Gewöhnungsbedürftig: die eigenwillige Perspektive des ungeübten Fotografen. Auch nachsichtige Kritiker werden feststellen, dass das Bild verwackelt ist. Foto: Frank Hethey

Gewöhnungsbedürftig: die eigenwillige Perspektive des ungeübten Fotografen. Auch nachsichtige Kritiker werden feststellen, dass das Bild verwackelt ist.
Foto: Frank Hethey

Mit seiner Pocketkamera hat der damals neunjährige Autor seinen Bremen-Besuch im Sommer 1976 dokumentiert. Nicht sämtliche Fotos genügen den höchsten Qualitätsansprüchen. 

Für den Neunjährigen war der Tagesausflug nach Bremen eine Sensation. Von Deutschland hatte er bis dahin nicht allzu viel gesehen, die Gebiete südlich der Elbe waren für ihn mehr oder weniger eine riesige terra incognita. Deshalb fand er es großartig, als seine Mutter im Spätsommer 1976 einen Besuch bei der Großmutter in Oldenburg für einen Abstecher in die benachbarte Hansestadt nutzte. Der Vater war zu Hause geblieben, nur er, sein Zwillingsbruder und die Mutter gingen auf Entdeckungsreise.

Natürlich hatte der Junge seine neue Pocketkamera dabei, einen Anfängerapparat mit dem damals top-modernen Schiebemechanismus. War ein Bild gemacht, musste man zum Weiterspulen die Kamera zusammenschieben. Das merkwürdig reißende Geräusch klingt ihm bis heute in den Ohren. Der Kamerahersteller Agfa bastelte daraus seinen berühmten Werbeslogan „Ritsch-Ratsch-Klick“.

Insgesamt elf Schnappschüsse hat der Neunjährige damals gemacht.

Eine der ersten Anlaufadressen beim Bremen-Besuch im Sommer 1976: die Böttcherstraße. Foto: Frank Hethey

Eine der ersten Anlaufadressen beim Bremen-Besuch im Sommer 1976: die Böttcherstraße.
Foto: Frank Hethey

Selbstverständlich schwarz-weiß-Aufnahmen. Das war die günstige Variante, Farbfotos galten noch als Luxus. Fein säuberlich hat er sie dann später in sein Fotoalbum geklebt und mit eher sparsamen Erläuterungen versehen. Das erstaunlich gut erhaltene Fotoalbum im unnachahmlichen Design der Siebziger Jahre dokumentiert, wohin es zuallererst ging – selbstverständlich zum zentralen Anziehungspunkt für alle Touristen, den Marktplatz.

Design im Zeitgeschmack: das Fotoalbum aus den 1970er Jahren. Foto: Frank Hethey

Design im Zeitgeschmack: das Fotoalbum aus den 1970er Jahren.
Foto: Frank Hethey

Die erste Aufnahme zeigt indessen vor allem eines, nämlich die Unzulänglichkeiten des jungen Fotografen. Das Motiv hat eine bedenkliche Schräglage, das Bild insgesamt ist leicht verwackelt. Gleichwohl erkennt man das Eingangsportal des Doms, daneben das 1910 errichtete Bismarck-Denkmal und im Hintergrund das Gebäude der Bremer Bank, einen historistischen Prachtbau im Stil der Neorenaissance. 1904 vollendet, ist das Gebäude heute eine von zehn Bremer Filialen der Commerzbank.

Zum Glück stellte sich rasch eine gewisse Routine ein, bereits die zweite Aufnahme ist gestochen scharf. Das Bild zeigt die Mutter und den Bruder vorm Eingang zur Böttcherstraße, über ihren Köpfen schwebt der Erzengel Michael im Kampf mit den Höllendrachen. Und nicht etwa der drachentötende Siegfried, wie viele meinen.

Trotzdem gilt der „Lichtbringer“ von Bernhard Hoetger als Hommage an Adolf Hitler. Was es damit auf sich hatte, warum der germanische Superheld ausgerechnet den Eingang zur Böttcherstraße zierte, war dem Neunjährigen natürlich nicht klar. Und der Mutter übrigens auch nicht, was der Begeisterung aber keinen Abbruch tat. Gemeinsam bestaunten sie den goldglänzenden Firniss, die elegante Schwertführung des kühnen Helden beim Kampf mit dem Untier.

