Ein Blick in die Geschichte (145): Foto von 1905 zeigt Kleine Weserbrücke im Originalzustand
Welch pittoresker Anblick! Gemütlich dümpelt ein Weserkahn im Wasser, über die Brücke rumpelt die elektrische Straßenbahn. Zu sehen ist die Kleine Weserbrücke um 1905, das Gegenstück zur Großen Weserbrücke. Der Blick geht weseraufwärts, links kann man eben noch den Teerhof erkennen. Auffällig: die dichte Wohnbebauung auf diesem schmalen Ausläufer der Halbinsel. Allenfalls zu erahnen ist hinter der Brücke das weitläufige Arbeitshaus, ein klassizistisches Bauwerk von 1830/31, das im Zweiten Weltkrieg zerstört wurde.
Blickt man durch die Pfeifer hindurch, sieht man im Hintergrund einen Zipfel des Überbaus der St. Pauli-Brücke. Die war damals noch brandneu, sie war von 1901 bis 1903 als „Neue Kleine Weserbrücke“ anstelle einer hölzernen Fußgängerbücke errichtet worden. Die St. Pauli-Brücke diente als Verlängerung der neuen Großen Weserbrücke, beide Brückenbauten zusammen bildeten die neue östliche Verkehrsachse über die Weser. Ein Konzept, das Oberbaudirektor Ludwig Franzius ersonnen hatte.
Der Zweck lag auf der Hand: Die neue Achse sollte die altersschwache Kleine Weserbrücke entlasten. Gebaut in der Biedermeierzeit, war sie schon lange nicht mehr in der Lage, den stetig anschwellenden Verkehrsstrom zu bewältigen. Ungünstig auch die zweimal scharf abgewinkelte Straßenführung über die Weser, ein Erbe aus mittelalterlichen Zeiten: Wer die Kleine Weserbrücke überquerte, musste danach rechts in die Herrlichkeit abbiegen und dann vor dem Arbeitshaus scharf links auf die Große Weserbrücke einschwenken.
Neue Konstruktion instabil
Auf unserem Foto von 1905 ist die Kleine Weserbrücke noch im Originalzustand mit sämtlichen vier Pfeilern zu sehen. Ein eher seltenes Bild, die meisten Aufnahmen zeigen sie mit nur einem Pfeiler und zwei stählernen Fachwerküberbauten anstatt des schlichten Brückengeländers. Der Hintergrund: Beim Neubau der Kaiserbrücke von 1913 bis 1916 hatten die beiden Überbauten als Notbrücke gedient, nun fanden sie weitere Verwendung bei der Erneuerung der Kleinen Weserbrücke.
An sich keine schlechte Idee, allerdings wirkte sich die neue Konstruktion mit nur noch einem Pfeiler nachteilig auf die Stabilität der Brücke aus. 1925 musste die Brücke für Fuhrwerke gesperrt werden, erst 1929 konnte man sich des Problems entledigen. Gleichsam gewollt war der Bedeutungsverlust der Kleinen Weserbrücke, der Hauptverkehrsstrom floss über die neue Verbindung. Das machte sich sogar in der Namensgebung bemerkbar: Die Kleine Weserbrücke hieß ab 1920 „Brautbrücke“, die Neue Kleine Weserbrücke wurde zum gleichen Zeitpunkt in St. Pauli-Brücke umbenannt.
Mehr zur Brautbrücke und St. Pauli-Brücke lesen Sie hier.
von Frank Hethey