Ein Blick in die Geschichte (139): Luftbild von 1960 zeigt Kirchenruine im Doventorviertel
Schon weit vorangeschritten war der Wiederaufbau des Doventorviertels, als diese Luftaufnahme 1960 entstand. Wobei der Terminus „Wiederaufbau“ nicht ganz zutreffend ist, denn ähnlich wie in der westlichen Vorstadt ignorierten die Städteplaner vielfach die alten Straßenzüge und legten stattdessen neue, großzügigere Straßen an. Es handelte sich also eher um einen Neuaufbau als einen Wiederaufbau (mehr dazu bei Eberhard Syring, Das Stiefkind).
Nicht ganz klar war indessen, was mit der Ruine der Michaeliskirche am Doventorsteinweg gegenüber vom Arbeitsamt geschehen sollte. Anders als man rückblickend meinen könnte, war der Abriss keineswegs von Anfang an beschlossene Sache. Und schon gar nicht deshalb, weil die Kirche dem Ausbau des Nordwestknotens im Wege gestanden hätte, wie es fälschlicherweise bei Nils Aschenbeck „Bremen. Der Wiederaufbau 1945-1960“ heißt.
Ambitionierter Kirchenneubau
Das schon rein größenmäßig beeindruckende Bauwerk war 1899/1900 nach Plänen des Berliner Kirchenbaumeisters Jürgen Kröger errichtet worden, eines Spezialisten für neugotische Sakralbauten. Der Architekt Wilhelm Sunkel befand damals, unter den neuen Kirchenbauten sei die kreuzförmig angelegte Michaeliskirche mit dem markanten Eckturm künstlerisch am interessantesten, besonders die hervorragende Akustik erntete viel Beifall.
Der Neubau entstand anstelle des betagten Vorgängerbaus, eines eher schlichten Saalbaus mit Dachreiter. Bereits im Dezember 1943 schwer beschädigt, wurde die Kirche beim verheerenden Bombengriff auf den Bremer Westen am 18./19. August 1944 noch einmal arg in Mitleidenschaft gezogen. Das Gemeindeleben fand seither in Findorff statt, im Schoß der 1934 von der Michaelis-Gemeinde abgeteilten Martin-Luther-Gemeinde.
Doch eine gänzliche Verlagerung des Gemeindelebens nach Findorff stieß nicht auf ungeteilte Gegenliebe. Als die Wiederaufbaupläne für das Doventorviertel gegen Mitte der 1950er Gestalt annahmen, machten sich auch Bestrebungen bemerkbar, die zerstörte Kirche zu neuem Leben zu erwecken. Der Wunsch der Gemeinde gehe dahin, dass „die Ruine genau so wiederaufgebaut werde, wie sie einmal war“, meldete der Weser-Kurier im Mai 1955. Rund 500.000 Mark und eine Bauzeit von drei Jahren wurden für das Vorhaben veranschlagt.
Dem Nordwestknoten nicht im Weg
Freilich zerschlugen sich die Pläne, im Mai 1960 verkündete der Weser-Kurier, der Abbruch werde in Kürze beginnen. Aber nicht etwa, weil die Kirche dem künftigen Nordwestknoten im Wege gestanden hätte. Nur zeitlich scheint es einen Zusammenhang zu geben, wurde die Schnellstraße doch von 1960 bis 1962 angelegt. Aber sie verläuft bis heute in rund 200 Metern Entfernung, tangiert also den Kirchenstandort noch nicht einmal. Vielmehr rückte man vom Wiederaufbau wegen der massiven Schäden am Baukörper ab – jedenfalls war das die offizielle Begründung.
Eine Restaurierung der Kirche schien auch deshalb wenig Sinn zu ergeben, weil die meisten Gemeindemitglieder nach der Zerstörung ihrer Wohnungen in anderen Stadtteilen Unterschlupf gefunden hatten. Als Ersatz für die abgebrochene Kirche sollte lediglich ein Gemeindehaus für die „Restgemeinde“ gebaut werden.
Es kam dann aber doch anders, die Michaelis-Gemeinde löste sich wieder von der Martin-Luther-Gemeinde in Findorff und richtete sich abermals am traditionellen Standort in einem neuen Kirchenbau ein, der seit 2009 der fusionierten St. Michaelis – St. Stephani-Gemeinde als Ort der Zusammenkunft dient.
Das Gebäude mit seinem steil aufsteigenden Dach in Dreiecksform wurde im November 1966 seiner Bestimmung übergeben. Von der alten Michaelis-Kirche zeugen nur noch zwei Skulpturen der Reformatoren Ulrich Zwingli und Martin Luther, die einst ihren Platz in luftiger Höhe hatten und heute an der Seitenfront des Kirchenneubaus am Doventorsdeich stehen.
von Frank Hethey