Vor 250 Jahren: 1767 führte Bremen die Torsperre ein – vom Türöffner zum Hassobjekt
Als am 6. März 1848 der Funke der Revolution auf Bremen übersprang, richtete sich die Wut der aufgebrachten Menge nicht nur gegen das Stadthaus am Domshof als Sitz wichtiger Behörden. Auch das Domizil von Langzeitbürgermeister Johann Smidt an der Contrescarpe wurde mit „Erdklumpen“ beworfen. Im Visier der Aufrührer war aber vor allem die Torsperre am Herdentor. Wie ein Magnet zog das Wachgebäude die entfesselte Menge an, innerhalb kurzer Zeit entlud sich der aufgestaute Frust. Laternen gingen zu Bruch, auf dem Pflaster lagen die Scherben eingeschlagener Fenster.
Man kann nicht behaupten, dass die „Torsperre“ einen sonderlich guten Klang in der Bremer Geschichte hätte. Nicht zuletzt die Ereignisse vom 6. März 1848 dürften zu ihrem schlechten Leumund beigetragen haben. Doch auch später noch kochte Volkes Zorn hoch, wenn es um die Torsperre ging. So am 8. August 1848, als es am Herdentor bei neuerlichen Protesten zu Handgreiflichkeiten kam. Diesmal ein besonderer Skandal, weil durch den rabiaten Einsatz der Sicherheitswehr auch unbeteiligte Bürger verletzt wurden.
Wenige Monate später war es dann jedoch endgültig vorbei mit dem Dauerärgernis, zum 1. Januar 1849 wurde die verhasste Torsperre aufgehoben. Hinweggeschwemmt von der Revolution, landete sie auf dem Müllhaufen der Geschichte.
Wie ein Relikt aus finsterer Vergangenheit
Im Rückblick erscheint die Torsperre wie ein Relikt aus finsterer Vergangenheit. Wie ein Überbleibsel aus dem Mittelalter, das es irgendwie geschafft hatte, bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts zu überdauern. Ein Eindruck, der bisweilen neue Nahrung in historischen Rückblicken erhält. Noch in der Zeitschrift „Der Wiederaufbau“ war 1948 zu lesen, mit Aufhebung der Torsperre sei „der letzte Rest mittelalterlicher Abgeschlossenheit in Fortfall“ gekommen.
Doch tatsächlich war die Torsperre keineswegs mittelalterlichen Ursprungs. Vielmehr wurde sie erst vor 250 Jahren am 1. Januar 1767 eingeführt. Bis dahin wurden die Stadttore nach Sonnenuntergang kurzerhand geschlossen und öffneten erst wieder bei Tagesanbruch. In den Nachtstunden gab es keinen Einlass – wer zu spät kam, musste leider draußen bleiben.
Irreführend ist die Begrifflichkeit. Auch wenn sie etwas anderes suggeriert, war die Torsperre eigentlich ein Türöffner. Zwar schlossen die Stadttore wie zuvor bei Einbruch der Dunkelheit. Dabei variierten die Öffnungszeiten je nach Jahreszeit. Im Winter wurden die Tore bereits am späten Nachmittag geschlossen, im Sommer erst tief in der Nacht. Anders als zuvor konnte aber jedermann gegen Entrichtung einer geringfügigen Gebühr auch noch danach passieren. Zunächst galt das neue Einlassverfahren offenbar probeweise nur für das Herdentor und Buntentor, danach wurde es sukzessive auf die übrigen Stadttore ausgeweitet: erst auf das Doventor (1770), später auch auf das Hohentor (1775) und das Ostertor (1783), als Nachzügler folgten noch in einem Schwung das neue Bischofstor, das Ansgariitor und das Stephanitor (1826/27).
Warum die Torsperre?
Doch warum plötzlich eine Torsperre? Die Gründe dafür klingen erstaunlich aktuell. In den Kassen der Stadt Bremen herrschte damals eine höchst betrübliche Ebbe. Nicht nur Schulden aus der Zeit des Siebenjährigen Kriegs von 1756 bis 1763 belasteten den Haushalt, auch andere Ausgaben hatten ihren Anteil am Defizit. Wie etwa großzügige Zuwendungen für absolutistische Amtsträger. In dieser Situation musste der Senat immer wieder nach Möglichkeiten suchen, die Löcher im Etat zu stopfen. Eine probate, noch heute einträgliche Methode: die Erhebung einer neuen Sondersteuer. Nichts anderes war die Gebühr, die seit 1767 zur Umgehung der Torsperre eingetrieben wurde.
Anders als man meinen könnte, fand die Torsperre zunächst viel Anklang in der Bevölkerung. Immerhin gewann man dadurch ein Stück persönlicher Bewegungsfreiheit und war nicht mehr gebunden an enge zeitliche Grenzen. Endlich konnten sich die braven Bürger ein wenig mehr Zeit lassen beim Beackern ihrer Anbauflächen vor den Toren der Stadt oder auch mal etwas länger verweilen in der ländlichen Umgebung. Die fällige Gebühr nahm man dafür gern in Kauf, zumal sie ziemlich moderat war. Die Torsperre damals war eher ein Fortschritt als ein Rückschritt.
