Vor 125 Jahren erschütterte der Untergang des Lloyddampfers „Elbe“ die Weltöffentlichkeit

Seinen siebenjährigen Sohn wähnte Carl A. Hofmann aus Nebraska eigentlich schon in Sicherheit. Er habe den Jungen in ein Rettungsboot gebracht, berichtete er später, doch plötzlich seien Frauen und Kinder auf die andere Seite des untergehenden Schiffes beordert worden. „Meine Frau gab mir ihre goldene Uhr und verließ mich, desgleichen wurde mein Junge wieder aus dem Boot herausgenommen.“ Frau und Kind sollte der Amerikaner nie wieder sehen, zusammen mit 330 weiteren Menschen ertranken sie in den eisigen Fluten der Nordsee beim Untergang des Schnelldampfers „Elbe“ vor 125 Jahren, am 30. Januar 1895.

Das Auswandererschiff des Norddeutschen Lloyd bediente die Strecke von Bremerhaven nach New York, unzählige Male hatte die „Elbe“ den Atlantik schon überquert. Gegen 5.30 Uhr befand sich der Schnelldampfer am Eingang des Ärmelkanals, ungefähr auf halber Strecke zwischen der englischen Ostküste und Rotterdam. Es herrschte noch dunkle Nacht, die meisten Passagiere schliefen in ihren Kojen. Selbstverständlich hatte die „Elbe“ ihre Positionslichter gesetzt.

Den herannahenden englischen Kohlendampfer „Crathie“ wird man an Bord der „Elbe“ bemerkt haben. Gleichwohl sah man keinen Grund, den eigenen Kurs zu ändern – nach den Verkehrsregeln auf See musste die „Crathie“ ausweichen, weil die „Elbe“ an ihrer rechten, der Steuerbordseite aufgetaucht war. Darauf verließ sich der wachhabende Steuermann der „Elbe“ ganz offenbar, ein eigenes Ausweichmanöver hätte womöglich Verwirrung gestiftet. Doch der Kohlendampfer änderte seinen Kurs nicht, beide Schiffe befanden sich zum Zeitpunkt der Kollision in voller Fahrt. Erst hieß es vonseiten der Engländer, es habe Nebel geherrscht. Doch später stellte sich heraus, dass die „Crathie“ praktisch blind unterwegs gewesen war. Gut zwei Jahre nach dem Unglück gab ihr Steuermann zu, zum Zeitpunkt der Kollision mit dem Ausgucksmann in der Kombüse Kaffee getrunken zu haben.

Wich nicht von der Brücke: Kapitän Kurt von Goessel.
Quelle: Focke-Museum

Der 127 Meter lange Schnelldampfer sank innerhalb kürzester Zeit, nur 20 Minuten nach der Kollision wurde die „Elbe“ von den Wellen verschluckt. Lediglich 20 Personen konnten sich retten: 13 Besatzungsmitglieder, zwei Lotsen sowie fünf Passagiere, darunter vier Kajütenpassagiere und nur einer aus dem Zwischendeck, dem klassischen Auswandererbereich. Kein einziges Kind überlebte und nur eine Frau, Anna Böcker aus Bremen, die sich als Kammermädchen einer älteren Dame in Southampton hatte von Bord gehen sollen. Es war das schwerste Schiffsunglück in der Geschichte des Norddeutschen Lloyd.

So gut wie keine Trümmerteile fanden sich an. Sogar das einzige Rettungsboot, das erfolgreich zu Wasser gelassen werden konnte, ging noch verloren – es löste sich vom Fischdampfer „Windflower“, der es nach Bergung der Überlebenden in Schlepptau genommen hatte. Nur wenige Leichen wurden aus dem Meer gefischt, obwohl die Reederei und der deutsche Konsul eine Belohnung für ihre Auffindung ausgesetzt hatten. Auch der damals 42-jährige Kapitän Kurt von Goessel aus Bremerhaven fand seine letzte Ruhe auf dem Meeresgrund. So gut wie nichts blieb vom einstigen Stolz des Norddeutschen Lloyd.

