Vor 100 Jahren wurde der Politiker Matthias Erzberger ermordet – Linke organisierten Massenkundgebungen

Am 23. November 1921 klopfte es an der Haustür des berüchtigten Antisemiten Richard Rüthnick in der Bleicherstraße. Mehrere Polizeibeamte aus Baden, die mit der Aufklärung des Mordes an Matthias Erzberger beauftragt waren, begehrten Einlass. Die beiden Attentäter, die den früheren Reichsfinanzminister am 26. August 1921 im Schwarzwald erschossen hatten, waren zu diesem Zeitpunkt namentlich längst bekannt, allerdings hatte sich ihre Spur verloren. Dafür konzentrierte man sich jetzt auf die Hintermänner. Auf die Strippenzieher der Organisation Consul.

Nicht nur Politiker, sondern auch Buchautor: Matthias Erzberger in Denkerpose 1919.
Quelle: Haus der Geschichte Baden-Württemberg

Zwölf Tage lang nahmen die Kriminalisten den Oberlehrer in die Mangel. Nachdem man seine Bleibe auf den Kopf gestellt hatte, musste der mutmaßliche nordwestdeutsche Gauleiter des Geheimbunds in Untersuchungshaft Rede und Antwort stehen. Doch am Ende blieb der Polizei  nichts anderes übrig, als ihn wieder laufen zu lassen. „Es ergab sich kein Anhaltspunkt, dass er die Mörder gekannt oder gar unterstützt hätte“, schreibt der Historiker Klaus Schwarz. Unbehelligt konnte Rüthnick seiner Wege gehen, nur ein Jahr später zählte er zu den Gründern der ersten NSDAP-Ortsgruppe in Bremen.

Die Ermordung Erzbergers hatte ungeheures Aufsehen erregt, die Jagd nach den Mördern hielt Deutschland in Atem. Zwei ehemalige Berufsoffiziere, Heinrich Schulz und Heinrich Tillessen, hatten Erzberger am späten Vormittag des 26. August 1921 im badischen Bad Griesbach aufgelauert. Der damals 45-Jährige weilte dort gerade mit seiner Familie zur Kur. Bei einem Waldspaziergang mit seinem engen Vertrauten Carl Diez schritten sie zur Tat. Sein Begleiter wurde schwer verletzt, der schon getroffene Erzberger versuchte womöglich noch zu entkommen, wurde aber mit mehreren Kopfschüssen regelrecht exekutiert. Ein Polizeifoto zeigt den Leichnam am Fuß einer Böschung. Blut ist über seine Stirn gelaufen, die Brille sitzt noch an der richtigen Stelle, seine Augen sind geschlossen.

Mit Erzberger starb einer der „bestgehassten deutschen Politiker“, so der Historiker Martin Sabrow. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs noch stramm nationalistisch, hatte sich der aus Württemberg stammende Erzberger später für einen Verständigungsfrieden eingesetzt. Aus Sicht seiner Gegner war das schon schlimm genug. Weil er aber am 11. November 1918 auch noch als erster den Waffenstillstand unterschrieben hatte und die Annahme des Versailler Vertrags befürwortete, wurde er zum idealen Sündenbock für die „Dolchstoß-Legende“, nach der das deutsche Heer „im Felde unbesiegt“ geblieben sei und nur aufgrund systematischer Zersetzungsarbeit seine Kampfkraft eingebüßt habe.

Wenig Mitgefühl im rechtsbürgerlichen Lager

In Windeseile verbreiteten die Agenturen die Meldung von der Bluttat, die Weser-Zeitung brachte sie in ihrer Mittagsausgabe. Das Sprachrohr des rechtsbürgerlichen Lagers zeigte wenig Mitgefühl. Erzberger sei „zugleich der größte Krisenkünder und Krisenförderer“ gewesen, konstatierte das Blatt. Von einem politischen Mord, gar einer Verschwörung wollte die Weser-Zeitung nichts wissen. Lasse man alle „Demagogenlogik“ beiseite, handele es sich nur „um einen persönlichen Racheakt“. Nach Informationen der Weser-Zeitung ging die Mordtat auf das Konto von Jugendlichen. Zuzugestehen sei ihnen allenfalls eine „armselige Selbstüberschätzung“, zu irgendeiner Vergeltung berufen zu sein.

In Wahrheit, so ließ die Weser-Zeitung durchblicken, liege die tiefere Verantwortung für das Attentat bei den Linken. „Der Mord an Erzberger ist ein gemeiner Meuchelmord, von niemanden angestiftet, es sei denn von denen, die uns die Atmosphäre des Hasses schufen.“ Aus Sicht der Arbeiterbewegung natürlich eine abstruse Anschuldigung. Vielmehr deuteten die Linksparteien den Mordanschlag als Fanal der Rechtsextremisten zum Sturm auf die gebeutelte Republik. Infolgedessen riefen die Sozialdemokraten und ihre linke Abspaltung, die Unabhängigen Sozialdemokraten, in ganz Deutschland zu Massenkundgebungen am 31. August auf, den „Erzberger-Demonstrationen“. Allein in Berlin waren Hunderttausende auf den Beinen.

