Vor 100 Jahren sorgte die Festnahme des rechtsradikalen Pädagogen Richard Rüthnick für Schlagzeilen
Seinen 40. Geburtstag am 27. November 1921 hatte sich der Oberlehrer Richard Rüthnick sicher anders vorgestellt – er verbrachte ihn hinter Gittern. Fünf Tage zuvor war der stadtbekannte Rechtsradikale in seinem Haus an der Bleicherstraße im Ostertorviertel verhaftet worden. Der dringende Verdacht: Mitgliedschaft in der Geheimorganisation Consul (OC), einer völkischen Terrorgruppe, auf deren Konto der Mord am Zentrumspolitiker Matthias Erzberger im August 1921 ging. Rüthnicks Festnahme sorgte tagelang für Schlagzeilen in der Presse. Von der Verhaftung des „Antisemitenhäuptlings“ war in der Bremer Arbeiter-Zeitung die Rede, dem Organ der unabhängigen Sozialdemokraten.
Am 22. November 1921 war die Kriminalpolizei bei Rüthnick aufgetaucht. Bei der Hausdurchsuchung erhärtete sich der Verdacht, dass der Studienrat womöglich in das Attentat auf Erzberger verstrickt war. Fanden die Beamten in seiner Wohnung doch die Statuten der Organisation Consul und einen Brief von seiner Hand mit den Silben „Hei“ und „Ti“ – die geheimen Kürzel für die beiden gesuchten Erzberger-Mörder Heinrich Schulz und Heinrich Tillessen. Zu seiner Entlastung hatte Rüthnick nichts vorzubringen. Der Oberlehrer verweigerte jegliche Aussage mit der Begründung, er tue dies „aus vaterländischem Interesse“.
Das reichte für den Haftbefehl. „Sein Verhalten bestärkt den Verdacht“, notierten die Beamten. Freilich konnte Rüthnick die Vorwürfe entkräften, nach einem elftägigen Verhörmarathon wurde er am 3. Dezember 1921 wieder auf freien Fuß gesetzt. Gegenüber der badischen Staatsanwaltschaft, der Strafverfolgungsbehörde im Fall Erzberger, zeigte sich Rüthnick nun auch kooperativ. „Er wird zum Zweck seiner Vernehmung in den nächsten Tagen nach Offenburg fahren“, vermeldeten die Bremer Nachrichten.
Es sollte nicht die einzige Verhaftung des Gymnasiallehrers bleiben. Am 4. Juli 1923 wurde Rüthnick abermals festgenommen. Diesmal unter dem Vorwurf, er sei auserkoren, bei einem reichsweiten Umsturzversuch den Senat in Bremen zu Fall zu bringen und selbst die Führung im Stadtstaat zu übernehmen. Doch es fand sich nichts Belastendes, nach einigen Tagen wurde er wieder freigelassen. Nach Angabe des Historikers Klaus Schwarz hatten ihn Feinde aus dem eigenen Lager denunziert.
Wer war dieser Unruhestifter im Beamtenverhältnis?
In den frühen 1920er-Jahren zählte Rüthnick zu den prominentesten Köpfen der völkischen Bewegung in Bremen. Rüthnick, der schon vor dem Ersten Weltkrieg als Führungsmitglied der antisemitischen Christlich-Sozialen Partei von sich reden gemacht hatte, mischte auch jetzt wieder mit. Nunmehr als Mitglied der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP), die sich mehr oder weniger offen für die Restaurierung der Monarchie einsetzte.
Der Trutzbund fachte den Antisemitismus an
Weitaus mehr Gewicht erlangte Rüthnick aber als Vorsitzender des örtlichen Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbundes. Der im Oktober 1919 gegründete Trutzbund galt mit seinen 180.000 Mitgliedern als einflussreichster antisemitischer Verband der frühen Nachkriegsjahre. Auch in Bremen wurde damals die Judenfeindschaft salonfähig. Mit einer regen Propagandatätigkeit fachte der Trutzbund den Antisemitismus an. „Sie kennen einen ‚anständigen‘ Juden“, lautete 1920 die Überschrift auf einem Flugblatt. Und dann weiter im Duktus gesicherter wissenschaftlicher Kenntnis: „Diese Bekanntschaft hindert Sie in der Judenfrage klar zu sehen.“
Anders als die Organisation Consul scheute der Trutzbund nicht das Licht der Öffentlichkeit. Im Gegenteil, mit einem „Deutschen Tag“ in Bremen zog der nordwestdeutsche Gau am 26. und 27. November 1921 alle Register nationalistischer Selbstvergewisserung. Allerdings ohne seinen inhaftierten Führer – das Geburtstagskind verpasste auch dieses Ereignis. Die Bremer Nachrichten gingen darüber elegant hinweg, an Stelle des „verhinderten Gauwarts Herrn Dr. Rüthnick“ habe sein Stellvertreter gesprochen.
Die Übergänge in der breit gefächerten völkischen Szene waren fließend, Mitgliedschaften in mehreren Gruppierungen keine Seltenheit. Der Kontakt zum bewaffneten Untergrund kann unter solchen Umständen kaum erstaunen. Im Fall Rüthnick hegten die Ermittlungsbehörden den begründeten Verdacht, „dass die Deutschvölkischen mit der Organisation C in irgendeiner Form zusammenhängen und für diese die leitenden Personen stellen“. Auf bis zu 50.000 Personen schätzten die Ermittler die reichsweite Anhängerschaft der Organisation Consul.
