Zum Beginn der Fahrradsaison: Ricarda Huch – eine der ersten Radlerinnen in Bremen
Fast schlagartig setzte sich die Bauart des uns vertrauten sicheren Niederrads mit Kettenantrieb ab Mitte der 1880er Jahre in allen Industrieländern durch. Das Fahrrad erfuhr eine stetig steigende Wertschätzung durch das bis dahin von den Draisinen, Knochenschüttlern und Hochrädern ziemlich strikt ferngehaltene weibliche Geschlecht.
In Bremen entschloss sich Ende 1896 die bedeutende Schriftstellerin, Historikern und Philosophin, die 1892 als eine der ersten deutschen Frauen überhaupt promoviert hatte, das Radeln zu lernen: Ricarda Huch (1864 bis 1947).
Die aus Braunschweig gebürtige Kaufmannstochter arbeitete ab dem Oktober 1896 als Honorarkraft für das in Bremen von Dora Gildemeister und Christiane Rassow geplante Mädchengymnasium und Vortrags-Lyceum. Da sich die Pläne für ein Mädchengymnasium nicht verwirklichen ließen, verließ Ricarda Huch im Mai 1897 die Hansestadt wieder und siedelte nach Zürich um. Leicht fiel der Literatin das Eingewöhnen in die Gepflogenheiten des bremischen gehobenen Bürgertums nicht. Da sie keine geeignete Wohnung finden konnte, hatte sie das Angebot von Dora Gildemeister angenommen, in deren Elternhaus an der Contrescarpe 16 Logis zu nehmen. In ihrem ersten Brief an die Freundin Emmi vom 16. Oktober 1896 vermerkt sie u.a. über die Umstände:
„Gestern habe ich einen fürchterlichen Anfall von Heimweh überstanden. […] Das Äußerliche ist ja alles ausgezeichnet, obgleich meine Zimmer sehr trostlos sind… Denken Sie, ich sehe nichts als kalte, gleichmütige Häuser und werde es jedenfalls nur ertragen können, wenn ich ein für allemal die Gardinen zuziehe. Es ist mir ein interessantes Räthsel, wie Gildemeisters so lange in diesem Hause leben mochten, da sie es absolut nicht nöthig hatten. Daß wir ein Mädchen zu unserer Verfügung haben, ist natürlich sehr bequem.
Zu lustig ist, wie wir noch gewohnt sind, rein menschlich mit den unteren Volksklassen zu verkehren, was man hier gar nicht thut; in den Läden spiele ich immer noch eine komische Rolle. […] Und dann giebt es nichts, gar nichts in der Bibliothek. Was habe ich mich schon nach meinen Büchern gesehnt.“ Einige Wochen später ergänzte Ricarda noch ernüchterter: „Im Gildemeisterschen Hause ist es sehr ungemüthlich, lauter Dissonanzen, und so verhaßt. Recht unangenehm ist es, daß Gildemeisters nur in der Familie verkehren, ich sehe gar keine Möglichkeit, jemand außer der Familie kennenzulernen.“
Das Fahrradfahren als Befreiung
Was lag da näher, als außerhalb des Gildemeisterschen Hauses die Umgebung nicht nur zu erkunden, sondern rauschhaft zu erfahren? Mit einem der ersten Damenräder wohlgemerkt, die damals zwar noch teuer waren, aber für bürgerliche junge Frauen nicht unerschwinglich. Ricarda Huch konnte es offenbar gar nicht abwarten, das heute als „postfossiles“ Fortbewegungsmittel gerühmte Fahrrad auszuprobieren, und suchte im November 1896 eine Fahrschule auf. Aus ihrem Briefwechsel mit der Freundin Emmi Reiff-Franck in Zürich und ihrem Liebhaber, dem Vetter und Schwager Richard Huch, lassen sich exemplarisch viele der Probleme – und Freuden – entnehmen, die ihr und den anderen frühen bürgerlichen Radpionierinnen sozusagen auf den Nägeln brannten.
Am 11. November 1896 berichtet Ricarda ihrer Emmi: „Heute werde ich die erste Stunde im Radeln fahren.“ Zwei Tage teilt sie Richard mit: „Seit vorgestern radle ich. […] Heute habe ich auch Hoffnung gefasst, dass ich es lerne, bin schon ein bisschen allein gefahren […]. Mein hübscher weißer Körper ist ganz voller blauer Flecke.
Ein allerliebster Junge bringt es einem bei. Ich wurde heute belobt, eine Dame sagte, sie hätte nach 30 Malen noch nicht gekonnt was ich nach 3 Malen. Manchmal hatte ich schon ein ganz sicheres Gefühl, und dann fühlte ich die Kräfte nachlassen und dann ist es aus. Die Bahn ist nicht sehr lang, und deshalb muss man fortwährend wenden: das macht mich unruhig und ängstlich, aber es ist vielleicht nützlich…“
Bei der „Bahn“ handelte es sich um die 1885 eröffnete, 250 Meter lange Rennbahn des Radfahrer-Clubs an der Schleifmühle mit 8000 Sitzplätzen.
