Ein Blick in die Geschichte (159): Der Wendepunkt der „Bremer Straßenbahnunruhen“ im Januar 1968
Domsheide, 19. Januar 1968: Auf einer Streusalzkiste im Gleisdreieck stand sie, die damals 53-jährige Bürgermeisterin und Jugendsenatorin Annemarie Mevissen. Neben ihr der 20-jährige Student Hermann Rademann, einer der Wortführer des „Unabhängigen Schülerbundes“ (USB). Inmitten einer Menge von mehreren Tausend Schülern und jungen Erwachsenen versuchte die SPD-Politikerin am frühen Abend, die aufgebrachten Gemüter zu besänftigen. Der entscheidende Satz: „Dies ist eine legale Demonstration zu einer Sachfrage.“
Damit war das Eis gebrochen, ihr couragierter Auftritt gilt als Wendepunkt der Schülerproteste gegen die Fahrpreiserhöhung der Bremer Straßenbahn AG. Zuvor hatte es drei Tage lang heftige Auseinandersetzungen gegeben, mit Wasserwerfern und Schlagstöcken war die Polizei gegen die Demonstranten vorgegangen. Als „Bremer Straßenbahnunruhen“ sind die Ereignisse in die Geschichte eingegangen.
Rumort hatte es in der Schülerschaft schon im Vorjahr. Bereits kurz vor dem denkwürdigen Gastspiel des Studentenführers Rudi Dutschke am 27. November 1967 in der „Lila Eule“ hatten aufmüpfige Pennäler den USB als Konkurrenzorganisation zur etablierten „Arbeitsgemeinschaft Bremer Schülerringe“ (ABS) ins Leben gerufen. Trotz des rebellischen Zeitgeistes zweifelten die USB-Aktivisten anfangs am Erfolg möglicher Protestaktionen. Man sei „größtenteils skeptisch“ gewesen, berichtet USB-Mitbegründer Jörg Streese.
Erst ein kleines Häuflein
So war es denn eher ein kleines Häuflein, das am 15. Januar 1968 zur Tat schritt. An jenem Tag, als die Preiserhöhungen in Kraft traten, blockierten ein paar Dutzend Demonstranten auf der Domsheide die Straßenbahngleise. Das war das Fanal für eine Protestlawine, die Bremen innerhalb weniger Tage bundesweite Aufmerksamkeit verschaffte. Immer mehr junge Menschen schlossen sich den Protesten an, am 17. Januar zählte man bis zu 5000 Demonstranten in der Innenstadt.
Die Polizei ging mit aller Härte gegen die Demonstranten vor, Schlagstöcke und Wasserwerfer kamen zum Einsatz. Zu zweifelhaften Ruhm gelangte die Parole des damaligen Polizeipräsidenten Erich von Bock und Polach (SPD), eines ehemaligen Offiziers der Waffen-SS: „Draufhauen, draufhauen, nachsetzen!“ Nun eskalierte die Situation, Straßenbahnen und Busse wurden demoliert, es kam zu zahlreichen Festnahmen.
Keinerlei Verhandlungsbereitschaft ließ zunächst der junge Bürgermeister Hans Koschnick (SPD) erkennen. Erst seit wenigen Monaten im Amt, erklärte der 38-Jährige zu Beginn der Proteste, sich dem Druck der Straße nicht beugen zu wollen.„Setzt sie in den Schnee, dann ist der ganze Spuk schnell vorbei“, sagte er nach eigener Erinnerung. Auch als sich am 18. Januar rund 20.000 Menschen auf der Domsheide versammelten, beharrte er auf seiner Position: Eine Rücknahme der Fahrpreiserhöhungen kam für ihn nicht in Frage. Unterstützt wurde er in seiner unnachgiebigen Haltung von Fraktionschef Richard Boljahn. Allerdings nicht mehr, als sich Teile der Arbeiterschaft mit den Schülern solidarisierten.
Vierstündiges Krisentreffen
Am 19. Januar dann eine erste Entspannung, als ein vierstündiges Krisentreffen von Senatsmitgliedern und Schülervertretern im Rathaus stattfand. Mit dabei auch Mevissen – aber nicht Koschnick, der laut offizieller Verlautbarung wegen „einer dringlichen Angelegenheit“ nach Düsseldorf gefahren war. Dass er deshalb nicht zu den Demonstranten sprach, wurde ihm sehr verübelt, mitunter auch als Drückebergerei ausgelegt. Zwar war die Zusammenkunft mit dem nordrhein-westfälischen Innenminister Willi Weyer (FDP) in Düsseldorf schon lange geplant, doch das macht die Sache nicht besser. Gegen den Ratschlag seiner Frau sagte Koschnick den Termin nicht ab, eine erstaunliche Instinktlosigkeit. Im Rückblick deutete er an, er habe sich beim Besuch am Rhein guten Rat holen wollen: Immerhin hatte Weyer 1966 mit den gleichen Unbill zu tun gehabt.
Bremen den Rücken zu kehren, als regelrechte Straßenschlachten die Stadt in Atem hielten, war zweifellos eine gravierende Fehleinschätzung der wahren Verhältnisse, ganz offenbar erkannte Koschnick nicht den Ernst der Lage. Zerknirscht räumte er später ein: „Ich hätte es gleich sehen müssen: Hier brodelt viel mehr und das löst man nicht mit der Polizei.“
Wie aber zeitgleich die Situation vor Ort entschärfen? Der Weser-Kurier berichtete, an diesem 19. Januar hätten sich Demonstranten auf der Domsheide eingefunden, „offensichtlich bereit, sich notfalls erneut blutig prügeln zu lassen“. Doch statt der Polizei erschienen erst die beiden SPD-Bürgerschaftsabgeordneten Ella Müller und Horst-Werner Franke, der spätere Bildungssenator. Und anschließend in einem grauen Wagen Annemarie Mevissen, die aus dem offenen Fenster heraus per Megaphon ihre Gesprächsbereitschaft bekundete.
Freilich stand sie nicht von Anfang an auf der Streusalzkiste. Zunächst richtete sie vom Verkehrsturm der BSAG das Wort an die Demonstranten. Denen passte der überhöhte Standort allerdings nicht, laut Weser-Kurier wurde sie lautstark heruntergebeten. Obschon die Bürgermeisterin keine Rücknahme der Fahrpreiserhöhungen zusagen konnte, wurde ihr Auftritt allgemein als Friedensangebot verstanden. Von einem „Riesenerfolg der Bewegung“ sprach später Streese, es habe eine „ungeheure Aufbruchsstimmung“ geherrscht.
Die Euphorie sollte Früchte tragen: Bei einer weiteren Massenversammlung am 22. Januar 1968 auf dem Domshof nahm Koschnick die neuen Tarife wieder zurück. Auf die Forderung des USB-Wortführers Hermann Rademann, den Polizeipräsidenten zu entlassen, ließ er sich allerdings nicht ein. Geradezu anerkennend sprach derweil das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ von Rademann: „Dieser junge Mann verhalf in Bremen dem Dutschkismus auf die Sprünge.“
von Frank Hethey
Mehr zum damaligen Zeitgeschehen in der neuen Sonderausstellung „Protest + Neuanfang. Bremen nach 68“ im Focke-Museum.