Zum Kriegsende vor 70 Jahren: Nachdenken über den Stellenwert von Erinnerungen
Als autoritätsgläubig, obrigkeitshörig, unterwürfig, bürokratisch, hoffnungslos, apathisch, selbstmitleidig, jammernd und jegliche Schuld negierend – so erlebte der amerikanische Aufklärungsoffizier der Psychological War Division, Saul Padover, die Deutschen Ende 1944, Anfang 1945, nachdem die amerikanischen Truppen Reichsterritorium erreicht hatten. Junge Deutsche erinnern sich, dass sie, als sie die britischen Truppen sahen, aus dem Bunker kamen und „Heil Hitler“ brüllten, eine 17-jährige Frau fasst das Kriegsende so zusammen: „Eine Welt fiel in Trümmer, ideell und real; und eine neue Welt tat sich auf, in die man sich vorsichtig und völlig ungeschützt hineintasten musste.“ Wie war es also, das Ende des Zweiten Weltkrieges?
Schon wieder ein Gedenktag? Wen interessiert das eigentlich? Uns alle, so hoffen wir doch. Anlässlich des Kriegsendes vor 70 Jahren werden wieder viele Politiker Reden halten, dass aus ehemaligen Feinden Freunde geworden sind, dass nie wieder ein Krieg kommen dürfe, dass jeder sich für den Frieden einsetzen muss.
Ist Padovers Urteil über die Deutschen nur seine Wahrnehmung? Würden „wir“ uns gerne an seinen Eindruck erinnern? Und wie wäre es, wenn er möglicherweise tatsächlich Recht gehabt hätte? Und schlimmstenfalls heute immer noch solche Verhaltensmuster existierten? Erinnern – auch für die Zukunft – ist per se weder gut noch schlecht. Es kommt darauf an, wer sich wann an was mit welchen Mitteln und mit welchem Ziel erinnert.
Die Erinnerungen von Menschen, die bedeutende Epochen der Geschichte miterlebt haben, stellen eine wichtige Basis für die Rekonstruktion von Geschichte dar, zweifellos.
„Erinnerung“ lässt aber auch aus, hebt hervor, beschönigt, verdrängt, vergisst, bildet Legenden und Mythen. „Erinnerung“ konstituiert Familiennarrative und solche von Gesellschaften und Kulturen. „Erinnerung“ heischt nach Konsens. „Erinnerung“ ist schwer zu revidieren: „Ich habe das doch selber erlebt!“ „Erinnerung“ ist nur eine Sichtweise auf die Vergangenheit, mehr nicht. Deshalb bedarf sie der historischen Einordnung, der quellenkritischen Analyse, der Definition ihrer Standpunktabhängigkeit.
Erinnerungen gibt es auch auf der anderen Seite, der Seite der Alliierten, der Anti-Hitler-Koalition. Wie also nahmen die Deutschen „den Feind“ wahr, was haben sie gedacht und gefühlt, als sie die britischen Soldaten in Bremen einrücken sahen? Und wie erging es den Siegern? Was haben sie von „den Deutschen“ gehalten, fühlten sie sich als Eroberer, Sieger oder als Befreier? Was wurde eigentlich am 8. Mai gefeiert?
Es ist wichtig, sich die Erinnerungen aller beteiligten Seiten anzuhören, ihre Aussagen mit originalen Zeitdokumenten, schriftlichen Quellen, Filmen und Fotos abzugleichen und sie ungeschönt zu analysieren, es ist historische Aufgabe, sich darauf zu besinnen, welche geistigen und emotionalen Muster aufeinander trafen, wie die verschiedenen Mentalitäten in der „Stunde Null“ verfasst waren – so es diese denn gab.
von Dr. Diethelm Knauf