Ricarda Huch jubelt
Am 15. November, nur zwei Tage später, jubiliert das im Lyceum sogenannte Fräulein Dr. phil. Huch: „Süßer Richard, ich kann radeln. Ich fahre bereits allein, fühle mich sicher und vergnügt dabei und bin heute officiell belobt worden. Jetzt brauche ich nur noch Kraft und Übung, ich bin immer gleich müde und weißt Du, schön geht es überhaupt nicht, aber es geht doch.“
Höchstwahrscheinlich hatte Ricarda Huch bereits eines der Damenmodelle des Niederrads zur Verfügung, bei denen das Oberrohr der Herrenräder durch ein parallel zum Unterrohr gezogenes ersetzt war. Einige Modelle waren um 1897 schon mit einem einen Ketten- und Kleiderschutz ausgestattet.
Jedenfalls ließ Ricarda ihren geliebten Schwager Ende November 1896 wissen: „Ich habe mir ein Kostüm zum Radeln gekauft, das ging ja nicht anders, Kostenpunkt 60 M. Aber es ist auch wundervoll solide und gediegen und auch für Bergtouren köstlich. Soll ich, wenn wir uns mal mit Radeln träfen, es anziehn?“ Emmi schrieb sie am 14. Januar 1897 u. a.: „Radelst Du immer allein? Was für ein Kostüm hast Du – ich habe einen Hosenrock darüber.“
Nach einer Winterpause nahm die 33-jährige Akademikerin am 6. April 1897 das Touren mit dem Rad wieder auf und berichtete Richard nicht ohne „ganz egoistisch-weltliche Motive“ darüber: „Vorgestern habe ich wieder angefangen, und von dem Augenblick an hat sich meiner ein Anflug von Seligkeit bemächtigt, dessen ich nicht wieder verlustig gehen möchte. Es ist zu schön. Ich fühle mich jetzt so ziemlich sicher. Natürlich aber kann ich das geliehene Rad nur so lange beanspruchen, bis ich es kann, und gestern hat […] man mir schon Andeutungen gemacht, ich könnte mir nun ein eigenes kaufen. Erst dachte ich, es wäre Unsinn, mir für hier noch eins anzuschaffen, aber weißt Du, ich habe das Gefühl, als verlöre ich Jahre meines Lebens, wenn ich nicht radle. Also jetzt möchte ich von Dir wissen, ob Du mir in Deiner Fabrik eins besorgen willst, oder ob ich es mir hier kaufen soll.“
Gildemeisters fanden das Radfahren plebejisch
Ricarda Huchs Fahrlehrer, der gemerkt hatte, dass sie bei ihm kein Rad kaufen würde, war inzwischen „missmutig geworden“ und wollte ihr „keins mehr leihen, so dass ich immer unsicher bin ob ich eins bekomme.“ Nach einigem Hin und Her – „Ich kann gar nicht fahren, wann ich will, sondern muss immer warten, wann der Mann gelaunt ist. Also wenn ich mir hier eins kaufen soll, kann mir schon irgendwer beim Aussuchen Rath geben“ – erhielt sie endlich das so begehrte eigene Fahrrad. Allerdings waren damit nicht alle Probleme auf einen Schlag gelöst denn, so schreibt sie Richard postwendend:
„[…]laufen thut es gradezu zauberhaft, weißt Du, es ist mir sehr oft gradezu wie ein Pferd, das mir durchgeht, wenn ich es zu fest ansporne. Aber unglücklicherweise kam ich gleich das erste Mal damit in furchtbaren Regen, das Wetter war unsicher, aber ich konnte der Lust nicht widerstehen, es zu probieren. Und dann war der Sattel sehr hoch, was zwar himmlisch geht, aber ich war nicht daran gewöhnt und konnte nicht aufsitzen und fiel infolgedessen mehrmals hin. […]
Nun also ferner war das Rad so furchtbar in den feuchten Schmutz gekommen, […] es war gleich ganz verrostet und musste mit Petroleum behandelt werden. Ich habe einen ziemlichen Schrecken bekommen, denn das Putzen lerne ich sicher nie, und eigentlich müsste man es doch selbst machen. Ich will es mir aber noch einmal von den […] Kindern zeigen lassen, die putzen es mit Bürsten, und das kann ich mir besser vorstellen. Jedenfalls scheint mir die Beschäftigung mit dem Rade das halbe Leben auszufüllen. Grade jetzt habe ich eine köstliche Beobachtung gemacht, ich wurde unwohl und zwar ganz ohne Schmerzen […]; sicher kommt das mir vom Radeln, das macht eine leichte Blutcirculation. Das ist mir so beruhigend, weil man oft sagt, es wäre namentlich für Frauen so ungesund […]. Gildemeisters nämlich finden Radfahren plebejisch und ärgern sich schändlich, dass ich es thue, und da muss ich immer so was hören, was mich dann doch natürlich ängstigt. Es muss aber doch gesund sein, weil die augenblickliche Wirkung so wahrhaft und reinigend ist.“
Zum Strampeln besser an die Nähmaschine als aufs Rad
Die Familie Gildemeister stand zu jener Zeit in Bremen mit an der Spitze der Patrizier und hatte großen Einfluss auf das gesellschaftliche und politische Leben. Die in konservativen Schienen festgefahrene Welt diverser gehobener Herren des Bürgertums mochte sich mit dem Gedanken nicht anfreunden, dass Frauen genauso gerne den Verlockungen des geschwinden Radfahrens und den damit verbundenen subjektiven Glücks- und anderen Empfindungen erliegen, wie die Männer auch. Sie pflegten die Verhaltensmaxime: „Wenn das zarte Geschlecht absolut das Bedürfniß zur Betätigung seiner Strampelkraft fühlt, so kann es diese ebenso gut an der Nähmaschine effektuieren.“
Kurz, es ging damals hoch her, und weil zum „weiblichen Radeln“ nach Auffassung bestimmt nicht nur von Ricarda Huch eben auch eine sinnvolle, nicht einengende Kleidung gehörte, kam es zu endlosen Debatten über den zulässigen „Sittenkodex“ zumal in Modefragen.
