Vor 100 Jahren: Das Infanterie-Regiment „Bremen“ Nr. 75 wird bei der dritten Flandernschlacht dezimiert
Zwei Touristen stapfen über tiefen Ackerboden. Etwas weiter wiegt sich erntereifer Mais im Wind, grasen Kühe, zieht ein Trecker eine Staubfahne hinter sich her. Ab und an weht das Rauschen der Autobahn 19 herüber, die die westbelgischen Städte Kortrijk und Ypern verbindet. An dieser Stelle des welligen Landstrichs, am Fuß der Anhöhe Polderhoek, deutet nichts auf das Inferno im Herbst 1917 hin. Damals tobte auch hier die dritte Flandernschlacht, eines der größten Gemetzel des Ersten Weltkriegs. Vor ziemlich genau 100 Jahren, am 6. November 1917, fanden die Kämpfe ihr vorläufiges Ende. Zwischenzeitlich in den Schützengräben: das Infanterie-Regiment „Bremen“ Nr. 75. Dessen Soldaten kämpften, wo nun die beiden Touristen gehen. Erst nachdem der Verband schwere Verluste erlitten hatte, wurde er am 8. Oktober 1917 aus der Front gezogen.
Übrig blieb ein völlig abgekämpfter Verband, sein Gefechtswert lag noch Wochen später weit unter dem Soll. Die Bilanz der Kämpfe rund um Polderhoek: Mehr als 740 „Bremer“ wurden getötet oder verwundet, gerieten in Gefangenschaft oder galten als vermisst. Das entsprach rund 40 Prozent der sogenannten Ausrückstärke vom 26. September 1917. An dem Tag griff das Regiment – verstärkt um Artillerie, Pioniere, Meldereiter und Angehörige einer Sturmkompanie – in die dritte Flandernschlacht ein. Der Auftrag lautete, über Polderhoek die etwa 500 Meter weiter westlich verlaufende Wilhelmstellung zurückzugewinnen. Der Angriff in matschigem, zerschossenem Gelände begann um 14 Uhr.
An der Spitze des II. Bataillons erlebte Hauptmann Walter Caspari das Vorgehen. Der spätere Kommandeur des Freikorps Caspari und Chef der Bremer Schutzpolizei schrieb: „Über den Boden streichen Rauch- und Nebelschwaden der Brisanzgranaten und Nebelgeschosse, [sie] erschweren die Sicht, beklemmen den Atem, trüben die Augen. Die Führer stürzen in allgemein westlicher Richtung gegen eine grauschwarze, blitzdurchzuckte, brüllende Feuerwand vor.“
Das Schloss Polderhoek – zersiebt und zerstört
Trotz der Einschläge, des Schlamms und erster Verluste erreichte das Regiment um 16 Uhr das Zwischenziel Schloss Polderhoek. Zersiebt und zerstört, stand davon nicht mehr viel. Nach dem Krieg, so informiert eine Tafel an der nördlich gelegenen Oude Kortrijkstraat, steckte der Besitzer sein Geld statt in den Wiederaufbau in die Errichtung einer Kirche. Heute ist von dem Anwesen noch nicht einmal etwas zu erahnen.
Casparis Schilderung wie auch die genannten Verlustraten finden sich in dem Werk „Geschichte des Infanterie-Regiments Bremen (1. Hanseatisches) Nr. 75. Nach amtlichen Kriegstagebüchern und Berichten von Mitkämpfern“. 1934 bei Hauschild erschienen, vermittelt es den Eindruck, dass die „Bremer“ durchweg ruhmreich kämpften.
So ist im Kapitel „Die Abwehrschlacht in Flandern“ von Fehlern, Misserfolgen oder Kameraden, die sich ergaben und in Gefangenschaft gingen, allenfalls zwischen den Zeilen zu lesen. Ein Beispiel bezieht sich auf die Stunden nach Erreichen von Polderhoek. Denn was das Buch nicht beim Namen nennt: Gemessen am Auftrag war der Gegenstoß ein Fehlschlag. Von den acht vorn eingesetzten Kompanien konnte sich einzig die 6. Kompanie in der Wilhelm-Stellung festsetzen – bis zum Abend, dann musste sie angesichts ihrer exponierten Lage zurückgenommen werden.