Ein schwerer Gang: Matthias Erzberger (Mitte) am 16. Januar 1919 in Trier auf dem Weg zu Verhandlungen zur Verlängerung des Waffenstillstands.
Quelle: National Archives and Records Administration

Auch in Bremen stieß der Aufruf auf Resonanz, mit rund 7000 Menschen füllte sich der Bahnhofsplatz. Unter der schwarz-rot-goldenen Flagge (mehr zu Bremen und der deutschen Flagge hier) und roten Wimpeln demonstrierten die Teilnehmer gegen die „monarchistische Reaktion“. Deren „ersten Opfer waren Liebknecht, Luxemburg und Eisner“, schrieb die Bremer Arbeiter-Zeitung am 30. August 1921. „Der politische Meuchelmord an Erzberger ist ein neues Glied in dieser Kette reaktionärer Verbrechen.“ Dabei machte das Organ der Unabhängigen Sozialdemokraten eine Verschiebung der Koordinaten aus, auch bürgerliche Politiker könnten ihres Lebens nicht mehr sicher sein. „Die Grenze rückt immer weiter nach rechts.“

Doch warum der Mordanschlag zu diesem Zeitpunkt? Seit seinem Rücktritt als Reichsfinanzminister im März 1920 nach einem von ihm selbst angestrengten Verleumdungsprozess war es still geworden um Erzberger. Zwar behielt er sein Abgeordnetenmandat im Reichstag bei, trat aber öffentlich kaum noch in Erscheinung. Dass sich Erzberger gänzlich aus dem politischen Geschäft zurückgezogen habe, mochten seine eingeschworenen Gegner allerdings nicht glauben. Vielmehr argwöhnten sie, der gestürzte „Novemberverbrecher“ bereite hinter den Kulissen seine Rückkehr auf die politische Bühne vor. Spekulationen über die „Erzbergerfrage“ machten die Runde. Noch im Juli 1921 warnte sein früherer Parteifreund Eduard Stadtler, Erzberger dränge mit Hilfe der Sozialdemokraten zur Führung im Reich.

Die Weser-Zeitung vermeldete den Erzberger-Mord noch am Tag des Geschehens in ihrer Mittagsausgabe.
Quelle: Staatsarchiv Bremen

Erzberger bastelte am Comeback

Tatsächlich bastelte Erzberger an seinem Comeback, auch wenn seine Partei keineswegs geschlossen hinter ihm stand. Der Ex-Minister sei gewillt gewesen, Ende August 1921 in die Politik zurückzukehren, schreibt Sabrow. Umso dringender wollten sich die rechtsextremistischen Geheimbündler seiner entledigen. Drei Wochen vor der Tat – also Anfang August – erhielten Schulz und Tillessen ihren Mordauftrag von einem geheimen Zirkel innerhalb der Organisation Consul, dem Germanenorden. Ausgestattet mit genügend Geld kundschafteten sie in aller Ruhe die Gewohnheiten Erzbergers während seines Kuraufenthalts aus, das exakte Vorgehen blieb ihnen überlassen.

Dass die badische Polizei im Spätherbst auch in Bremen auftauchte, kam nicht von ungefähr, die Marinebrigade Ehrhardt als Keimzelle der Organisation Consul war im Nordseeraum gut vernetzt. Kaum zufällig flatterte der ermittelnden Staatsanwaltschaft in Offenburg im September 1921 ein Tillessen-Brief aus Emden ins Haus, offenbar sollte damit eine falsche Fährte gelegt werden. Mit Sicherheit befanden sich die beiden Attentäter zu diesem Zeitpunkt ganz woanders, seit November 1921 logierten sie in einem Luxushotel in Budapest. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurde ihnen der Prozess gemacht.

