Vor 60 Jahren erstattete Julius Dickel Strafanzeige gegen Kriminalsekretär Wilhelm Mündtrath, einen der Haupttäter der NS-Verfolgung der Sinti und Roma in Bremen
„Am 27. April 1961 gegen 17 Uhr 15 teilte Herr Staatsanwalt Dr. Höffler telefonisch mit, dass in seinem Dienstzimmer soeben ein Mann erschienen sei, der Angaben über den ehemaligen Kriminalbeamten Mündtrath machen wolle, die sich auf dessen Tätigkeit als so genannter Zigeunersachbearbeiter bezögen.“ Der Mann, der an diesem Spätnachmittag das Dienstzimmer des Staatsanwalts betreten hatte, war Julius Dickel. Einen Tag später sagte er ausführlich im Polizeihaus über den Kriminalsekretär Wilhelm Mündtrath aus: „Ich bin Zigeuner und wohnte zusammen mit meiner Familie im Jahre 1943 in einem Wohnwagen in Bremen-Gröpelingen, Stoteler Str. Mein Vater, Matthäus Dickel, war auf der AG-Weser-Werft beschäftigt. Zu meiner Familie gehörte ferner meine Mutter Albertine, sowie meine Schwester Hedwig und meine drei Brüder Egon, Johannes und Willi. Meine Brüder waren damals fünf bis 14 Jahre alt und meine Schwester war 20 Jahre alt. Am 8.3.1943 erschienen gegen 8 Uhr 30 an unserem Wohnwagen zwei Schutzpolizeibeamte und erklärten uns, dass wir festgenommen worden seien.“
Die Schupos brachten die Familie zur Polizeiwache und von dort, zusammen mit anderen Sinti und Roma aus Gröpelingen, „mit einem Sonderwagen der Straßenbahn zum Schlachthof im Findorff“. Von hier aus wurde die Familie zusammen mit circa 300 Sinti und Roma aus Nordwestdeutschland in das „Zigeunerfamilienlager“ Auschwitz-Birkenau deportiert. Den letzten von drei Transporten leitete Mündtrath. Julius Dickel, damals 16-jährig, überlebte als einziger seiner Familie die NS-Verfolgung. Seine Anzeige löste ein Ermittlungsverfahren gegen Wilhelm Mündtrath wegen des „Verdachts der Beihilfe zum Mord“ aus.
Der Grund für die Anzeige gegen Mündtrath war, dass Dickel in Mündtrath den eigentlichen Haupttäter sah. Hierfür gab es gute Gründe. Der am 17. März 1898 in Weidenau, einem heutigen Stadtteil von Siegen (NRW), geborene Kriminalsekretär war seit 1941 Leiter der sogenannten „Dienststelle für Zigeunerfragen“. Da sich in Bremen zu dieser Zeit die Kriminalpolizeileitstelle befand, bedeutete dies, dass von dieser Dienststelle aus die NS-Verfolgung der Sinti und Roma in Nordwestdeutschland organisiert wurde. Hier in Bremen wurden die Akten mehrerer Hundert Sinti und Roma geführt, von hier aus wurden die Anweisungen erteilt und Mündtrath überwachte die Ausführungen.
Rücksichtslos und brutal
Mündtrath war von auffälliger Statur: 1,90 Meter groß und 100 Kilogramm schwer. Zudem war er kahlköpfig, hatte blaue Augen, war verheiratet, hatte keine Kinder. Er sei „von allen gefürchtet gewesen, sogar von den Kindern“, lautete eine Feststellung eines Opfers über ihn. Er habe „viel Herzeleid“ über die Sinti und Roma gebracht und „seinen Dienst sehr rücksichtslos und brutal ausgeübt“, lautete eine andere Aussage. „Für seine Mitmenschen hatte er keine Gefühle“, er habe oft geschrien und „immer mit der Unterbringung in ein Konzentrationslager gedroht“. Die Angst vor ihm ging so weit, dass er mit Heinrich Himmler, dem Reichsführer SS und Chef der Deutschen Polizei, verglichen wurde. Er sei wie ein „2. Himmler“ gewesen.
Diese Charakterisierung überrascht auf dem ersten Blick. Mündtrath sah nicht wie Himmler aus und war auch nicht mit der Machtfülle des SS-Reichsführers ausgestattet. Bereits in seinem Entnazifizierungsverfahren 1948/49 wurde der Frage nachgegangen, ob er Mitglied in der allgemeinen SS mit Rang eines Untersturmführers war. Mündtrath sagte aus, dass er der SS nicht angehört habe. Aber bei seinem dreiwöchigen Einsatz in Hohensalza – im deutsch besetzten Teil Polens im „Reichsgau Wartheland“ – habe er als Kriminalsekretär die „angleichmäßige Uniform der SS getragen“, obwohl er kein SS-Mitglied gewesen sei. 1937 sei er bei einer SS-Rekrutierung gewesen, aber für „untauglich“ befunden worden. Ein Kollege stellte sogar über ihn fest, dass Mündtrath „im Deutschen etwas schwach war“, und er ihm häufig in „Fragen der Rechtschreibe-Verbesserung“ hätte helfen müssen.
