Interview mit Frau B*, 2018
Sehr geehrte Frau B.*, während des Zweiten Weltkrieges und die Jahre danach wohnten Sie mit zusammen mit Ihrer Mutter in Hemelingen. 1945 waren waren Sie 12 Jahre alt.
Ja, wir wohnten einer Nebenstraße der Hemelinger Bahnhofsstraße. Wir waren damit in unmittelbarer Nähe zum Bahnhof Sebaldsbrück. Hemelingen gehörte bis 1938 zu Preußen und erst seit 1939 zur Stadtgemeinde Bremen. Wegen der Rüstungsbetriebe wurden Hemelingen und Hastedt 1944/45 besonders häufig bombardiert. Hier waren die Borgward-Werke und ein Zweigwerk der Focke-Wulf-Flugzeugbau.
Bei Luftangriffen mussten Sie auch einen Bunker aufsuchen?
Ich war nicht zur Kinderlandverschickung, sondern durfte bei meiner Mutter bleiben, da sie eine Witwe war. Außerdem war sie zwangsverpflichtet und musste bei den Borgward-Werken arbeiten. Wenn die Sirenen einen Luftangriff der Alliierten ankündigten, mussten wir Kinder und Lehrer sofort in den Schulbunker. Einmal bin ich ausgebüxt, und zwar weil ich lieber bei meiner Mutter sein wollte. Ich rannte, so schnell es ging, zum Bunker an der Föhrenstraße. Dort angekommen, war der Bunker schon verriegelt und man wollte mich nicht mehr einlassen. Da habe ich die ganze Zeit neben dem Bunkereingang gehockt. Es war schrecklich.
Wenn die Bomben in der Nähe des Bunkers fielen, dann „hüpfte und schaukelte“ er hin und her. Die großen Hochbunker sollen 75 cm hin- und her gewackelt haben. Ganz schlimm waren die Spitzbunker. Da saßen die Menschen innen direkt an der Beton-Außenwand.
Am Ende des Krieges kamen erst die Engländer, dann bauten die amerikanischen Besatzer die Enklave aus. Mit der Kapitulation am 8. Mai 1945 brach auch die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln und Heizmaterial zusammen. Wie haben Sie ihre Mutter unterstützt?
Ich war immer viel unterwegs. Wenn es irgendwo etwas zu holen gab, dann war ich dabei. Wir hatten nämlich noch einen richtigen Herd. Der musste immer befeuert werden. Normalerweise waren alle Ringe eingesetzt. Nur zum Kochen wurden die entsprechende Ringe passend zur Topfgröße herausgenommen. Einige Stücke Holz waren da schon sehr begehrt. Ich suchte in Ruinen und am Bahndamm nach etwas Brennbarem ab. Wenn meine Mutter aus dem Haus ging, dann trug sie mir auf das Feuer zu bewachen. Das gelang mir meist nicht. Einmal habe ich Schuhcreme auf das glimmende Holz gegeben und damit das Feuer erhalten.
Haben sie auch gehamstert, das heißt zu den Bauern aufs Land gefahren und um Lebensmittel nachgefragt?
Das haben wir schon während des Krieges getan. Wir wohnten ja direkt am Bahnhof und sind dann mit dem Zug nach Achim, Verden oder sogar nach Dörverden gefahren. Ganz am Ende des Krieges wurden wir während Fahrt von englischen Tieffliegern angegriffen. Im Zug war ein Soldat und der befahl uns, dass wir sofort aus dem Zug sollten und uns am Bahndamm flach auf den Boden legen sollten. Nach kurzer Zeit kamen die Tiefflieger von der anderen Seite und der Soldat befahl uns auf der andere Seite des Bahndamms zu wechseln. Danach drehten die Tiefflieger ab. Dieses Erlebnis saß uns anschließend tief in den Knochen.
Das Hamstern brachte vor und nach dem Kriege nicht viel. Von den Bauern bekamen wir oft nur zwei kleine Kartöffelchen. Aber das war besser als gar nichts.
Nun kommen wir zum „Kohlenklau“. Der war ja schon am Anfang des Krieges ein Begriff. Seinerzeit sollte die Bevölkerung elektrische Energie und Heizkohle einsparen. Denn die Energie aus den Kohlen wurde für die Rüstungszwecke gebraucht.
Da weiß ich weniger drüber. Aber meine Mutter hat mir davon erzählt. Und wir waren wirklich bis zum äußersten sparsam erzogen.
Deshalb habe ich etwas über den „Kohlenklau“ vor 1945 recherchiert.
