75 Jahre Kriegsende
Neuanfang nach der Diktatur
Als der Zweite Weltkrieg zu Ende war, lag Bremen größtenteils in Trümmern: Die dritte Ausgabe des Magazins WK | Geschichte schildert das allgegenwärtige Elend und die Sorgen der Bevölkerung. Es zeigt aber auch die ersten Schritte Richtung Zukunft auf – die Stadt unter der US-Flagge, die ersten Wahlen und die Verteidigung der Selbstständigkeit des Landes Bremens.
Am 15. und 16. März 1981 zerstörten Fluten 150 Parzellen in Habenhausen – Zeitzeugen erinnern sich
Zur Erdbeerbrücke hatte es Alexander Keil an diesem 15. März 1981 nicht weit, er wohnte in direkter Nähe. Mit einigen Freunden beobachtete der damals 16-Jährige, wie die reißenden Wassermassen das nahe Kleingartengebiet überfluteten. Deutlich konnte er sehen, wie Parzellen und Autos langsam Richtung Brücke schwammen und dann untergingen. „Auf der linken Weserseite stand alles unter Wasser, neben uns standen verzweifelte Parzellisten“, sagt er. „Wir als Teenager haben damals das Ausmaß dieser Katastrophe gar nicht wirklich verstanden.“
Ähnlich erging es Oliver Rahe, der immer noch die Bilder der treibenden Häuschen im Kopf hat. Für den Achtjährigen war es ein faszinierendes Schauspiel, „aber den Schaden konnte ich in dem Alter nicht begreifen“. Kaum älter war Holger Pförtner, als Elfjähriger stand er mit seinem Vater auf der rechten Weserseite genau gegenüber von der Bruchstelle im Deich. „Man hat das Knacken laut gehört, wenn eine Parzelle weggebrochen war und mitgeschwemmt wurde.“
Stark einsturzgefährdet: Dieses Parzellenhäuschen hing nach dem Deichbruch buchstäblich über dem Abgrund.
Foto: Jochen Stoss
Was sich vor 40 Jahren ereignete, hat sich tief eingegraben ins kollektive Gedächtnis der Stadt. Dabei wies anfangs nichts auf eine besondere Gefahrenlage hin. Zwar hatten starke Regenfälle und die Schneeschmelze im Harz in der zweiten Märzwoche die Zuflüsse der Weser stark anschwellen lassen. Aber deshalb musste man nicht panisch werden. Sogar als die Bruchwiesen bei Thedinghausen überschwemmt wurden, beunruhigte das noch niemanden. Weitaus mehr schreckte die Menschen eine Sturmflut, darauf waren auch die Deiche ausgerichtet.
Flutwelle im Anmarsch
Erst allmählich dämmerte den Menschen in Bremen, dass womöglich Gefahr drohte. Am 12. März 1981 warnte der WESER-KURIER, eine Flutwelle gefährde die Kleingärten. Durch den Bau der Flutrinne „Werdersee“ bis 1959 konnte der Zufluss zur Kleinen Weser zwar verbessert werden. Ein großer Teil des Hochwassers sollte aber planmäßig weiterhin über das Habenhauser Vorland und damit durch das Kleingartengebiet um das Wehr herum zurück in die Weser fließen. Das Problem: Dieser Bereich war dafür wegen nachkriegsbedingter Kompromisse nur eingeschränkt geeignet. „Unser ganzes Gartengebiet ist Überflutungsgebiet“, sagt Ursula Groth, Vorsitzende des KGV Hastedter Bulten.
Bereits während des Ersten Weltkriegs hatte die Parzellierung des Stadtwerders begonnen. Damals entstanden die ersten Kleingärten, der KGV Hastedter Bulten wurde 1920 gegründet. Eine Entwicklung, die sich im Zweiten Weltkrieg fortsetzte, nun kamen auch noch Behelfsheime hinzu. „In Anbetracht der nach dem Krieg herrschenden Wohnungsnot erschien es damals nicht vertretbar, die für das Hochwasserabflussgebiet geltende Verordnung voll durchzusetzen“, sagt Winfried Reiner, damals ein junger Baurat im Wasser- und Schifffahrtsamt. Man drückte also ein Auge zu, laut Groth gab es nur einen entsprechenden Hinweis in den Baugenehmigungen.
Der reißende Strom zerstörte 150 Parzellen. Im Hintergrund: Schaulustige auf der Erdbeerbrücke.
Foto: Peter Rath
Am Sonntag, 15. März, kam es dann zur Katastrophe. Wobei anfangs alles nach Plan lief: Als das Hochwasser den Deich überspült hatte, verteilte es sich über Äcker, Grünland und Vogelwiesen, mithin den dafür vorgesehenen Tieflagen des Habenhauser Vorlandes. Doch weiter konnte das Wasser nicht, es staute sich am oberen Zulauf zum Werdersee, unterhalb der Werderbrücke (seit 1999 Karl-Carstens-Brücke, im Volksmund Erdbeerbrücke) und am Wall unterhalb der Schleuseneinfahrt.
Als dieser Wall brach, wälzten sich die Wassermassen durch das Parzellengebiet und prallten von der Landseite her gegen den Deich oberhalb der Erdbeerbrücke. Die Lage sei „sehr kritisch“ gewesen, erinnert sich Winfried Reiner. „Die Abflussmulde vertiefte sich rückschreitend, bis es innerhalb von drei Tagen zum Durchbruch am Habenhauser Deich kam. „Nun strömten die Fluten durch die so entstandene „Neue Weser“ und dann oberhalb der Erdbeerbrücke zurück ins Flussbett. Die Abflussrinne war zuletzt bis zu 250 Meter breit und bis zu zwölf Meter tief. Knapp 150 Kleingärten wurden vernichtet und rund 1,5 Millionen Kubikmeter Boden in das Fahrwasser der Weser gespült.
