Bremens Eigenständigkeit in der Diskussion: Fakt und Fiktion – ein Gang durch die Geschichte
So manch einer kam ins Grübeln, als plötzlich vom 70-jährigen Bestehen des Landes Bremen die Rede war. Ein ziemlich überschaubarer Zeitraum, der irgendwie nicht so recht zum kollektiven Bewusstsein passen will. Kann Bremen nicht auf eine viel längere Tradition der Eigenstaatlichkeit zurückblicken? Erst auf den zweiten Blick ging vielen Menschen auf, dass nicht von der Gründung des Landes Bremen die Rede war. Sondern von der Wiederherstellung der Eigenständigkeit oder – etwas altertümlich – von der Wiederbegründung.
Aber warum „Wiederbegründung“? Hatte das Land Bremen denn aufgehört zu existieren? Nach gängiger Lesart war genau das der Fall, als die NS-Regierung 1933 erst die Länder mit dem Reich gleichschaltete und dann 1934 das Gesetz zum Neuaufbau des Reichs erließ.
Als eigenständiges Land hatte Bremen ausgespielt, fortan gehörte der Freistaat zum Reichsgau Weser-Ems. Nicht mehr an der Weser wurden die großen Entscheidungen getroffen, sondern in der Gauhauptstadt Oldenburg. Für Bremen natürlich eine bittere Pille, ins zweite Glied zu rücken. Zumal sich alle Hoffnungen zerschlugen, einen eigenen Reichsgau Bremen aus der Taufe zu heben.
Die Ironie an der Geschichte: Streng genommen war das Land Bremen gar nicht abgeschafft. Das geht nicht zuletzt aus dem Gesetzestext zur territorialen Neuordnung von 1939 hervor, als Bremen im Tausch für Bremerhaven (bis auf den Hafen) die bis dahin preußischen Gemeinden in Bremen-Nord und Hemelingen erhielt. Ist dort doch klipp und klar vom „Lande Bremen“ die Rede. Wie das, möchte man fragen, wenn es doch fünf Jahre zuvor zu Grabe getragen worden war? Des Rätsels Lösung: Als Bremen 1934 dem Reichsgau Weser-Ems zugeschlagen wurde, existierte das Land de jure weiter.
Eine merkwürdige Konstruktion, die typisch ist für die Doppelstrukturen des „Dritten Reichs“. Denn eigentlich waren die Gaue nur Verwaltungseinheiten der nationalsozialistischen Partei und nicht des Staates. Dieses Manko versuchte Hitler zu beheben, als er die Gaue kurzerhand zu Reichsgauen machte und die Gauleiter in Personalunion zu Reichsstatthaltern.
Länder nicht abgeschafft
So wirklich neu war dieser sonderbare Zwitterzustand in der Bremer Geschichte nicht. Denn anders als vielfach angenommen, war Bremen keineswegs seit frühen Zeiten ein eigenständiger Stadtstaat.
Um es an einem kleinen Rechenexempel zu demonstrieren: Das Bistum Bremen wurde 789 gegründet, als Beginn der Eigenstaatlichkeit gilt aber erst die Erhebung zur unmittelbaren Freien Reichsstadt am 1. Juni 1646 – unmittelbar zum Kaiser, ohne landesherrliche Zwischeninstanz. Mithin verging eine Zeitspanne von 857 Jahren von den Anfängen bis zur Eigenstaatlichkeit gegenüber gerade mal 371 Jahren, die seit 1646 verflossen sind.
Merkwürdig nur, dass sich Bremens Geschichte ganz anders anfühlt. Unwillkürlich denkt man an den Roland und das Rathaus als Demonstration städtischen Selbstbewusstseins. Und die standen schließlich schon lange vor der Eigenstaatlichkeit an ihrem Platz.
Wie ist das zu erklären, diese Kluft zwischen Fakt und Fiktion?
