Im neuen Bremischen Jahrbuch geht es auch um Leserbriefe aus den frühen Jahren des WESER-KURIER

Ordentlich vom Leder zog ein unbekannter Leserbriefschreiber in seiner Tirade, die der WESER-KURIER am 18. Mai 1946 auf seiner Jugendseite abdruckte. Unter dem Pseudonym „Ulrich von Hatten“ – eine ziemlich durchschaubare Hommage an Reichsritter Ulrich von Hutten (1488 bis 1523), der als humanistischer Dichter, aber auch scharfer Kirchenkritiker von sich reden machte und später als zeitgenössische Referenz in nationalistischen Kreisen diente – geiferte der Verfasser gegen den „pädagogischen Ton“ der Jugendseite, die in seinen Augen sinnbildlich war für die Haltung der „sogenannten deutschen (freien!!) Presse“ insgesamt. „Ja, glaubten Sie denn vielleicht im Ernst daran, daß sich das gesunde deutsche Volksempfinden auf die Dauer solch eine Unverschämtheit in den deutschen Zeitungen gefallen lassen würde?“

Erschreckend aktuell klingt, was der selbst ernannte Verfechter eines „gesunden Volksempfindens“ damals zu sagen hatte, schon allein das Vokabular knüpfte an den Sprachgebrauch des eben erst überwundenen NS-Regimes an. Über den Hutten-Wiedergänger berichtet Helga Schüller-Rösemann im neuen Bremischen Jahrbuch. Unter dem Titel „‘Ich bitte um das Wort!‘ Leserbriefe an den ‚Weser-Kurier‘ in den Jahren 1945 und 1946“ analysiert die pensionierte Lehrerin, wie die Leserschaft mit der neu gewonnenen Meinungsfreiheit umging. Ihr Fazit: Kritische, gar rechtsextremistische Auslassungen waren die absolute Ausnahme, es dominierte ein eher nüchterner, lebenspraktisch orientierter Ton.

Was nicht in den Leserbriefen stand

Doch mit dieser Erkenntnis gibt sich die 69-Jährige nicht zufrieden, sie fragt, was nicht in den Leserbriefen stand. Tatsächlich sucht man vergebens nach Lesermeinungen zur Politik der amerikanischen Besatzungsmacht, vor allem zur umstrittenen Beschlagnahmung privaten Wohnraums herrschte laut Schüller-Rösemann „vollständiges Schweigen“ in den Leserbriefspalten. Ebenso wenig spielten kriminelle Auswüchse unter früheren Zwangsarbeitern – den „Displaced Persons“ (DP) – in den Leserbriefen eine Rolle. Und das, obschon der WESER-KURIER in seinem redaktionellen Teil die Vorkommnisse keineswegs unterschlug. Insbesondere die „Blockland-Morde“, bei denen im November 1945 zwölf Menschen einem Raubüberfall ehemals polnischer Zwangsarbeiter zum Opfer fielen, wühlten die Öffentlichkeit auf.

Und zu polnischen Raub- und Gewaltdelikten sollte es keine Leseräußerungen gegeben haben? Schüller-Rösemann bezweifelt das ganz offenbar, sie schreibt, Lesermeinungen „zu diesem innerhalb der Bevölkerung offenbar viel diskutierten Komplex wurden nicht veröffentlicht“. Dahinter steckt nach ihrer Auffassung eine „demokratisch-erzieherisch gestimmte Zeitungsredaktion“, die angesichts der jüngsten Vergangenheit wie auch der Vorgaben der US-Pressepolitik einen pädagogischen Auftrag für sich in Anspruch nahm. Der WESER-KURIER habe 1945/46 „nachhaltig zu einem Prozess des politischen Umdenkens“ beitragen wollen. Zugleich stellt Schüller-Röse­mann fest, „extrem selten“ beziehe sich ein Leserbrief auf redaktionelle Texte. In ihren Augen eine sehr subtile Methode, der Zeitung die Deutungshoheit zu sichern. „So wurde die Art und Weise der Berichterstattung nicht in Frage gestellt.“

So langsam blühte das Leben wieder auf: der Herdentorsteinweg in den frühen Nachkriegsjahren.
Quelle: Staatsarchiv Bremen