Mit einem Geheimbund in Verbindung gebracht zu werden, der den politischen Mord predigte, war selbst der DNVP unangenehm. Als die Arbeiterpresse nach Rüthnicks Verhaftung seine Mitgliedschaft in der DNVP zur Sprache brachte, konnte sich die Partei gar nicht schnell genug von ihm distanzieren. Er sei ausgetreten, ließ die Parteiführung wissen.
Eine neue politische Heimat fand der Pädagoge bei den Nationalsozialisten.
Vermutlich hat Rüthnick schon früher als der Kaffeemagnat Ludwig Roselius in Verbindung mit dem aufgehenden Stern der völkischen Szene gestanden: Adolf Hitler. Die Kontaktaufnahme datiert Schwarz auf 1920, damals hatte Hitler noch nicht den Parteivorsitz inne. Rüthnick wollte den Demagogen zu einem Vortrag nach Bremen locken. Hitler sagte auch zu, ließ sich dann aber doch nicht blicken.
Der Oberlehrer nahm es ihm offenbar nicht krumm. Im Dezember 1922 zählte Rüthnick zu den Mitbegründern der ersten, freilich ziemlich kurzlebigen Bremer NSDAP-Ortsgruppe. Nach ihrem Verbot im Februar 1923 beteiligte sich Rüthnick nicht mehr an der Neugründung der Partei im April 1924. Wohl auch, weil er den gescheiterten Putsch vom 9. November 1923 als dilettantische Tat verurteilte. Rüthnick sah in Hitler nur den „Trommler“ für eine klassenlose Volksgemeinschaft, nicht den charismatischen „Führer“.
Mit der Organisation Consul war nach Feststellung der Polizei schon länger nicht mehr zu rechnen. „Anzunehmen ist, dass sie infolge der augenblicklichen politischen Lage aufgelöst worden ist“, hieß es in einem Papier vom Juli 1922. Gemeint war der erhöhte Verfolgungsdruck nach dem Mord am jüdischen Reichsaußenminister Walther Rathenau und dem daraufhin erlassenen Gesetz zum Schutz der Republik, das auch den Trutzbund verbot. Doch wirklich sicher konnte man sich bei einem Geheimbund natürlich nicht sein. „Es ist schwer, etwas herauszubekommen, da etwaigen Schwätzern schwere Strafen auferlegt werden“, klagte ein Ermittler.
Wobei sich die Frage stellt, ob die Ermittler den Geheimbündlern überhaupt auf die Spur kommen wollten. Mitunter steckte die Polizei mit der Organisation Consul unter einer Decke, besonders eng waren die Verflechtungen in München. Der Bremer Polizeipräsident Leopold Petri war ein Duzfreund Rüthnicks.
Nachdem sich der Geheimbund aufgelöst hatte, avancierte Rüthnick zum örtlichen Führer der OC-Nachfolgeorganisation Bund Wiking. Als Wehrverband plante der Bund jedoch keine Anschläge und ging nach ein paar Jahren ein. Parallel legte Rüthnick 1923 eine Studie mit dem Titel „Bürgermeister Smidt und die Juden“ vor, die 1934 in zweiter Auflage erschien. Danach wurde es ruhiger um den Oberlehrer, als Pressewart des Veteranenverbands Stahlhelm setzte er sich für eine stärkere Rolle des Reichspräsidenten Paul von Hindenburg ein. In diesen Jahren sei es bei Rüthnick zu einem „Prozess des Umdenkens“ gekommen, so Schwarz in seinem biografischen Abriss.
Von seinen schrillen antisemitischen Tönen war jetzt nichts mehr zu hören. Bei einem historischen Vortrag im Februar 1936 würdigte Rüthnick die Verdienste der Psychologen Sigmund Freud und Alfred Adler, die in Nazi-Deutschland wegen ihrer jüdischen Abstammung stark angefeindet wurden. Schwarz konstatiert, Rüthnicks Expertise sei „ein offener Affront gegen die offizielle Parteiideologie“ gewesen.
Letztlich kostete ihm seine Haltung den Lehrerjob, im Dezember 1937 wurde er vorzeitig in den Ruhestand versetzt. Gauleiter Carl Röver sah in ihm sogar einen einen „Gegner der Bewegung“ und forderte deshalb die fristlose Entlassung ohne Pensionsansprüche. So völlig Unrecht hatte Röver mit seiner Einschätzung nicht, davon zeugen Rüthnicks Verbindungen zum Widerstand. Und zwar nicht etwa zu bürgerlichen Regimegegnern, sondern zur Bremer Zelle der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (SAPD), der politischen Heimat des jungen Willy Brandt.
Hart ging Rüthnick nach Kriegsende mit seinen Landsleuten ins Gericht. Dass sie nichts von den Gräueln gewusst hätten, sei „eine ganz faule, der objektiven Wahrheit ins Gesicht schlagende Ausrede“. Rüthnick starb mit 79 Jahren am 7. März 1951 plötzlich und unerwartet während einer Eisenbahnfahrt. „Ein Herzschlag setzte seinem irdischen Leben ein schnelles Ende“, hieß es in der Todesanzeige. Zwei Tage zuvor hatte er im Ottilie-Hoffmann-Haus am Osterdeich noch einen Vortrag über „Lili Schönemann in Goethes Leben“ gehalten, die Verlobte des Dichtertitanen.