Das seltsame Phänomen bringt der Leiter des Staatsarchivs auf den Punkt, Konrad Elmshäuser. Mit Blick auf die Rolle der Stadt im Spätmittelalter sagt der Historiker, Bremen war zwar „keine freie Reichsstadt, agierte aber als Freie Reichsstadt“. Soll heißen: Bremen hatte sich zu diesem Zeitpunkt eine bedeutende Stellung als Hansestadt und regionaler Machtfaktor erarbeitet, doch rein formal gehörte die Stadt noch immer zum Erzstift Bremen, dessen territoriale Ausdehnung bis zur Elbe reichte. Und rein formal hatte in Bremen der Erzbischof als geistlicher Reichsfürst das Sagen, nicht die Bürgerschaft. Daran änderten auch die Privilegien nichts, die Kaiser Barbarossa der Stadt 1186 verliehen hatte.
Genau dieser Umstand sorgte für ständige Unruhe. Auf der einen Seite die selbstbewusste bürgerliche Kommune, auf der anderen der erzbischöfliche Landesherr. Dessen letzter Versuch, die aufmüpfige Stadt wieder zur Räson zu bringen, datiert aus dem Jahre 1366, als der hölzerne Roland in Flammen aufging.
Umgekehrt keilte die Stadt zurück – auch mit gefälschten Urkunden, um eine Rechtslage vorzuspiegeln, die es in Wahrheit gar nicht gab. Der Kern der Tricksereien: die Vortäuschung einer besonders engen Beziehung zum Kaiser. Elmshäuser spricht von einer „spezifischen Bremer Reichspropaganda“, der Theorie einer „speziellen ‚Kaiserfreiheit‘ Bremens“.
Freie Reichsstadt erst 1646
Doch erst 1646 kam es zur lang ersehnten Eigenstaatlichkeit als unmittelbare Freie Reichsstadt. Im machtpolitischen Poker kurz vor Ende des Dreißigjährigen Krieges war es dem Kaiser darum zu tun, im Norden einen treuen Verbündeten zu haben. Nur zwei Jahre später war es dann auch vorbei mit dem Erzstift Bremen, das säkularisiert als Herzogtum Bremen-Verden der schwedischen Siegermacht zugeschlagen wurde.
Dabei blieb es bis zum Untergang des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation 1806: Nun avancierte Bremen als Freie Hansestadt sogar zum souveränen Staat und behielt diese Stellung auch ab 1815 im neu geschaffenen Deutschen Bund. Die zwischenzeitliche Zugehörigkeit zum napoleonischen Frankreich war nichts weiter als ein kurzes Intermezzo.
Den Status als unabhängiger Staat büßte Bremen zwar wieder ein, als es 1867 erst dem Norddeutschen Bund und 1871 dem neuen Deutschen Reich beitrat. Doch als selbstständiges Land lebte Bremen auch im Kaiserreich fort. Wobei die traditionell enge Bindung zum Kaiserhaus sorgsam gepflegt und gehütet wurde. Nicht zufällig gab es eine Kaiserbrücke und eine Kaiserstraße, ein Kaiserzimmer im Neuen Rathaus, ein Kaiser-Wilhelm-Denkmal auf dem heutigen Liebfrauenkirchhof, das Kaiser-Friedrich-Denkmal an der Kaiser-Friedrich-Straße.
Eine stolze Tradition als Freistaat also, die auch nach dem Ende der Monarchie in der föderalistischen Weimarer Republik nicht angetastet wurde. Erst die Nazis wollten davon nichts mehr wissen, da „das deutsche Volk über alle innenpolitischen Grenzen und Gegensätze hinweg zu einer unlöslichen Einheit verschmolzen“ sei.
US-Enklave nicht lebensfähig
Doch weil die Länder zumindest formal nicht aufgehoben wurden, bestanden sie auch noch nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Besatzungsmächte nahmen darauf indessen keine Rücksicht und richteten eine US-Enklave Bremen unter Einschluss der Landkreise Wesermarsch, Osterholz und Wesermünde ein. Gerade weil das neue Kunstgebilde die alten Ländergrenzen ignorierte, entpuppte es sich allerdings schon bald als nicht lebensfähig. Nach nur einem halben Jahr wurde die Enklave im Dezember 1945 schon wieder aufgehoben, einzig Bremen und Bremerhaven blieben unter amerikanischer Kontrolle.
