Die Kneipe „Zur Seefahrt“ war früher ein sicherer Hafen im pulsierenden Rotlichtviertel in Walle

Wer heute durch das Waller Hafengebiet spaziert, kann sich kaum vorstellen, dass es hier einmal ein brummendes Nachtleben gegeben hat. Auch in der Kneipe „Zur Seefahrt“ herrschte trubeliges Treiben. Heike Schwerdtner, die Enkelin des Kneipengründers August Wehage, hat intensiv recherchiert und kennt viele überlieferte Geschichten von Seebären und amerikanischen GIs.

Beliebte Anlaufadresse: die Kneipe „Zur Seefahrt“ an der Wißmannstraße in Walle.
Quelle: Privat

In den 50er- und 60er-Jahren muss an der sogenannten Waller Küste, dem Rotlichtviertel in der Nähe der stadtbremischen Häfen um Europa-, Übersee und Holzhafen, jede Nacht eine Stimmung wie auf der Reeperbahn geherrscht haben. Heute jedoch existieren mit der „Bambus-Bar“, jetzt „Happy Night“, „Elefant“ und „Krokodil“ nur noch drei der damaligen Clubs, Bars und Kneipen an der Nordstraße.

Viel ist also nicht mehr übrig von der einst vibrierenden Waller Küste. Einst zogen hier Seeleute, Hafenarbeiter, Touristen und die vielen „Liebesmädchen“ von Kneipe zu Kneipe. Etwa 35 Bars und Tanzlokale gab es zu dieser Zeit an Nordstraße, Leutwein- und Wißmannstraße. Hier, in der Hausnummer 11, befand sich die Kneipe und Speisewirtschaft von August Wehage, 1906 ins Leben gerufen. Ein anderes legendäres Lokal, „Mutti Weiß“, war in der Hausnummer 16 beheimatet.

Erst Maurer, dann Gastwirt

Im Adressbuch ist Aug. Andr. Heinr. Wehage allerdings als Maurer aufgeführt, seine Frau mit Baugeschäft, Mittagstisch und Zigarrenverkauf. Die Adresse Wißmannstraße 11 stimmt jedoch. Offensichtlich arbeitete August Wehage zunächst als Maurer im Hafen, bevor er einen Kiosk und dann eine Kneipe aufmachte. Durch den Börsenkrach 1929 verlor Kneipier Wehage viel Geld, das er in Aktien angelegt hatte, erzählt seine Enkelin Heike Schwerdtner. Die Brauerei Dressler, deren Bier er verkaufte, habe dann die Schulden beglichen und als Gegenleistung die Kneipe erhalten.

Gute Stimmung: Silvesterfeier 1956 in der Kneipe „Zur Seefahrt“.
Quelle: Privat

Bereits 1925 hatte Augusts Tochter Lucie Wehage die Kneipe übernommen, die unmittelbar am Waller Stieg, am Eingang zum Überseehafen, lag. Sie führte sie – später gemeinsam mit ihrer jüngeren Schwester Wally Schwerdtner – bis zum Abriss der Wißmannstraße, die dem neuen Damm der Hafenbahn Platz machen musste. Als Lucie 75 Jahre alt wurde, hatte sie die Wirtschaft, die neben Bier und Speisen auch Fremdenzimmer für Reederei-Spediteure und Monteure anbot, 50 Jahre geführt. „Zur Seefahrt“ war der ruhende Pol in einer oft überdrehten Rotlichtszene. Bei Hafenpersonal und Seefahrern war sie deshalb auch als „Die Oase“ bekannt.

Ein heimeliger Ort

Lucie Wehages Nichte, Heike Schwerdtner, hat neben Fotos auch viele Geschichten über die Kneipe gesammelt. „Die Kneipe entwickelte sich zu einem heimeligen Ort für alle, die im Hafen arbeiteten und für die, die fern der jeweiligen Heimat ein bisschen häusliche Wärme, Freude und Spaß wollten“, erzählt Schwerdtner. „So kamen die Schauerleute, die klingende Namen wie ‚Heini Jack‘ trugen: robuste Kerle mit wettergegerbten Gesichtern, muskulösen Körpern und riesigen Pranken, und gingen bei Wally nach dem Be- oder Entladen der Schiffe ihr Feierabendbierchen trinken! Da Oma Wally immer mittrinken sollte, gab es für diese Fälle extra eine ‚Saft-Schnapsflasche‘“, so Schwerdtner. In dieser Flasche habe Wally Saft für sich selbst zum Trinken parat gehabt, der aussah wie Schnaps.

Als die guten Zeiten schon vorbei waren: die Kneipe „Zur Seefahrt“ 1973.
Quelle: Privat

In den 1950er-Jahren kamen neben den Weser-Lotsen, Schlepperfahrern, Kapitänen und Offizieren sowie Matrosen aus aller Welt auch amerikanische Soldaten – Bremen gehörte ja damals zur US-Besatzungszone – sehr gerne in die Kneipe.