Der Untergang der „Elbe“ sorgte weltweit für Schlagzeilen. Nicht zuletzt in ihrem amerikanischen Zielhafen. „350 Lives lost. Steamship Elbe run down and sunk“, meldeten die New York Times nicht ganz korrekt auf ihrer Titelseite mitsamt einer Illustration des Unglückschiffs. Für einen Seitenhieb auf die ungeliebten Engländer nutzte eine Pariser Zeitung die Katastrophe. Es sei Zeit, den englischen Seeleuten die Sitten zivilisierter Völker beizubringen, stichelte das Blatt unter Anspielung auf die scheinbar unterlassene Hilfeleistung der „Cathrie“, die schwer beschädigt nach Rotterdam zurückgekehrt war. Eine bildliche Darstellung des Unglücks wurde dem geneigten Publikum auf etlichen schnell angefertigten Stichen geliefert. Wobei es die Künstler mit der Wahrheit nicht immer so genau nahmen. Auf einem Holzstich ist zu sehen, wie zwei Rettungsboote das untergehende Schiff verlassen. Tatsächlich gelang das nur einem Boot, das andere kippte in der aufgewühlten See um, kaum dass es das Wasser erreicht hatte.

Bis dahin hatte das 1881 in Dienst gestellte Dampfschiff nie für Aufsehen gesorgt, unter Auswanderern erfreute es sich großer Beliebtheit. Als erster Schnelldampfer des Norddeutschen Lloyd sollte die „Elbe“ der englischen Konkurrenz auf der Transatlantikroute die Stirn bieten. Gebaut wurde das elegante Schiff mit seinen charakteristischen vier Masten und den beiden Schornsteinen in Glasgow, bei einer Maschinenleistung von 5600 PS brachte es die „Elbe“ auf 16 Knoten, umgerechnet 30 Stundenkilometer. Als Namensgeber der „Elbe-Klasse“ (auch „Flüsse-Klasse“) folgten dem Schiffsneubau bis 1891 noch zehn weitere, nahezu baugleiche Modelle, die allesamt nach deutschen Flüssen benannt waren. Konzipiert war der Schnelldampfer vor allem als Auswandererschiff. Für Migranten gab es im Zwischendeck rund 800 Plätze. Doch auch in Sachen Bequemlichkeit und Luxus setzte der Schnelldampfer neue Maßstäbe. Auf bis zu 310 Passagiere der ersten und zweiten Klasse warteten luxuriöse Kabinen. Von den „prunkvollen Salons, künstlerisch geschmückten Speisesälen, den behaglichen Cajüten“, schwärmten nach der Katastrophe die Innsbrucker Nachrichten.

Innerhalb von 20 Minuten versank der Schnelldampfer „Elbe“ in der Nordsee.
Quelle: C. Schlieper

Erst wenige Tage vor der Katastrophe war das Schiff von seiner letzten Atlantikreise zurückgekehrt. Am Dienstag, 29. Januar, um drei Uhr nachmittags stach die „Elbe“ nach nur dreitägiger Ruhezeit von Bremerhaven aus wieder in See. Man konnte von Glück sagen, dass der Dampfer anders als sonst von einer vollen Auslastung weit entfernt war. An sich hätten 1117 Passagiere Platz an Bord gehabt. In der Unglücksnacht war das Schiff also nur zu einem knappen Drittel belegt. Über Southampton sollte es nach New York gehen, neun Tage brauchte der Schnelldampfer für die Strecke. Neben Passagieren und Besatzung beförderte das Schiff eine Ladung von 143 Tonnen Reis und 96 Tonnen eiserner Radreifen. Zusätzlich befand sich eine deutsch-amerikanische Poststation mit prall gefüllten Briefsäcken an Bord. Weil mit der „Elbe“ die neue Ära des Post-Schnelldampferdienstes überhaupt erst begonnen hatte, nahm der Staatssekretär des Reichspostamts, Heinrich von Stephan, lebhaften Anteil an der Tragödie – an die Direktion des Norddeutschen Lloyd schickte er ein langes Kondolenzschreiben.

