Güterumschlag“ für den Vietnamkrieg hinwies.

Kein Wunder, dass der Dutschke-Auftritt in der neuen Ausstellung des Focke-Museums zu „Protest + Neuanfang. Bremen nach 68“ eine Rolle spielt. In überdimensionaler Größe wird das bekannte Foto von Klaus Warwas aus der „Lila Eule“ gezeigt. „Auch Gewerkschafter und Behördenvertreter folgten aufmerksam den Ausführungen des marxistischen Soziologen“, heißt es im begleitenden Text.

Eine zutreffende, wenn auch etwas euphemistische Beschreibung der tatsächlichen Profession einiger Zuhörer. Zählten zu den „Behördenvertretern“ laut Dinné doch auch eine Reihe von Schlapphüten vom Verfassungsschutz. „Die kannten wir gut, wir duzten sie. Wir haben die aber gar nicht ernst genommen.“

Schlichtweg falsch ist indessen der Vermerk, in der Lokalpresse sei das Ereignis „kein großes Thema“ gewesen. Offenbar eine Ableitung von der Aussage Warwas’, der Weser-Kurier sei an seiner Aufnahme nicht interessiert gewesen. Das mag angehen, doch die Berichterstattung ignorierte den Dutschke-Besuch keineswegs.

Bereits am 28. November 1967 berichtete der Weser-Kurier auf der Titelseite in einer Spitzenmeldung über die ungehinderte Ankunft Dutschkes in Bremen. Und am 29. November in einem großen Aufmacher über den Vortrag in der „Eule“. Nichts Ungewöhnliches, wenn man sich vor Augen hält, dass die Dutschke-Rede eine Abendveranstaltung bis tief in die Nacht gewesen war und deshalb unmöglich schon am Folgetag im Blatt hätte stehen können.

Blickt zurück auf seine Zeit mit Dutschke: Olaf Dinné.
Foto: Frank Hethey

Im Renault retour nach West-Berlin

Nicht ganz klar ist, wie lange Dutschke in Bremen verweilte. Im damaligen Radio Bremen-Bericht wie auch im Erinnerungsbuch von Dinné heißt es, Dutschke sei nur drei Stunden geblieben und noch in der Nacht nach Berlin zurückgekehrt. Anders Dinné im persönlichen Gespräch heute. „Dutschke hat bei uns in der Eule geschlafen, wir sind dann relativ früh am nächsten Morgen losgefahren.“

Zu dritt ging es im Renault 7 von Settje retour, weil der Wagen von Dinné ja noch in Berlin stand. „Dutschke hat die meiste Zeit im Auto geschlafen“, sagt Dinné. „Der hatte ein dringendes Schlafbedürfnis“ – die Nachwirkungen des ereignisreichen Vortags erst mit der Demonstration in Berlin und danach mit dem Vortrag in der „Eule“. In Berlin trennten sich schon bald ihre Wege. „Wir haben ihn einfach nur abgeliefert, er hatte schon wieder irgendeinen Termin.“

Den hatte auch Veronika Landau. „Am nächsten Morgen um acht Uhr musste ich meine Kaufmannsgehilfen-Prüfung ablegen“, erinnert sie sich. Gleich dreifachen Ärger habe sie daher mit ihrem Vater gehabt: einmal wegen der Prüfung, dann weil sie mit 18 Jahren noch nicht volljährig gewesen sei und schließlich weil die Dutschke-Rede in der Woche stattgefunden habe. „Abgesehen davon, dass mein Vater von diesem ‚Chaoten aus Berlin’ nichts wissen wollte.“

Der so geschmähte Chaot sollte zwölf Jahre später nach Bremen zurückkehren. Als Wahlhelfer der Bremer Grünen Liste (BGL) seines einstigen Gastgebers Dinné sorgte Dutschke im Herbst 1979 für einiges Aufsehen. Zumal er sich dauerhaft in Bremen niederlassen wollte, der einstige Apo-Führer wurde als Landesgeschäftsführer der neuen Partei gehandelt.

Sein Tod am 24. Dezember 1979 an den Folgen des Attentats zerschlug das Vorhaben. Doch das ist eine andere Geschichte (mehr zu Dutschke in Bremen hier).

von Frank Hethey

Ein Sprachgewaltiger in der Lila Eule: Rudi Dutschke am 27. November 1967.
Quelle: Radio Bremen

Von Anbiet bis Zuckerklatsche

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