Offenbar um Relativierung bemüht, fasste Caspari es so zusammen: „Den übrigen Kompagnien gelang der Einbruch nicht ganz. Zu stark beherrschte der in voller Abwehrbereitschaft eingebaute Engländer bereits mit seinen Maschinengewehren und Nahkampfwaffen das unmittelbare Vorgelände und zwang mit seinem Massenfeuer die … Truppe zu Boden.“
Diese Darstellung mag dicht an der Wahrheit sein, geht aber nicht den Ursachen auf deutscher Seite nach. Welche Rolle spielte die übergeordnete Führung, zum Beispiel die vorgesetzte 34. (Großherzoglich Mecklenburgische) Infanterie-Brigade? Warum bestand keine Verbindung zum rechten Nachbarn, sodass rund 20 Stunden lang eine Umfassung drohte? Und vor allem: Warum konnten die „Bremer“ ihren Gegenstoß erst antreten, als sich der Gegner schon zur Verteidigung eingerichtet hatte? Immerhin war Zeit von entscheidender Bedeutung, wie der US-Militärhistoriker Timothy T. Lupfer in seiner Studie „The Dynamics of Doctrine“ ausführt.
„Hoch lebe Bremen!“
Doch was hat es mit dem Infanterie-Regiment 75 überhaupt auf sich? Im Anschluss an den Deutschen Krieg 1866 aufgestellt, wurde das Infanterie-Regiment 75 zunächst in Harburg und Stade stationiert. Nach Bremen wurden der Regimentsstab und ein Bataillon am 1. Oktober 1867 verlegt: Die Bremer sollten nach dem Beitritt der bis dahin souveränen Stadt zum Norddeutschen Bund nun in preußischen Verbänden dienen; das bremische Militär wurde aufgelöst. Für den Empfang an der Weser dankte der Regimentskommandeur aus uraltem Adelsgeschlecht, Oberst Friedrich von Buddenbrock, mit dem Ausruf: „Hoch lebe Bremen!“ Hochgeboren bezog eine Wohnung im luxuriösen Hotel de l’Europe am Herdentorsteinweg 49/50, seine Truppe die Kaserne am Neustadtswall.
Zu den ersten Verlusten kam es 1870/71, als im Krieg gegen Frankreich 171 Regimentsangehörige fielen oder tödlich erkrankten. Drei Jahrzehnte später waren 75er erneut an militärischen Konflikten beteiligt: Das Regiment stellte für die Niederschlagung des Boxeraufstands in China 1900/01 rund 60 Soldaten ab; sechs Unteroffiziere und 30 Mannschaften waren es beim Hereroaufstand in Namibia 1904. Im selben Jahr erfolgte die Umbenennung in Infanterie-Regiment Bremen (1. Hanseatisches) Nr. 75. Kaiser Wilhelm II. nutzte die Gelegenheit auch gleich, um der Stadt seine „wohlwollenden Gesinnungen zu versichern“.
Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs zählte das Regiment knapp 3400 Mann. Der Verband kämpfte den gesamten Krieg über an der Westfront, setzte rund 19.700 Soldaten ein und verzeichnete am Ende 3800 Tote. Am 1. Januar 1919 kehrten die restlichen, noch nicht entlassenen Teile des Regiments nach Bremen zurück. Es war ein herzlicher Empfang, berichtete ein Augenzeuge: „Die Fahnen flatterten, die Blumensträuße regneten, die Menschen dicht an dicht gedrängt an den Straßen, an den Fenstern, in den Erkern und selbst auf dem Dach des Schüttings und der Rathsapotheke.“ Doch kaum hatten die Soldaten ihr Quartier erreicht, wurden sie von revolutionären Arbeitern entwaffnet. Wenige Tage später folgte die Entlassung der verbliebenen Frontkämpfer – und damit die faktische Auflösung des Infanterie-Regiments „Bremen“ Nr. 75.
Da war das Caspari-Kapitel von 1934 auch ein Stück Legendenbildung – es ging darum, die 75er im kollektiven Gedächtnis positiv zu verankern. Nein, die Stärke der „Geschichte des Infanterie-Regiments Bremen“ liegt keinesfalls in der Analyse. Der Pathos in diesem Buch ist sogar kaum erträglich. Für (militär)historisch Interessierte stellt es dennoch eine Grundlage dar – wegen seiner umfassenden Chronologie und manch anschaulicher Darstellung. Den beiden Touristen auf dem Acker bei Polderhoek hat es jedenfalls geholfen, Vergangenes nachzuvollziehen.
von Mario Assmann