Nichts deutete auf eine ungewöhnliche Fahrt hin. Trotz aufkommenden Sturms berichteten die wenigen Überlebenden von einer ruhigen Nacht. Der Amerikaner Jan Vevera war sogar im Frühstücksraum eingeschlafen. Ob der Zusammenstoß einen ohrenbetäubenden Krach verursachte oder fast geräuschlos verlief, darüber gehen die Aussagen auseinander. Sicher ist indessen, dass sich der Bug der „Cathrie“ fast mittschiffs in die linke, die Backbordseite der „Elbe“ bohrte. Von einem riesigen Loch in halber Zimmergröße berichtete der überlebende Weserlotse. Getroffen war die Abteilung hinter dem Maschinenraum. Obschon das Schiff seine Fahrt noch kurz fortsetzte und wohl auch deshalb gewaltige Wassermassen eindrangen, rechnete die Schiffsführung offenbar nicht mit einem so schnellen Untergang. Der Passagier Hofmann legte sich in seiner Kajüte sogar wieder zur Ruhe. Erst als er wachsende Hektik an Bord bemerkte, begab er sich an Deck. Zu diesem Zeitpunkt war der Maschinenraum schon überflutet, in den Gängen schwappte das Wasser. Vevera berichtete, er habe nicht mehr zur Kajüte seiner Nichte gelangen können, mit der er Verwandte in Europa besucht hatte.

Ahnungslosigkeit im Zwischendeck

An Bord müssen sich herzzerreißende Szenen abgespielt haben. So wie bei Familie Hofmann, als der Vater sich gezwungen sah, Abschied von Frau und Kind zu nehmen. Zahlreiche Passagiere hatten sich nur notdürftig bekleiden können. Zugleich dürfte als sicher gelten, dass viele Menschen von der sich anbahnenden Katastrophe gar nichts mitbekamen. Das galt vor allem für die Auswanderer im Bauch des Schiffes, im Zwischendeck. In der Passagierliste finden sich zahlreiche osteuropäische Namen, insgesamt 81 Personen kamen aus Österreich-Ungarn. „Ich glaube nicht, daß die Zwischendeckpassagiere überhaupt etwas von der Collision erfahren haben“, zitierte die Weser-Zeitung den Kajütpassagier Hofmann.

Bei alledem bewahrte Kapitän Goessel offenbar stoische Ruhe. Bis zuletzt soll er auf der Brücke ausgeharrt und seine Befehle gegeben. Das passt zu den Charaktereigenschaften, die ihm ein früherer Schiffsbeamter zuschrieb. Goessel sei ein äußerst gewissenhafter Mann gewesen, als einmal einige betrunkene Kohlenzieher über Bord gegangen seien, habe er noch stundenlang nach ihnen suchen lassen. Mehrere Zeugen erklärten, Goessel habe befohlen, Frauen und Kinder zuerst zu retten. Und zwar über die unbeschädigte Steuerbordseite. Ein verhängnisvoller Fehler, wie sich zeigen sollte. Nur auf der leckgeschlagenen Backbordseite gelang es, zwei Rettungsboote zu Wasser zu lassen. In jenem, das sofort umkippte, hatte Anna Böcker einen Platz gefunden. Im Gegensatz zu den anderen Bootsinsassen, die zurück an Bord des Dampfers gelangten, wurde sie auf das intakte Rettungsboot gezogen. Dann ging alles ganz schnell, unerwartet schnell: Die „Elbe“ versank mit dem Heck zuerst, steil richtete sich der Bug auf. Goessel soll salutiert haben, als er mit seinem Schiff unterging. Er hinterließ eine Frau und drei Kinder.