Die Hafenrundfahrt hinterließ großen Eindruck bei dem Bremen-Besucher. Im Hintergrund der gewaltige Schiffsrumpf der "Shat Alarab" am Liegeplatz der AG Weser. Foto: Frank Hethey

Die Hafenrundfahrt hinterließ großen Eindruck bei dem Bremen-Besucher. Im Hintergrund der gewaltige Schiffsrumpf der „Shat Alarab“ am Liegeplatz der AG Weser.
Foto: Frank Hethey

Erst viel später, im Erwachsenenalter, ging dem Bremen-Besucher auf, dass das „Lichtbringer“-Relief einen zentralen Bestandteil der völkischen Inszenierung der Böttcherstraße ausmachte. Ihr Erbauer, der Kaffeeproduzent Ludwig Roselius, war ein national-romantischer Schwärmer und als solcher ein überzeugter Anhänger der Rassentheorie. Die Böttcherstraße hatte er als Gesamtkunstwerk errichten lassen, sie sollte die Besucher an die mythische Vergangenheit der arischen Heldenrasse gemahnen. Dazu gehörte auch die Mär vom versunkenen Atlantis als kulturelle Höchstleistung der Arier – darum der Atlantissaal und das gleichnamige Kino in der Böttcherstraße.

Keine Frage, dass auch die Stadtmusikanten als Anlaufstelle nicht fehlen durften. Wie fast jeder Betrachter war der junge Tourist allerdings ernüchtert von der Konfrontation mit der Wirklichkeit, er hatte eine deutlich größere Plastik erwartet.

Und doch fand er Gefallen an dem Meisterwerk des Bremer Bildhauers Gerhard Marcks, der die Stadtmusikanten im Auftrag des Verkehrsvereins angefertigt hatte. Seit 1953 steht es auf einem Sandsteinsockel am Alten Rathaus, nur ein paar Schritte entfernt vom Eingang zum Ratskeller. Anders als viele Bremen-Besucher verzichtete der junge Fotograf darauf, seine Begleitung vor das Denkmal zu dirigieren, er wollte das Kunstwerk nicht als Staffage für ein Familienbild missbrauchen.

Ärgerlich nur, dass die Aufnahme gewisse Defizite aufweist. Das Straßenpflaster kommt überproportional stark zur Geltung, für den Kopf des Hahns war auf dem Bild leider kein Platz mehr.

Längsseits der "Shat Alarab": Die Perspektive bei der Hafenrundfahrt vermittelt einen Eindruck von den gewaltigen Ausmaßen des Supertankers. Foto: Frank Hethey

Längsseits der „Shat Alarab“: Die Perspektive bei der Hafenrundfahrt vermittelt einen Eindruck von den gewaltigen Ausmaßen des Supertankers.
Foto: Frank Hethey

Weiter ging es zum stadtbremischen Hafen, der damals noch äußerst belebt war, überall wimmelte es von großen und kleinen Schiffen, es herrschte geschäftiges Treiben. Eine Hafenrundfahrt gehörte zum Pflichtprogramm, der Junge genoss die Tour, er liebte das Wasser und das Meer. Bei ihrer Fahrt bekamen die Ausflügler nicht nur etliche Frachter zu sehen, sondern auch zwei Supertanker, die damals einiges Aufsehen erregten: die „Shat Alarab“ und die „Bonn“, zwei Schwesterschiffe, die erst kurz zuvor von der AG Weser fertiggestellt worden waren und nun auf ihre Auslieferung warteten. Mehrfach drückte der Neunjährige auf den Auslöser, er war fasziniert von den gigantischen Ausmaßen der nebeneinander vertäuten Tanker, deren Rümpfe haushoch aus dem Wasser ragten.