Bei Youtube ist ein Video „Kohlenklau“ eingestellt: https://youtu.be/MJQgthN4tMI Es spricht Will Dohm (1897-1948).
Aber auch in Bremen wurde darum geworben, sparsam zu sein. In einem Schaufenster des Kleider- und Seidenstoffe-Geschäftes Friedrich Lützow, Sögestraße 50/52, war zum Thema „Kohlenklau“ dekoriert. Mit verschiedenen Exponaten wurde auf die Kohle-Einsparmöglichkeiten hingewiesen. Im Hintergrund macht sich ein räuberisches Tier (Marderhund?) mit einem Sack auf dem Rücken davon. Die Waage deutet an, wie viel Kohle gespart werden könnte.
„Kohlenklau“
Er klaut das Gas und stiehlt das Licht.
Raubt Strom und Kohle: Duldet’s nicht!
Spare Kohlen für die Rüstung!
Sie werden jetzt ausführlich über den Klauenklau nach dem 8. Mai 1945 berichten.
Nach dem Kriege dauerte es eine Weile bis die Züge wieder fuhren. Dann war die Eisenbahntrasse unsere Versorgungslinie für Kohlen. Der sogenannte „Kohlenklau“. Das war alles kriminell, aber ums blanke Überleben in den beiden Kältewintern 1945/46 und 1946/47 waren Recht und Ordnung weniger wichtig.
Von weitem hörten wir schon die Dampflokomotive der schweren Kohlenzüge schnaufen. Dann hieß es: Auf zum Bahndamm an der Straße Zum Sebaldsbrücker Bahnhof. Und zwar in etwa gegenüber der (ehemaligen) Wurstfabrik Köneke. Das Gelände war damals ein Acker, also noch nicht bebaut. An dieser Stelle kommt der Zug vom Bahnhof Sebaldsbrück und muss einen Anstieg über die Brücke hinweg auf den Bahndamm schaffen. Deshalb fuhr der Zug sehr langsam. Im kleinen Wäldchen am Bahndamm hatten sich Männer versteckt. Die sprangen in diesen Moment sprangen beherzt auf und betätigten mit einem Stock die jeweilige Waggonbremse. Das brachte den Zug nach kurzem Weg zum stehen. Nun liefen alle herbei und damit begann der „Kohlenklau“. Ich war meist in einem der Waggons und wuchtete einen Kohlebrocken nach dem anderen heraus auf den Bahndamm. Da waren die Sammler und ernteten die Früchte unserer Arbeit. Manchmal hatten sie schon ganz schnell selbst alles eingesackt. Und wenn wir dann wieder vom Zug stiegen, war alles weg. Aber meistens haben wir auch Kohle abbekommen. Zu Hause mussten wir die Brocken mit einem Hammer noch in kleine Kohlenstücke zerschlagen. Dann konnte wir sie im Ofen oder Herd verfeuern.
Jetzt kann ich Ihnen Foto vom Kohlenklau zeigen. Es wurde Winter 1947 vom Fotografen Tony Vaccaro in Bremen aufgenommen. Leider kann ich es Lesern von Bremen-History nicht zeigen.
Warum nicht?
Die Lizenzgebühren für die Bereitstellung dieses Fotos können wir nicht tragen. Wer es sehen möchte gibt in die Suchzeile seiner Internet-Suchmaschine ein:
akg kohlenklau 1947
Das funktioniert doch gut.
Aber nicht nur aus den Zügen wurden Kohlen „abgezweigt“.
Mutige Burschen sprangen auf die langsamen, von Pferden durch die Straßen gezogen Kohlewagen. Dort standen die Kohlesäcke in Reih und Glied. Sie machten nun daran einen Teilinhalt der Säcke nach und nach auf die Straße zu werfen. Wir brauchten dann nur noch die Kohlen aufzusammeln.
Wie lange Zeit wurde den der „Kohleklau“ betrieben?
Das weiß ich auch nicht genau. Jedenfalls im November 1945 begann wieder der Schulunterricht. Und einige Leute wurden auch beim Kohlenklau erwischt und verurteilt. Vermutlich war es spätestens 1947 damit vorbei. Ein Artikel im Weser-Kurier vom 12.Februar 1947 beschreibt die Lage auf dem Kohlenmarkt.
Ich danke für dieses Interview.
Bitte gern geschehen
Das Interview führte Peter Strotmann im Januar 2018
*Frau Annemarie B. möchte ihren Nachnamen nicht genannt haben.