Vor 75 Jahren legte der US-Dampfer „American Ranger“ in Bremen an – Eklat um „Hühnerfutter“-Rede
Die Blechdose lag in einem Care-Paket. Sie überstand 64 Jahre und drei Umzüge. Ein Apotheker aus der Nähe von Rostock hütete die blau-weiß-rote Dose mit Schweineschmalz wie einen Schatz. Dann ließ er aus Neugier den Inhalt untersuchen. Das Landesamt für Lebensmittelsicherheit stellte 2012 fest: Der Schmalz der Marke „Swift’s Bland Lard“ war immer noch genießbar. Das ist eine von vielen Anekdoten, die sich um die legendären Care-Pakete ranken. Vor 75 Jahren – am 15. Juli 1946 – kam die erste Schiffsladung mit 35 700 Paketen in Deutschland an, auf dem Dampfer „American Ranger“ im Bremer Überseehafen.
An Bord: Haferflocken, Butter, Obst, Kekse, Kaffee, Kakao und Kaffee. Der Absender: großzügige Amerikaner, die damit ihren einstigen Kriegsfeinden halfen. Von dem Nordseehafen wurden die Pakete in die westlichen Zonen Nachkriegsdeutschlands und nach Berlin gebracht. Wie die Zeitung „Telegraf“ berichtete, trafen dort am 11. August 1946 die „ersten Liebesgabenpakete aus Amerika“ auf dem Güterbahnhof in Steglitz ein. Später kamen die Lebensmittel auch mit den „Rosinenbombern“. Die Maschinen flogen während der Luftbrücke 1948/49 das von den Sowjets abgeriegelte West-Berlin an, sehnsüchtig erwartet von den Kindern, weil es dann Süßigkeiten vom Himmel regnen konnte.
Das Merkwürdige: In der bundesweiten Berichterstattung zum Care-Jubiläum wird fast durchweg angegeben, die „American Ranger“ habe in Bremerhaven ihre Ladung gelöscht. Doch das ist ganz offenbar ein Irrtum. Darauf deutet schon allein die Meldung im WESER-KURIER hin. Als die Zeitung am 24. Juli 1946 über die Ankunft des US-Dampfers berichtete, wurde als Zielhafen ausdrücklich der stadtbremische Überseehafen genannt – um genau zu sein: Pier 15.
Die Ankunft in Bremen und nicht in Bremerhaven hält auch der Historiker Karl-Ludwig Sommer für wahrscheinlicher. „Humanitäre Hilfsgüter sind über Bremen gelaufen“, sagt Sommer, der sich intensiv mit der Geschichte der Care-Lieferungen befasst hat. Care wie auch die weniger bekannten Cralog-Güter (kurz für: Council of Relief Agencies Licensed for Operation in Germany) seien überwiegend über den Überseehafen eingeführt worden. „Bremerhaven war für den militärischen Nachschub bestimmt.“
Zwischen 1946 und 1960 verschickte die heute weltweit aktive Hilfsorganisation Care 100 Millionen Pakete nach Europa, darunter allein drei Millionen nach Berlin, einige landeten über Umwege in der DDR. Es war nicht die einzige Hilfsaktion der Nachkriegszeit, aber eine, die ins kollektive Gedächtnis wanderte.
Der spätere Arbeitsminister Norbert Blüm (1935-2020) erinnerte sich lebhaft an die Zeit, als sein Vater noch in Kriegsgefangenschaft war und er mit seiner Mutter und seinem Bruder in einem Kabäuschen unter dem Dach wohnte. Weihnachten kam das Care-Paket, was sie ihrem Onkel Heinrich in New York verdankten. „Ich empfand es wie eine Wunderkiste aus dem Märchen“, so Blüm.
Doch es gab auch kritische Stimmen. Zu einiger Berühmtheit gelangte die „Hühnerfutter“-Rede des damaligen Direktors der Verwaltung für Wirtschaft in der Bizone (britisches und amerikanisches Besatzungsgebiet), Johannes Semler – desselben Semler, der beim Borgward-Konkurs 1961 eine so unrühmliche Rolle spielte. Rückblickend erklärte Semler bei einer improvisierten Rede am 4. Januar 1948 in Erlangen, die Amerikaner hätten Mais und Hühnerfutter geschickt.
Nach Ansicht des Wirtschaftshistorikers Karl Marten Barfuß gab es „gelegentlich“ auch Nahrungsmitteleinfuhren „von geringerer Qualität“, vor allem Hafer und Mais aus älteren Lagerbeständen. Wenn auch überspitzt formuliert, relativiere die Semler-Äußerung die Euphorie, mit der Bürgermeister Wilhelm Kaisen die US-Lieferungen gelobt habe. Tatsächlich lässt Kaisen auf die amerikanischen Hilfsgüter nichts kommen, in seinen Erinnerungen spricht er von „hochwertigen Lebensmitteln“.
Womöglich handelt es sich aber einfach nur um ein kulturelles Missverständnis. Sogar ein „doppeltes Missverständnis“, wie Sommer meint. Anders als in Amerika habe in Deutschland der Maisanbau für die menschliche Ernährung keine Tradition gehabt. Mais sei nur als Körnerfutter für Geflügel bekannt gewesen – daher die geringschätzige Wortwahl Semlers. Seinen Job kostete ihm die „Hühnerfutter“-Formulierung, weil sich zu seiner Fehldeutung auch noch eine auf amerikanischer Seite gesellte. Hat doch die Übersetzung „chicken food“ laut Sommer noch eine andere, subtilere Bedeutung, nämlich „die letzten Krümelchen vom Tisch“. Das wollten sich die Amerikaner nicht sagen lassen.
Care heißt auf Deutsch „sorgen“. Gegründet wurde die private Organisation („Cooperative for American Remittances to Europe“) 1945 in den USA von 22 amerikanischen Wohlfahrtsorganisationen. Für viele sind die Care-Pakete fester Teil der deutsch-amerikanischen Freundschaft. Zum Jubiläum bedankte sich Bundeskanzlerin Angela Merkel: „Diese große Hilfe aus den Vereinigten Staaten von Amerika bleibt unvergessen.“ Sie weist auch auf die heutigen Nöte hin, die katastrophale Lage in Syrien und Jemen.
Mehr als nur Lebensmittel
Im Nachkriegsdeutschland waren die Pakete mehr als Lebensmittel. Bei der Versorgung der Menschen war ihre Rolle gar nicht so groß, wichtig waren sie besonders aus psychologischer Sicht, wie der Berliner Historiker Maximilian Klose sagt, der sich in seiner Doktorarbeit am John-F.-Kennedy-Institut mit dem Thema befasst hat. „Es war einfach ein Zeichen amerikanischer Solidarität und der Nächstenliebe mit den Deutschen, die den Krieg angefangen haben.“ Manche Deutsche konnten sich zudem im „Opfer-Narrativ“ und im Kampf gegen den Kommunismus bestärkt fühlen.
Das Besondere: Die Amerikaner durften sich als Spender die Ziele ihrer Pakete aussuchen. Es war erwünscht, dass sich die Empfänger bei ihnen mit Briefen bedanken. Das taten die Deutschen auch. So lernten die Amerikaner die einstigen Kriegsgegner von ihrer menschlichen Seite kennen. Klose ist sich sicher, dass so auch Freundschaften entstanden. Care-Pakete waren „absolute Sehnsuchts-Objekte“, sagt der Historiker. Zeitzeugen beschreiben, wie sich ihnen eine neue exotische Welt auftat. Manche haben ihre erste Hershey-Schokolade nie vergessen.