Ein Überbleibsel: geborgener Brief von Bord der „Elbe“.
Quelle: Gemeinfrei

In Deutschland keimten zunächst noch Hoffnungen auf weitere Überlebende. Vor allem in Bremerhaven und Umgebung, der Heimat vieler Besatzungsmitglieder, klammerten sich die Angehörigen an jeden Strohhalm. Dass nur 22 Menschen den Untergang überlebt haben sollten, wollte man nicht wahrhaben. Es stehe zu hoffen, „daß alle übrigen an Bord befindlichen Personen von passirenden Schiffen“ aufgenommen worden seien, schrieb die Weser-Zeitung in der Morgenausgabe des 31. Januar 1895. Noch in der Mittagsausgabe desselben Tages bekräftigte das Blatt seinen vorsichtigen Optimismus. Die Unglücksstelle liege nahe bei der Küste und sei viel befahren. Tatsächlich kursierten wilde Gerüchte über die Zahl der Rettungsboote, die das sinkende Schiff noch hatten verlassen können. Mal war von dreien die Rede, mitunter sogar von acht. Allerdings hatte der der gerettete dritte Offizier schon kurz nach dem Unglück in einer Depesche nur von einem zweiten Boot gesprochen.

Im Tagesverlauf sickerten dann weitere Einzelheiten durch, schnell wurde das ganze Ausmaß der Katastrophe zur Gewissheit. Über die Zustände an Bord und insbesondere das Verhalten der Besatzung entbrannte ein erbitterter Streit. Die beiden Amerikaner Hofmann und Vevera sprachen von Panik auf dem Schiff und einer kopflosen Besatzung, die nur sich selbst habe retten wollen. Dem widersprach allerdings der englische Lotse, jeder Befehl sei mit größter Ruhe und Schnelligkeit ausgeführt worden. Für die Besatzung der „Cathrie“ hatte die Kollision ein Nachspiel, bei Verhandlungen in Rotterdam und Bremerhaven wurde dem Kohlendampfer die alleinige Schuld für das verheerende Unglück gegeben, allerdings rügte das Seeamt Bremerhaven im August 1895 auch den wachhabenden Steuermann der „Elbe“ – er habe es versäumt, entweder auszuweichen oder ein Signal mit der Dampfpfeife zu geben.

Für Bremen war der Untergang der „Elbe“ der zweite schwere Schlag nach dem Verlust von sechs Bremerhavener Fischdampfern kurz vor Weihnachten. Schon bald kam es zu einer Welle der Solidarität mit den Hinterbliebenen der Besatzung wie auch der minderbemittelten Passagiere aus dem Zwischendeck. In Bremen rief ein prominent besetztes Hilfskomitee zu Spenden auf, zu den Unterzeichnern gehörte neben dem Kaufmann und Mäzen Franz Ernst Schütte auch der Chefredakteur der Weser-Zeitung, Emil Fitger. Bis April 1895 kamen in ganz Deutschland insgesamt 630.000 Mark zusammen.

Posthum entfaltete sich um den stoischen Kapitän ein gewisser Heldenkult, er galt als Paradebeispiel für Manneszucht und Pflichterfüllung bis zum Letzten. Nur drei Wochen nach dem Unglück reichten zwei Privatmänner ein Gesuch beim Senat ein. Ihr Begehr: In der Feldmark Utbremen, dem heutigen Findorff, wollten sie eine neue Verbindung anlegen, die zum Gedenken an den „Elbe“-Kapitän den Namen Goesselstraße tragen sollte. Noch heute erinnert ein Medaillon an einer Hauswand gegenüber vom Schlachthof an Goessel. Viel Ehre wurde dem Seemann auch in Amerika zuteil – mitten in Kansas wurde ein kleiner Ort nach ihm benannt. Auf der Website von Goessel heißt es, deutschsprachige Mennoniten aus Russland hätten ihre Siedlung zunächst Gnadenfeld genannt. Als indessen die Hiobsbotschaft vom Untergang der „Elbe“ über den Atlantik schwappte, habe die neue Poststelle und mit ihr der ganze Ort im April 1895 den Namen Goessel erhalten. Der amerikanische Komponist Sebastian Bach Mills komponierte sogar den Marsch „Elbiata“ zur Erinnerung an das tragische Schiffsunglück.

Katastrophe am Morgen: Nur 20 Menschen überlebten den Untergang des Lloyddampfers „Elbe“ am 30. Januar 1895.

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