Nun wurden die Karten neu gemischt. Bereits im Oktober 1945 hatte der Oberpräsident der preußischen Provinz Hannover, Hinrich Kopf, bei Bürgermeister Wilhelm Kaisen einen Zusammenschluss von Bremen mit einem künftigen Land Niedersachsen ins Spiel gebracht. Als Hannover kurz darauf versuchte, sich in Bremen beheimatete Reichsbehörden zu unterstellen, spitzte sich die Situation sukzessive zu.
„Bremen ist nach wie vor ein deutsches Land“, ließ im Juli 1946 der Senat wissen. Eine klare Ansage zu einem Zeitpunkt, als Bremens Selbstständigkeit akut bedroht war: Die Briten wollten Bremen dem neuen Land Niedersachsen als Morgengabe mitgeben und pochten dabei auf die Zugehörigkeit Bremens zur britischen Besatzungszone. Dagegen setzte Kaisen auf die Hilfe der Amerikaner, die Bremen und Bremerhaven als Nachschubbasis nutzten. Weshalb klar war: Die Selbstständigkeit konnte nur als integraler Bestandteil der amerikanischen Besatzungszone erhalten bleiben oder wiederhergestellt werden.
Allerdings konnten sich die Amerikaner erst im Oktober 1946 zu einem öffentlichen Bekenntnis zu Bremen durchringen. Bei der Interzonenkonferenz in Bremen versicherte der Direktor der Bremer Militärregierung, Colonel Gordon Browning, Bremen solle als „reichsunmittelbare“, mithin eigenständige Hansestadt erhalten bleiben. Nun drehte Bremen sogar den Spieß um und stellte Überlegungen an, welche Umlandgemeinden einem wiederhergestellten Land Bremen einverleibt werden könnten.
Wohin der Hase lief, war spätestens klar, als Niedersachsen am 1. November 1946 ohne Bremen gegründet wurde. Freilich ließ die Bestätigung Bremens als Land der US-Besatzungszone noch auf sich warten – und das, obschon Bremen und Wesermünde bereits zum 1. Januar 1947 aus der britischen Zone ausgeschieden waren.
Kaisen drückt aufs Tempo
Im Grunde schwebte das Land Bremen seither im Nichts, weshalb Bürgermeister Kaisen aufs Tempo drückte. Wohl darum die kuriose Situation, dass gleich drei Daten zur „Wiederbegründung“ kursieren: Der 21. Januar 1947 als Tag der vorbereiteten Druckform der Proklamation Nr. 3 der US-Militärregierung, der 22. Januar als Tag der tatsächlich erfolgten Proklamation und der 23. Januar als Tag der Publikation im Weser-Kurier.
Damit hatten nun auch die Besatzungsmächte Bremens Eigenständigkeit anerkannt. Eine Eigenständigkeit, die mehr war als nur eine Wiederherstellung der Verhältnisse vor 1933. Denn das wiedergegründete Land Bremen war dank der Eingemeindungen von 1939 und der schon abgesegneten Rückkehr Bremerhavens deutlich größer als zuvor. Von „beträchtlichen Gebietsgewinnen“ spricht denn auch Archivleiter Elmshäuser.
Doch welcher Tag ist denn nun korrekt, wann genau kehrte Bremen als eigenständiges Land zurück auf die politische Bühne? Elmshäuser bevorzugt den 21. Januar 1947, weil dieser Tag nun einmal auf der gedruckten Proklamation stehe. „Im Grunde ist das aber ein Streit um des Kaisers Bart, da die Proklamation ohnehin auf den 1. Januar 1947 zurückdatiert worden ist.“
Womit wir dann wieder beim Kaiser wären.
von Frank Hethey
Dieser Beitrag ist eine erweiterte Fassung eines Artikels, der am 18. Januar 2017 im Weser-Kurier erschienen ist.