Freilich nagte der Zahn der Zeit am Instrument der Torsperre. Einen ersten Dämpfer erhielt das Verfahren, als Bremen dem napoleonischen Kaiserreich angehörte. Als überholtes, mit modernen Verwaltungsgrundsätzen unvereinbares Konstrukt wurde die Torsperre 1812 außer Kraft gesetzt. Allerdings zeigte der Senat nach Ende der „Franzosenzeit“ wenig Neigung, auf die liebgewonnene Geldquelle zu verzichten und führte die Torsperre 1814 wieder ein.
Das Sperrgeld als Finanzspritze
Immerhin waren die Einnahmen im Laufe der Jahre ein fester Posten im Staatshaushalt geworden. Bereits in den frühen Jahren hatte der rege Durchlauf in den Sperrstunden reichlich Geld in die Kassen gespült und damit selbst die kühnsten Hoffnungen weit übertroffen. 1838 summierte sich das Sperrgeld auf 15.000 Taler. In schöner Regelmäßigkeit wurden die Gebühren angepasst, ab Januar 1840 betrug das Sperrgeld für Fußgänger zwei Groten in der ersten Stunde nach Beginn der Sperrzeit, danach bis Mitternacht drei Groten und während der sogenannten Nachtsperre sechs Groten. Reiter mussten dagegen einen höheren Tarif zahlen.
Dass der Senat im Traum nicht daran dachte, sich von der Torsperre zu trennen, zeigen die Wachhaus-Neubauten im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts. Darunter noch zwei kostspielige Wachhäuser am Ostertor von 1825 bis 1828 und das Wachhäuschen am Bischofstor 1838.
In der Bevölkerung schwand derweil der Rückhalt für die Torsperre. Seit dem frühen 19. Jahrhundert begann die Stadt langsam, aber sicher zu wachsen. Die Vorstädte gewannen immer größere Bedeutung, immer mehr Menschen pendelten zwischen den neuen Wohngebieten und den innenstädtischen Kernbereichen von Altstadt und Neustadt. Dafür jedes mal einen Obolus zu entrichten, erschien den Vorstädtern als lästig und ungerecht.
Ein beredtes Beispiel für die wachsende Kritik an der Torsperre liefert der junge Friedrich Engels, der von 1838 bis 1841 als Kaufmannslehrling in Bremen weilte. In einem Brief an seine Schwester Marie beklagte er sich im September 1839, er habe bei einem Ausritt mit Freunden an einem Abend innerhalb weniger Stunden gleich dreimal Sperrgeld zahlen müssen. Sein belustigter Kommentar: „Ist das nicht eine interessante Geschichte?“
Eine Vergangenheit ohne Zukunft
Als Bremen 1847 an das hannoversche Bahnnetz angeschlossen wurde, war die Zeit der Torsperre nach allgemeinem Empfinden endgültig abgelaufen. Lag doch der neu errichtete Hannoversche Bahnhof unweit des heutigen Hauptbahnhofs und damit außerhalb der Grenzen von Alt- und Neustadt. Bei Zugfahrten jenseits des gesetzten Zeitrahmens hätten die Fahrgäste ein ums andere mal Sperrgeld zahlen müssen. Kein sonderlich herzlicher Willkommensgruß im prosperierenden Bremen.
Es kann also kaum Wunder nehmen, dass viele Bremer nicht gut zu sprechen waren auf die Torsperre. „D’rum laßt uns jetzt mit Fleiß betrachten / Was durch das Thor für Thoren gehn“, witzelte der Schriftsteller Theodor Sievers 1850 in einem Spottgedicht über das Hamburger Gegenstück. Denn: „Das ist’s ja, was das Thor uns bringet, / Daß viele Thoren dadurch geh’n.“
Gleichwohl misst der Regionalhistoriker Herbert Schwarzwälder dem Sturm auf die Torhäuser im Revolutionsjahr 1848 keine übergeordnete Bedeutung bei. In seinem Standardwerk zur Bremer Geschichte tut er die Unruhen als „alkoholisierte Ausschreitungen“ ab, die Ruhe am Herdentor sei schnell wiederhergestellt worden.
Doch damit macht es sich Schwarzwälder wohl doch ein wenig zu einfach. Tatsächlich steckte weitaus mehr hinter dem Angriff auf die Torhäuser als reine Zerstörungswut des Pöbels. Mehr als nur ein Gewaltausbruch, der sich gegen irgendein beliebiges Symbol der staatlichen Ordnung gerichtet hätte. War doch die Torsperre gerade für die Bewohner der Vorstädte schon seit langem ein rotes Tuch, ein Sinnbild für die systematische Vernachlässigung ihrer Bedürfnisse.
Dass der Senat sich schwer tat, auf die lukrative Sondersteuer aus der Torsperre zu verzichten, mag man ihm nachsehen. Anderswo fiel die Torsperre weitaus später weg als in Bremen. In Hamburg hielt der Senat trotz harscher Kritik noch bis 1860 an der längst anachronistisch gewordenen Einrichtung fest.
von Frank Hethey