Dabei war man sich völlig klar darüber, dass bei einem Binnenhochwasser jene Stelle in Höhe von Habenhausen besonders neuralgisch ist, wo die Weser einen relativ scharfen Bogen macht. Doch zugleich bot das Gelände auch eine Chance, die Wassermassen umzuleiten. Bereits 1953 hatte das Wasser- und Schifffahrtsamt vorgeschlagen, die Hochwasserfluten gewissermaßen aufzuteilen. Knapp 20 Prozent des erwarteten Hochwassers sollten gar nicht erst in den Engpass des Stadtgebiets gelangen, sondern über die Kleine Weser abfließen und sich am Teerhof wieder mit dem Hauptstrom vereinigen. Mehr als ein Viertel der Hochwassermenge sollte in diesem Szenario aber immer noch über die Kleingartengebiete Hastedter Bulten und Fresenbulten zurück in die Weser fließen. Doch die Ausbaupläne wurden so nicht umgesetzt, in den frühen Nachkriegsjahren hatte man andere Sorgen.
Gefährliche Seitenlage: die Situation im betroffenen Areal.
Quelle: Holger Pförtner
Gleichwohl war damit die Katastrophe keineswegs vorprogrammiert. „Das seitliche Abflussgebiet hätte so ein Hochwasser aufnehmen müssen“, sagt Winfried Reiner. „Aber das Abflussgebiet hat nicht so funktioniert, wie es hätte funktionieren müssen.“ Vorhersehbar war die Katastrophe aus Reiners Sicht nicht. „Damit konnte man nicht rechnen“, betont der Pensionär. Zumal die damalige Hochwassermenge sich nur auf knapp 60 Prozent eines Jahrhunderthochwassers belief. Wenig hilfreich auch, dass das Weserwehr seit November 1980 einen Defekt hatte, nur durch die rechte Öffnung konnte das Wasser abfließen.
„Das Wasser war überall“, sagt Ingrid Kirschning, deren Mutter damals in einem Kaisenhaus beim Oberweser-Segel-Verein wohnte. Über das Weserwehr wollten Mutter und Tochter den ebenfalls dort lebenden Großeltern zu Hilfe eilen, sie wurden aber nicht durchgelassen. „Polizei und Feuerwehr verboten uns das, da das Wehr durch die Wassermassen einsturzgefährdet war.“ Schließlich durften sie doch passieren, aber nur auf eigene Gefahr. Wer zurückgeblieben, war mehr oder weniger abgeschnitten von der Außenwelt. Auf Luftbildern ist eindrucksvoll zu sehen, dass der Stadtwerder an dieser Stelle nur noch eine schmalen Insel war, fast das gesamte Habenhauser Vorland stand unter Wasser
Johlende Schaulustige
Mit Sandsäcken sollte den Fluten Einhalt geboten werden.
Foto: Jochen Stoss
Unterdessen sorgten johlende Schaulustige und ein Imbisswagen auf der Erdbeerbrücke für Ärger. „Jedes Mal, wenn eines unserer geliebten Häuschen abstürzte, jubelte die Menge“, zitiert die Journalistin Imke Molkewehrum einen Betroffenen. Davon hat auch Andree Bohlmann gehört, der als 16-Jähriger mit seinem Mofa auf halber Strecke wieder kehrtmachte. Tausende bevölkerten die Brücke und beobachteten, was sich im Kleingartengebiet abspielte. Die Polizei hatte alle Mühe, den ungestörten Verkehr auf der Brücke zu gewährleisten. Weitere Flutwellen in den Folgetagen hielten die Hilfskräfte in Atem, zum Schutz der Wohngebiete wurden Sandsäcke aufgeschichtet und quer durch das Kleingartengebiet Hastedter Bulten eine Spundwand getrieben.
Dass der Hochwasserschutz in Bremen neu überdacht werden musste, war nach der Katastrophe unstrittig. Das alte Weserwehr aus Kaisers Zeiten wurde abgerissen und vom Bund, vertreten durch das Wasser-und Schifffahrtsamt Bremen, durch ein neues, weitaus leistungsfähigeres Wehr ersetzt. Zugleich verlängerte das Land Bremen den Werdersee um einen Kilometer bis zur Wehrstraße, um die Erdbeerbrücke vor unkontrollierter Unterspülung zu schützen. „So entstand eine durchgehende Hochwasser-Abflussrinne bis zur Kleinen Weser“, so Reiner.
Als Lehre aus der Hochwasser-Katastrophe von 1981 wurden diese beiden Maßnahmen laut Reiner „in sehr kurzer Zeit“ durchgezogen. Die seitliche Rinne legte man bis 1987 an, der komplexe Bau des neuen Weserwehrs wurde von 1989 bis 1993 errichtet. Für die Kleingärtner hat sich das Projekt auf jeden Fall bezahlt gemacht. „Durch das Weserwehr haben wir in den letzten Jahren keine nassen Füße mehr bekommen“, sagt Ursula Groth.
Von Land her bahnten sich die Wassermassen oberhalb der Erdbeerbrücke am 15./16. März 1981 einen Weg zur Weser.
Foto: Jochen Stoss