Damit die ganzen Dollars nicht im Golden-City, Mosig, einer anderen Bar oder bei Mutti-Weiß verprasst wurden, vertrauten die Soldaten Wally gerne ihren Sold zu Verwahrung an. Das weiß Heike Schwerdtner von Wallys Tochter Ursi. „Wally bewahrte den Sold dann gut versteckt in ihrer Wohnung auf, bis die GIs wieder nach Amerika zurückmussten. Sie haben sich sehr wohl gefühlt bei ‚Wooally‘.“ Einige dieser Soldaten seien später wieder als Zivilpersonen zu Besuch gekommen. „Manche schrieben bis in die 70er-Jahre Postkarten aus aller Welt.“

Eine andere Geschichte handelt vom Prostituierten-Milieu. „Es gab auch drei Frauen aus dem Golden-City-Milieu, die regelmäßig in der Kneipe waren“, weiß Heike Schwerdtner von ihrer Tante Ursi. „Oft wurde hier Luft geholt oder zwischendurch mal eine Tasse Kaffee getrunken.“ Lucie habe das Anschaffen in ihrer Kneipe aber nicht toleriert. Kamen Frauen mit der Absicht, jemanden abzuschleppen, seien sie mit einem Teppichklopfer unter dem Gejohle der Kneipengäste vertrieben worden.

Bei allem, was in den Kneipen los war, wusste wahrscheinlich kaum einer der Gäste über die Bedeutung des Straßennamens Bescheid. Die Anfänge der Wißmannstraße reichen zurück bis Oktober 1906. Weil benachbarte Straßen schon nach Entdeckern und Forschungsreisenden benannt waren – in der Nähe des Waller Wasserturmes gab es zum Beispiel schon die Carl Peters Straße – schien sich Hermann von Wißmann in Bremen-Walle glänzend einzufügen. Das historische Bremer Adressbuch von 1916 führt ihn als Afrikareisenden auf und verortet die Straße in der (westlichen) Vorstadt zwischen Nordstraße und Waller Ring.

Einmal bitte recht freundlich: Lucy und Wally mit internationalen Gästen hinter dem Tresen.
Quelle: Privat

Girokonto statt Lohntüten

Wißmann war 1895/96 Gouverneur von Deutsch-Ostafrika und verantwortlich für die blutige Niederschlagung von Aufständen im heutigen Tansania. Es gibt ein aussagekräftiges Monument, das den rassistischen und kolonialen Zeitgeist treffend wiedergibt und 1909 in Daressalam, damals Deutsch-Ostafrika, aufgestellt wurde. In der aufrechten Pose des Eroberers zeigt das 2,60 Meter hohe Standbild Wißmann in Uniform und Tropenhelm, gestützt auf ein Schwert. Zu Füßen der Figur blickt ein Askari, ein einheimischer Angehöriger soldatischer und polizeilicher kolonialer Hilfstruppen, zu ihm auf. Eine Reichsflagge senkt sich über einen erlegten Löwen.

In Deutschland war der 1890 geadelte Wißmann äußerst populär. Etliche Städte, wie auch Bremen, ehrten ihn mit einer Straßenbenennung. Allerdings vermittelte die Straße keinen pompösen Eindruck. Bebaut wurde nur der erste Teil zwischen Waller Ring und Nordstraße, der Rest führte ein kümmerliches Dasein als Zufahrtsstraße zu einer Reihe von Kohlenlagerschuppen. Deshalb wurde der unbebaute Teil im Herbst 1928 kurzerhand aufgehoben, den freien Raum konnte man gut für Lagerplätze gebrauchen.

Eine Vertrauenssache: Die Kneipe war auch ein Treffpunkt für amerikanische Soldaten, hier 1955.
Quelle: Privat

Das endgültige Ende der Wißmannstraße insgesamt kam im Oktober 1982, der WESER-KURIER zeigte „die letzten Reste der Wißmannstraße“, ein paar Meter Kopfsteinpflaster. Wenig später wurde an der Stelle dann der Damm der Hafenrandbahn aufgeschüttet. Trotz der problematischen kolonialen Geschichte des Ostafrika-Gouverneurs Wißmann gibt es bis heute im gesamten Bundesgebiet 23 Wißmann- oder Wissmannstraßen, unter anderem in Delmenhorst.

Der Bedeutungsverlust der Wißmannstraße war kein gutes Omen. Nachdem die Straße schon verschwunden war, kam sukzessive auch das Aus für viele Etablissements der Waller Küste. Als dann ab Mitte der 1960er-Jahre auf Container umgestellt und kaum noch Stückgut transportiert wurde, waren die Schiffe innerhalb weniger Stunden be- und entladen. Die Matrosen hatte keine Zeit mehr, sich zu vergnügen. Die Container wurden zudem zunehmend im Neustädter Hafen abgefertigt. Etliche Bars rund um die alten Hafenreviere im Bremer Westen mussten daraufhin dichtmachen.

Den endgültigen Todesstoß versetzte der Küste allerdings die Einführung des Girokontos. Lohntüten gab es nicht mehr und die Männer hatten kein Bargeld in den Taschen. Die monetäre Fürsorge der Kneipenwirtinnen für GIs und Schauerleute hatte sich überlebt.

Muskulöse Männer gönnen sich eine Ruhepause in der Kneipe „Zur Seefahrt“: Wally 1955 im Kreis von Schauerleuten.
Quelle: Privat

Von Anbiet bis Zuckerklatsche

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