Von einigem Interesse für historisch Interessierte dürften auch die Ausführungen von Iris Johanna Bauer über die öffentlichen Kontroversen um den Abriss der Kirchenruinen von St. Ansgarii und St. Wilhadi in den frühen Nachkriegsjahren sein. Vor allem die Beseitigung der Ansgarii-Ruine hat sich tief ins kollektive Bewusstsein eingeprägt, seit einigen Jahren setzt sich ein Zirkel um den Historiker Nils Huschke für den Wiederaufbau der Kirche oder zumindest des Turms ein, der neu gegründete Verein Anschari soll auf dieses Ziel hinarbeiten. In ihrem Beitrag zeichnet die Autorin die damaligen Konfliktlinien zwischen Denkmalschützern und Kirchengemeinde, die das Grundstück zur Finanzierung ihres neuen Gotteshauses in Schwachhausen meistbietend verkaufen wollte, sehr ausführlich nach. Zusätzlich wirft Bauer einen Blick auf das weniger bekannte Schicksal der neugotischen Wilhadi-Kirche in Walle. Fast vergessen sind heute die Bestrebungen, die Turmruine als Mahnmal zur Erinnerung an den Feuersturm im Bremer Westen im August 1944 zu erhalten.

Mit dem früheren Leiter der Staatsbibliothek, dem auch als Philosoph hervorgetretenen Hinrich Knittermeyer (1891 bis 1958), befasst sich Andrea Hauser. Die Kulturwissenschaftlerin hat seinen umfangreichen Nachlass in der heutigen Staats- und Universitätsbibliothek 2017/18 neu verzeichnet und inhaltlich erschlossen. Eine aufwendige Arbeit, die nach eigenem Bekunden „neue Perspektiven für eine differenzierte Darstellung“ seiner Lebensgeschichte eröffnet.

Tiefer verstrickt als angenommen

Dabei zeigt sich, dass der hochgeschätzte Feingeist weitaus tiefer in das NS-System verstrickt war, als man bislang wahrhaben wollte. „Er war davon überzeugt, dass hier eine ‚Revolution‘ stattfand, die gestaltet werden musste“, konstatiert Hauser. Wenn Knittermeyer trotz Parteimitgliedschaft und Entlassung aus seinem Amt im Zuge der Entnazifizierung so nachsichtig beurteilt wurde, so sei dafür auch ein „spezifischer protektionistischer Umgang“ des Bremer Bürgertums mit dem Nationalsozialismus verantwortlich. Mit anderen Worten: Es wurde auch gern schon mal relativiert oder unter den Teppich gekehrt, was nicht ins Bild passte.

Mit dem spätmittelalterlichen Text einer Fischeramtsrolle, die 2015 aus New York nach Bremen zurückgekehrt ist, befassen sich Archivleiter Konrad Elmshäuser und Viktor Pordzik. Das Schriftstück gewährt Einblicke in den Alltag und die Organisation des Fischfangs sowie in die Fischfauna der Weser um 1500. Mit der Frühgeschichte des bremischen Adressbuchs in den 1790er-Jahren setzt sich Thomas Elsmann auseinander, während Susanne Foxley die Berichte des US-Konsulats in Bremen nach Washington in den Jahren des Amerikanischen Bürgerkriegs von 1861 bis 1865 unter die Lupe nimmt.

Einen seltenen Quellenfund aus privater Hand stellt Ulrich Schröder vor. Der Kenner der Bremer Arbeitergeschichte hat das Diensttagebuch des Hemelinger Arbeiterrats Arthur Thun von 1919 analysiert. Die Sozialwissenschaftlerin Renate Meyer-Braun beschäftigt sich mit der Frage, wie sich die Lebenswelt der Frauen nach Ende des Ersten Weltkriegs in der frühen Weimarer Republik gestaltete.

Zwei kürzere Beiträge über das Grabmal der Sinti-Familie Schmidt auf dem Waller Friedhof von Hans Hesse und die Geschichte der Bremer Schülerbewegung nach 1968 von ­Evgeniy Kasakow runden den Aufsatzteil ab, die Rezensionen orientieren über Neuerscheinungen aus dem historischen Fach.

Nicht unbedingt eine ungetrübte Kindheit: Bremer Nachwuchs blickt 1946 über die Weser in Richtung Neustadt.
Quelle: Georg Schmidt-Archiv, Weser-Kurier

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