Und wer sprang den Damen zur Seite – natürlich, die Marketingexperten der Zweiradindustrie. Als die Nachfrage nach Damenrädern Ende der 1890er Jahre deutlich stieg (um 1900 machten sie bereits die Hälfte der Produktion aus), avancierte das weibliche Geschlecht zum Werbeträger des Fahrrads schlechthin und wurde zur „gleichberechtigten“ Zielgruppe der Verkaufsprofis, wie viele überlieferte Werbeplakate belegen. Die Modeindustrie ließ sich wahrlich auch nicht lumpen – sie nährte die Durchbrechung der Kleidervorschriften mit allen Finessen hinsichtlich der Unter- wie Oberwäsche und lebte erst gut mit dem Skandal: Eine Frau in Hosen! – und profitierte dann von der steigenden Nachfrage des sogenannten „Rational Dress“, sprich als Rock getarnte Hosen und dergleichen Bekleidungsvariationen mehr.
Die jungen Frauen des Proletariats, die Arbeiterinnen und Dienstmädchen, hatten hingegen um die Jahrhundertwende und weit darüber hinaus in aller Regel weder die Zeit noch das Geld, um Radmode und Radtouren ernsthaft ins Auge zu fassen. Bis die große Mehrheit der lohnabhängigen Menschen überhaupt an den Kauf selbst eines gebrauchten Niederrads denken konnte, vergingen in Deutschland – auch kriegsbedingt – im Übrigen noch gut zwei Jahrzehnte.
Erster Fahrradweg Deutschlands mitten im „Viertel“
Die von Ricarda Huch überlieferten Begebenheiten spiegeln ein getreues Bild jener Zeit, sie decken sich jedenfalls mit denen anderer (publizistisch tätiger) bürgerlicher Frauen wie z. B. Elsbeth Meyer-Förster, die ab den 1890er Jahren ihre Lebensfreude durch das Radfahren zu steigern wussten, dabei ihre Muskelkraft stärkten und die Enge des Hauses hinter sich ließen. „Eine Lebensfreude kriegt man vom Radeln! – gar nicht wieder umzubringen! […] Was hat man aber auch jahrelang für ein Leben geführt, man hat nicht springen, laufen, jagen dürfen, man ist Dame, Fräulein, Frau gewesen, ein Ding ohne bewegliche Gliedmaßen, aufrecht gemessen und gezirkelt in einem Schlepprock verpuppt, höchstens zum Knicksen abgerichtet.“
Bleibt die – offene – Frage, ob Ricarda Huch auch Zeugin der ersten Anlage eines Fahrradweges in einer deutschen Stadt wurde. Mitten im „Viertel“, in der Linienstraße, verläuft seit dem Ende des 19. Jahrhunderts der älteste innerörtliche Radweg hierzulande, und zwar genau in der Mitte der mit Kopfstein gepflasterten Fahrbahn. Dort findet sich ein gut 50 cm breiter Streifen, der mit metallisch glänzendem Schlackenstein aufwartet und besser als das holprige Kopfsteinpflaster zu befahren ist.
Fest steht: Als Ricarda Huch im Mai 1897 die Hansestadt hinter sich ließ, hatte sie in einem Brief nicht zuletzt diese wunderbare Erkenntnis formuliert: „Ich glaube, wenn alle Deutschen Rad führen, würden sie ihre dumpfe Sinnlichkeit verlieren und schöner und glücklicher werden.“
von Johann-Günther König