Polemik kurz vor dem Mordanschlag: „Erzberger und kein Ende“ von Eduard Stadtler, erschienen im Juli 1921 in „Die Grenzboten“.
Quelle: Staats- und Universitätsbibliothek Bremen

Nur phasenweise hatte sich die politische Lage in Deutschland nach den bürgerkriegsähnlichen Zuständen Anfang 1919 beruhigt. Noch immer kämpfte die Weimarer Republik um ihr Überleben, selbst im vermeintlich so weltoffenen Bremen schlug Dompastor Otto Hartwich mit dem Volksbund „Rettet die Ehre“ (mehr dazu hier) scharf rassistische Töne an. Im März 1920 musste sich die parlamentarische Demokratie gegen den rechtsextremistischen Kapp-Putsch zur Wehr setzen, ziemlich genau ein Jahr später probten linksradikale Arbeiter in Mitteldeutschland und Hamburg den Aufstand. Auch in Bremen rumorte es auf der AG Weser, es blieb aber bei vereinzelten Sabotageakten. Die Situation spitzte sich mit dem Streik der Staatsarbeiter ab dem 13. August 1921 wieder zu, die Belegschaft der AG Weser beteiligte sich am Ausstand. Für zusätzliche Aufregung sorgten die deutsch-polnischen Kämpfe in Oberschlesien, erst im Juli 1921 war ein Waffenstillstand ausgehandelt worden.

Die Ermordung Erzbergers sei mitten „in diese angeheizte Stimmung“ gefallen, schreibt der Regionalhistoriker Herbert Schwarzwälder. „Wir sind auf dem Wege zu einer schweren, blutigen Auseinandersetzung“, warnte denn auch die kommunistische Rote Fahne und träumte schon von einer „neuen proletarischen Einheitsfront“ mit den beiden sozialdemokratischen Parteien und der christlichen Arbeiterschaft zur „Entwaffnung der Reaktion“. Tatsächlich fanden sich die Linksparteien damals zum ersten Mal nach dem Ende der Bremer Räterepublik (mehr dazu hier) wieder zu einer gemeinsamen Kundgebung zusammen.

Das beunruhigte die politischen Gegner. Die Massenkundgebungen wertete die Weser-Zeitung als Indiz dafür, dass die Linksparteien „mit allen Mitteln“ danach trachteten, politisches Kapital aus dem Mord zu schlagen. Dadurch erweise sich höchstens, dass die Linksparteien ihre Anhängerschaft nach Belieben mobilisieren konnten. Doch wem die wahren Sympathien der Bevölkerung gehörten, darüber konnte laut Weser-Zeitung kein Zweifel bestehen: Das sei der „Held von Tannenberg“, Feldmarschall Paul von Hindenburg. Sein Besuch im Februar 1921 habe gezeigt, „welche Liebe und Ehrerbietung“ ihm in Bremen zuteil werde (mehr zu den Hindenburg-Besuchen in Bremen hier).

Nervöse Sicherheitskräfte

Mit einiger Nervosität agierten die Sicherheitskräfte bei der „Erzberger-Demonstration“ am 31. August 1921. Nur allzu gut waren noch die beiden prägenden Ereignisse von 1919 in Erinnerung, die blutige Niederschlagung der Räterepublik und der Generalstreik mitsamt verschärftem Belagerungszustand. Um einen Marsch in das Herz der Stadt zu verhindern, wurden Maschinengewehre und Panzerautos auf dem Domshof platziert, laut BAZ die „Requisiten des Massenmordes“. Doch die Demonstranten zogen stattdessen ins Parkviertel und „sangen den dort wohnenden Herrschaften alte sozialistische Kampflieder vor“, wie die BAZ spöttisch vermerkte.

Gegen 19 Uhr löste sich der Demonstrationszug am Parkbahnhof in Sichtweite des Bürgerparks auf. Laut Weser-Zeitung wollten „ordnungsfeindliche Elemente“ – rund 800 Personen – weiter zum Marktplatz ziehen, nur mithilfe von eilig errichteten Drahtverhauen habe die Sicherheitspolizei ihnen am Herdentor Einhalt gebieten können. „Die Lage war zeitweilig bedrohlich“, vermeldete das Blatt. Ruhig schlafen konnten besorgte Bürger auch danach nicht. Nur zwei Tage später, am 2. September 1921, kam es abermals zu Tumulten in der Innenstadt, als Werftarbeiter eine Kundgebung der Kriegervereine anlässlich des Sedantages sprengten (mehr zu Bremen und dem Sedantag hier).

Der unerschrockene Demokrat Erzberger, der bereits 1920 einen Mordanschlag überlebt hatte und deshalb von bösen Vorahnungen geplagt wurde, sollte nicht das einzige Opfer der Organisation Consul bleiben. Ein Anschlag der Terrorgruppe auf den SPD-Politiker Philipp Scheidemann am 4. Juni 1922 schlug noch fehl. Weniger Glück hatte am 24. Juni 1922 der damalige Reichsaußenminister Walther Rathenau, der als Jude und „Systempolitiker“ gleich doppelt ins Feindbild der Rechtsextremen passte.

Galt als einer der „bestgehassten“ Männer in Deutschland: der Zentrumspolitiker Matthias Erzberger.
Quelle: Haus der Geschichte Baden-Württemberg

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