Beeindruckend: am Bug der beiden Supertanker. Foto: Frank Hethey

Beeindruckend: am Bug der beiden Supertanker.
Foto: Frank Hethey

Freilich war die Ära der Supertanker damals schon so gut wie vorbei, es wurden nur noch die letzten Aufträge abgearbeitet, neue Bestellungen gingen nicht mehr ein. Begonnen hatte der Größenwahn im Tankerbau knappe zehn Jahre vorher als Reaktion auf die Sperrung des Suez-Kanals durch die Ägypter. Das scheinbar unwiderlegbare Kalkül war, dass nur riesige Tanker den langen Weg rund um das Kap der guten Hoffnung wirtschaftlich bewältigen konnten.

Dem Wachstum schienen keine Grenzen gesetzt zu sein, ganz im Geist der Zeit spezialisierte sich die AG Weser auf den Bau von Großtankern. Die beiden Schwesterschiffe hatten eine Länge von 370 Metern, eine Maximalbreite von 64 Metern, einen Tiefgang von 22 Metern und ein Fassungsvolumen von 393.000 Tonnen. Unerhörte Ausmaße, die gewaltigen Schiffskörper boten einen beeindruckenden Anblick auf der Weser. Für ein paar Wochen war die „Bonn“ im Herbst 1976 das größte jemals unter deutscher Flagge fahrende Schiff.

Doch mit der Tankerherrlichkeit war es in Wahrheit längst vorbei. Schon das Öl-Embargo von 1973 hatte die Kolosse zum Nichtstun verdammt. Die Wiedereröffnung des Suez-Kanals 1975 gab den Supertankern dann den Rest, weil sie wegen ihres enormen Tiefgangs den Kanal nicht passieren konnten und der lange Seeweg um die Südspitze Afrikas plötzlich nicht mehr rentabel war. Mit rund einem Dutzend weiterer Leidensgenossen dümpelte die „Bonn“ 1978/79 in der Geltinger Bucht an der Flensburger Förde und wartete auf bessere Zeiten. Doch die kamen nicht mehr, für den Schleuderpreis von 15 Millionen D-Mark wurde das Schiff 1984 an einen ausländischen Reeder verkauft.

Der Junge hinter der Kamera: Frank Hethey als Zehnjähriger. Bildvorlage: Privat

Der Junge hinter der Kamera: Frank Hethey als Zehnjähriger.
Bildvorlage: Privat

Es ist eine Ironie des Schicksals, dass die beiden Schwesterschiffe kurz hintereinander das gleiche Schicksal ereilte. Im ersten Golfkrieg wurde die „Shat Alarab“ bei einer Fahrt durch den Persischen Golf im Dezember 1984 von einer irakischen Exocet-Rakete getroffen, drei Besatzungsmitglieder kamen dabei ums Leben. Nicht viel besser erging es der früheren „Bonn“, die nun als „Mathador“ die Weltmeere durchpflügte. Nur ein gutes halbes Jahr nach dem Abschuss der „Shat Alarab“ schlug auch in ihren Riesenleib auf nahezu gleicher Position eine irakische Rakete ein, allerdings ohne Todesopfer zu fordern.

Für die beiden schwer beschädigten Supertanker war damit das Ende besiegelt. Sie wurden nach Khaosiung an der taiwanesischen Küste geschleppt und 1986 von einer Spezialfirma abgewrackt. Zehn Jahre nach ihrem Bau auf dem Gelände der AG Weser die gemeinsame Verschrottung im Fernen Osten – eine denkwürdige Koinzidenz.

Der junge Bremen-Besucher wusste von alledem nichts.

Er konnte damals nicht ahnen, dass die Hansestadt nur vier Jahre später seine Heimat werden sollte. Und dass sie es heute nach diversen Umwegen wieder ist.

von Frank Hethey

Zu hoch für den Neunjährigen: Als er die Stadtmusikanten ablichtete, unterschlug er versehentlich den Kopf des Hahns. Foto: Frank Hethey

Zu hoch für den Neunjährigen: Als er die Stadtmusikanten ablichtete, unterschlug er versehentlich den Kopf des Hahns. Foto: Frank Hethey

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