Vor 75 Jahren: Kohlenklau wird zum Massenphänomen – Polizei schießt scharf
Hielt ein Kohlenzug auf offener Strecke, strömten die Menschen herbei. Eilig erklommen sie die Waggons und schaufelten oft genug mit bloßen Händen den begehrten Brennstoff in mitgebrachte Säcke und Behälter. Der „Kohlenklau“ war im bitterkalten Winter 1946/47 (mehr dazu hier) ein Massenphänomen. An einem einzigen Tag vor 75 Jahren, am 3. Februar 1947, kamen im Raum Bremen 250 Tonnen Kohle abhanden. Die Diebstähle hätten einen „erschreckenden Umfang“ erreicht, konstatierte die Bahnpolizei. Beteiligt seien „Männer, Frauen und Kinder aus allen Ständen und Berufsschichten“. Auch Kohlenlager und sogar fahrbereite Lokomotiven würden geplündert.
Als der WESER-KURIER darüber berichtete, herrschte seit knapp zwei Wochen strenger Frost. Der nächtliche Tiefstwert lag bei minus 15 Grad, tagsüber zitterten die Menschen bei minus sieben Grad. Im schwer bombenzerstörten Bremen eine humanitäre Herausforderung, bereits zu Beginn des Winters hatte es die ersten Kältetoten gegeben.
Hinzu kam die chronische Mangelernährung, Kälte und Hunger wuchsen sich zu einer Doppelkatastrophe aus. Und das in einer Situation, als sich die Zuständigkeiten zwischen deutscher Zivilverwaltung und alliierten Militärregierungen noch vielfach überschnitten. Als „Hungerwinter“ ist die lange Frostperiode den Menschen im Gedächtnis geblieben.
Die Ordnungskräfte setzten nach eigener Angabe „wegen der großen Not der Bevölkerung“ vor allem auf Prävention. Zugleich ging die Polizei aber scharf gegen „verbrecherische Elemente“ vor, die Kohle zu Schwarzmarktpreisen verkauften. „Gegen diese Personen wird von der Polizei rücksichtslos eingeschritten“, lautete die unmissverständliche Warnung. Eine härtere Gangart drohte die Polizei auch „rabiaten Elementen“ an, die binnen kurzer Zeit gewissenhafte Beamte durch Steinwürfe verletzt hätten. „Die Polizeibeamten sind angewiesen, bei tätlichen Angriffen von der Waffe Gebrauch zu machen.“
Das war keine leere Drohung. Im Januar hatte die Polizei das Feuer eröffnet, als eine Menschenmenge an der Reiherstraße in Oslebshausen Anstalten machte, einen Lebensmittelzug zu plündern. Drei Schüsse wurden abgegeben, ein 13-Jähriger in den Oberschenkel getroffen.
Ein tödlicher Zwischenfall ereignete sich am 11. Februar 1947. Auf einem Eisenbahngelände ganz in der Nähe, an der heute nicht mehr existierenden Wiehenstraße, hatten sich etwa zwölf Personen an drei Waggons mit Gerste zu schaffen gemacht. Als die Ordnungshüter eintrafen, flohen die Plünderer. Weil sie trotz wiederholter Aufforderung nicht stehenblieben, schoss die Polizei – ein 18-Jähriger bezahlte den Einsatz mit seinem Leben.
Nur einen Tag zuvor hatte sich die Spannung in einer Protestversammlung vor dem Rathaus entladen. „Gebt uns Kohlen!“ skandierte eine „größere Anzahl“ aufgebrachter Frauen. Etliche von ihnen verschafften sich Zugang zum Rathaus, Bürgermeister Wilhelm Kaisen sollte Rede und Antwort stehen. Doch weil der nicht anwesend war, empfing Sozialsenator Willy Ewert eine 15-köpfige Abordnung. Ihm erklärten die Frauen, die „doppelte Not des Hungerns und Frierens“ sei nicht länger zu ertragen.
Tatsächlich waren keineswegs nur organisierte Diebesbanden schuld an der Misere. Achtbare Familien gerieten mit dem Gesetz in Konflikt, klagten die protestierenden Frauen. Wie dramatisch die Situation war, zeigte die kaum verhüllte Drohung gegenüber Ewert, Mütter von hungernden und frierenden Kindern seien zu allem fähig. „Glauben Sie nur nicht, daß wir aus Vergnügen Kohlen stehlen“, sagte eine Demonstrantin gegenüber einem Reporter des WESER-KURIER.
Doch wie war es überhaupt so weit gekommen? Die zuständigen Stellen versicherten, die Notlage habe nicht allein mit unzureichenden Kohlenmengen zu tun. Problematisch sei die Beförderung, nicht die Förderung. Aus Behördensicht mangelte es an intakten Eigentumsbegriffen und Disziplin. Was im Umkehrschluss hieß: Bei mehr Vertrauen in die staatlichen Organe löst sich das Brennstoffproblem quasi von selbst. Senator Ewert teilte den Frauen mit, so lange die Kohlenzüge „in riesigem Umfang bestohlen würden“, könne auch keine geregelte Verteilung von Hausbrand stattfinden.
Gerade weil die Versorgung so schlecht war, griffen aber immer mehr Menschen in Deutschland zur Selbsthilfe. Schon im Ruhrgebiet wurden die Kohlenzüge mitunter um ein Drittel oder die Hälfte ihrer Fracht erleichtert. Das Ergebnis: Von der erwarteten Quote kam an der Weser viel zu wenig an, die Haushalte erhielten gar keine oder nicht ausreichend Kohle. Was die verzweifelten Menschen veranlasste, sich auf eigene Faust welche zu beschaffen. Den ohnehin schon geschröpften Transporten wurde regelrecht aufgelauert, die Depots waren regelmäßig Ziel von Raubzügen. Ein echter Teufelskreis.
Aus dem Dilemma schien es kein Entrinnen zu geben. Zumal die Menschen kein Zutrauen in die ordnungsgemäße Verteilung der Kohle hatten. Die protestierenden Frauen argwöhnten, die Kohlenhändler machten insgeheim gute Geschäfte mit dem begehrten Brennstoff, daher der chronische Mangel. Was die Kohlenhändler natürlich bestritten. Wenn zu wenig Kohle da sei, dann nur, weil die Lager „stark beraubt“ würden.
Dabei hatte es zwischenzeitlich so ausgesehen, als entspanne sich die prekäre Lage. Nach Ansicht der Behörden hatten Warnungen und Appelle, den massenhaften Kohlenklau im eigenen Interesse zu unterlassen, einen „einsichtigen Widerhall bei der Bevölkerung“ gefunden. Nennenswerte Plünderungen von Kohlenzügen seien jüngst nicht mehr vorgekommen, hieß es am 15. Januar.
Doch man hatte sich zu früh gefreut, eine kurze Tauwetterperiode weckte falsche Hoffnungen. Ab dem 23. Januar sanken die Temperaturen auch tagsüber wieder weit unter den Gefrierpunkt. Und daran sollte sich bis März nichts ändern, klirrender Dauerfrost suchte große Teile Westeuropas heim. „Ein harter Winter war zu überstehen, alle Kohlenlager waren leer“, so Memoirenschreiber Kaisen. Dass auch der Kohlenklau dazu beigetragen haben könnte, spielte in seinen Reflexionen keine Rolle.