Eine Zeugin wusste jedoch ein interessantes Detail zu berichten. Sie hatte im Dienstzimmer von Mündtrath auf seinem Schreibtisch „ein Bild des Betroffenen in SS-Uniform“ gesehen. Obwohl untauglich für und nie regulär Mitglied der SS, war Mündtrath also eitel genug, um von sich ein Foto in SS-Uniform auf den Schreibtisch zu stellen. Wie muss dieses Foto auf Menschen gewirkt haben, die er vorgeladen hatte und die ihm in seinem Dienstzimmer gegenübersaßen? Sie waren sicherlich eingeschüchtert und verängstigt. Es muss dieses Foto des Kriminalbeamten in SS-Uniform gewesen sein, dass sich den Opfern nachdrücklich einprägte.
16 Zeugen, darunter zwölf überlebende NS-Opfer, sagten in dem Ermittlungsverfahren aus, das sich von Mai 1961 bis September 1962 hinzog. Eindrücklich schilderten die Überlebenden die schrecklichen Ereignisse in Bremen. Mündtrath habe schwangere Frauen wegen Nichtigkeiten bei der Verhaftung unterm Bett hervorgezogen, wo sich seine Opfer ängstlich versteckt hatten. Insbesondere die Deportation im März 1943, bei der Mündtrath einen Transport in das „Zigeunerfamilienlager“ leitete, war ihnen in Erinnerung geblieben. Er habe während der Fahrt oft in den Abteilen bei den Opfern gesessen. Häufig habe er während der Fahrt gesagt, dass sie nach Polen umgesiedelt werden würden, „wir würden dort schon Disziplin lernen und könnten ‚uns die Radieschen mal von unten ansehen‘“, sagte Marie Bernhardt aus. Die Wirklichkeit war dagegen der qualvolle Tod in dem Vernichtungslager.
Ermittlungen 1962 eingestellt
Genau hier setzten die Ermittlungen des Staatsanwalts an, der klären wollte, ob Mündtrath die Menschen „in Kenntnis der Tatsache nach Auschwitz verbrachte hatte, dass diese dort getötet werden würden“. Als der Staatsanwalt am 26. Januar 1962 das Ermittlungsverfahren einstellte, erfolgte dies mit der Begründung, Mündtrath habe seinerzeit nicht erkennen können, „dass unschuldige Menschen ermordet werden sollten“. Zwar legte Julius Dickel hiergegen eine Beschwerde ein, woraufhin die Ermittlungen fortgeführt wurden – letzten Endes jedoch mit dem gleichen Ergebnis. Wieder stellte Staatsanwalt Siegfried Höffler am 28. September 1962 fest, dass er Mündtrath nicht habe nachweisen können, dass die in das „Zigeunerfamilienlager“ „hinverlegten“ Menschen „einmal getötet werden“ sollten.
Staatsanwalt Höffler führte in den 1960er-Jahren mehrere Ermittlungsverfahren wegen nationalsozialistischer Gewaltverbrechen durch, unter anderem gegen das Bremer Reserve-Polizeibataillon 105, deren Mitglieder an Deportationen von Juden und Sinti und Roma von Westerbork nach Auschwitz beteiligt waren oder gegen den Chef der Gestapo in Bremen, Erwin Schulz. Alle Verfahren wurden eingestellt.
Trotz dieses gescheiterten Versuchs einer justiziellen Aufarbeitung der NS-Verbrechen an den Sinti und Roma in Nordwestdeutschland muss festgehalten werden, dass es die Anzeigen der überlebenden Opfer waren, die quasi als Nebeneffekt überhaupt erst die Quellen schufen, die es späteren Historikern ermöglichten sollte, die NS-Verbrechen in Bremen aufzuarbeiten. Dadurch, dass die Täter in den Verhandlungen gezwungen wurden, auszusagen, dadurch, dass die überlebenden Opfer als Zeugen des Geschehens ihre Erlebnisse im wahrsten Sinne des Wortes zu Protokoll gaben, dadurch, dass darüber hinaus Ermittlungen angestellt wurden, konnten die tatsächlichen oder behaupteten Lücken in der amtlichen Quellenüberlieferung geschlossen werden. Darin liegt der historische Wert der Anzeige Julius Dickels trotz des ohne Zweifel unbefriedigenden Ausgangs seiner Bemühungen, denn keiner der beteiligten Beamten wurde je verurteilt oder in der Entnazifizierung über den Status eines „Mitläufers“ hinausgehend eingestuft.
Am 8. Januar 1973 starb Wilhelm Mündtrath 74-jährig in Bremen. Julius Dickel erlag am 20. Januar 1993 in Offenburg (Baden-Württemberg) einer Herzattacke. Das Grab der Familie Dickel befindet sich auf dem Buntentorfriedhof in der Neustadt. Es ist heute das älteste erhaltene Grab einer Sinti-Familie in Bremen. Vermutlich noch in diesem Jahr wird ein Gedenkstein an dem Grab an Julius Dickel und das Schicksal seiner Familie erinnern.
Dr. Hans Hesse, Historiker und gebürtiger Bremer, lebt heute bei Köln, forscht seit mehr als zwei Jahrzehnten zur NS-Verfolgung der Sinti und Roma in Nordwestdeutschland. Aktuell arbeitet Hesse an zwei „Gedenkbüchern“ für die ns-verfolgten Sinti und Roma aus Nordwestdeutschland.