Bericht der Ereignisse vom 29. Dezember 1880 bis 11. Januar 1881, Teil 4
Land unter jetzt auch in Lilienthal: Zahlreiche Bewohner können direkt von ihrer Bettstatt in die Wasserstiefel steigen, der Bäcker vermag seine Ware nur noch im schwimmfähigen Waschtrog auszuliefern. Begonnen haben die Wasser-Calamitäten bereits Ende Oktober 1880. Jetzt steht den Lilienthalern das Wasser zwar nicht bis zum Hals, aber doch bis zur Hüfte.
In Lilienthal hatten die Wasser-Calamitäten schon Ende Oktober des letzten Jahres eingesetzt. Begonnen hatte alles mit ganz außergewöhnlich starken Regenfällen, die das Wasser in den Wümmewiesen ansteigen ließ. Nun sei gesagt, dass das Sankt-Jürgens-Land schon seit der Eindeichung und Begradigung der Wümme regelmäßig überflutet wurde, da es – ebenso wie das rechte Ufer der Hamme unterhalb der Ritterhuder Schleuse – als Auffangbecken für Sturmfluten gilt. Dieserhalber ist der Deich zum Sankt-Jürgens-Land immer vierzig Zentimeter niedriger ausgeführt als zur Bremer Seite.
Durch die geringe Tide von nur 20 Zentimetern am Bremer Pegel stieg das Weserwasser schon Ende Oktober 1880 um neun Fuß (1 Bremer Fuß = 0,28935 Meter) über Normal. Zusammen mit dem Wümmehochwasser war der Verbindungsweg zwischen der Bremer Landgemeinde Borgfeld und dem preußischen Ort (seit 1866, vorher zu Hannover) Lilienthal bereits 8 Fuß hoch überflutet. Am 2. Weihnachtstag erreichte die Weser einen neuen Höchststand von 18 Fuß und einem Zoll über Normal. Das entspricht etwa 5,25 Meter. Als dann der bremerseitige Wümmedeich am 29. Dezember brach, sank der Wasserspiegel zwischen Borgfeld und Lilienthal zwar kurzzeitig. Aber schon nach wenigen Stunden stieg er höher als je zuvor.
Brot und Semmel per Waschtrog ins Haus
Auch alle kleinen Erdwälle, die man vorsorglich in Lilienthal (der Ortskern selbst liegt auf einer flachen Erdkuppe) überall aufgeschüttet hatte, wurden überflutet. Das Wasser stand im Ort um die zweieinhalb Fuß hoch und drang in alle Häuser und Wohnungen ein. Die Bewohner ergriffen die Flucht und suchten bei befreundeten Familien Unterkunft. Im Ort wurde es immer stiller. Wo sonst noch die Wagen auf den mit Kopfstein gepflasterten Straßen rasselten, kehrte Ruhe ein. Nur das Geräusch der durch die Häuser gurgelnden Wassermassen war zu hören. In einigen Straßen stellte man baldigst Stellagen auf. Sonst herrscht der Schiffsverkehr mit den einfachen Booten der Bauern und Torfschiffer vor. Unser Korrespondent schrieb, dass es amüsant anzusehen war, wie ein Bäcker seiner Kundschaft Brot und Semmel per Waschtrog ins Haus fuhr.
Der Deichbruch lässt bei den Landwirten im gesamten Überschwemmungsgebiet große Verluste an Dünger und Roggensaaten erleiden. Die Hälfte des gesamten Lilienthaler Amtsbezirkes steht unter Wasser. Die meisten Häuser in Lilienthal selbst, in Moorhausen, Falkenberg, Truperdeich, St. Jürgen und in den angrenzenden Ortschaften sind auch in ihrem Innern unter Wasser gesetzt, sodass die Bewohner auch auf den Dielen und in den Stuben Stellagen und Brücken bauen mussten. Es macht einen überaus komischen Eindruck, wenn man von solch Bedrängten hört, dass sie aus dem Bett direkt in die Wasserstiefel steigen. Die Ställe solcher Häuser waren gänzlich unbrauchbar geworden, das Vieh nach anderen höher gelegenen Ställen gebracht, an denen es aber manchmal sehr mangelte.
Das Hochwasser von 1854/55 vor Augen
Die Lilienthaler haben schon seit Menschengedenken mit den Überschwemmungen zu kämpfen. Den Älteren ist noch das Hochwasser von 1854/55 in Erinnerung. Zumindest seit der Zeit wünscht man sich zum Jahreswechsel nicht nur die sinngemäßen Worte zu „Glück“ und „Gesundheit“, sondern ganz bedeutungsvoll „un ok dröge Fö!“. Und die „trockenen Füße“ waren wörtlich zu verstehen. Denn oft lag Lilienthal zum Jahreswechsel in einer Wasserwüste. Das bedeutete für viele Lilienthaler, dass sie eiligst ihr Hab und Gut zusammenraffen und sich vor den Fluten in Sicherheit bringen mussten. Durch diese Evakuierung wurden sie aber für oftmals für viele Monaten obdachlos.
Wenig bekannt dürfte sein, dass Lilienthal 1813 im Befreiungskrieg hart getroffen wurde. Nach einem Zwischenfall während des Rückzugs setzte ein französischer Truppenteil den gesamten Ort Lilienthal in Brand. Nur die Kirche, einige wenige Häuser und die Sternwarte blieben von den Flammen verschont.
Nun zurück zu den Ereignissen während des Hochwassers von 1880/81. Da Lilienthal vollkommen von der Außenwelt abgeschnitten war, charterte ein Konsortium den Dampfer „Stern“. Dieser pendelte zweimal täglich zwischen Lilienthal und Walle. Als jetzt der starke Frost auftrat, war es damit auch vorbei, denn Eis blockierte den Schiffweg. Wie bereits berichtet, hatte der Autor am 4. Januar 1881 die Gelegenheit, eine Rundtour mit dem Dampfer „Stern“ mitzumachen. Leider konnte ich mangels Wasserstiefel nicht in Lilienthal aussteigen, somit das Treiben im Orte nur von Ferne betrachten, mich aber über die neuesten Entwicklungen informieren lassen.
Nach Bremen auf Schlittschuhen
Die Versorgung von Lilienthal mit dem Allernötigsten muss jetzt über Ottersberg abgewickelt werden. Die Lilienthaler selbst erreichten die Hansestadt zwischenzeitlich auf ihren Schlittschuhen. Bei nunmehr eingetretenen starken Schneefällen ist es auch mit diesem Vergnügen vorbei. Die Kinder haben vom 3. bis 10. Januar zwangsweise schulfrei.
Damit wird Lilienthal und umzu für mindestens drei weitere Monate überschwemmt bleiben. Falls es noch weiter so stark friert wie bisher, könnten bei eintretendem Tauwetter vom Wind getriebene Eisschollen die ganze Gegend „abrasieren“. Es ist zu hoffen, dass dieses Schreckensszenario nicht eintritt.
Vorausschau: In der nächsten Ausgabe folgt ein Interview mit dem Wasserbauingenieur Ludwig Franzius, der als bremischer Oberbaudirektor die sogenannte Weserkorrektion plant.
von Peter Strotmann