Zur Reichsgründung: Vor 150 Jahren wurde der preußische König Wilhelm I. zum deutschen Kaiser proklamiert
Auf Drängen seines Kanzlers gab der preußische König Wilhelm I. schließlich nach. Seine feierliche Proklamation zum deutschen Kaiser im Spiegelsaal von Versailles am 18. Januar 1871 gilt als Tag der Reichsgründung, obgleich er formal schon seit Jahresbeginn Oberhaupt des neuen Reichs war. Nur deutsche Fürsten waren zugegen, keine Volksvertreter, auch keine Abgesandten der freien Städte. Doch immerhin hatte der Monarch dem Senat am 17. Januar mitgeteilt, die Freie Hansestadt Bremen könne „der Fortdauer Meiner Ihr gewidmeten Gesinnungen“ versichert sein.
Das hörte der Senat gern, in seiner Antwort auf „das Allerhöchste Schreiben“ revanchierte er sich mit den „heißesten Segenswünschen“. In einem handschriftlichen Briefentwurf an den „Allerdurchlauchtigsten Kaiser“ ist zusätzlich von „unwandelbarster Ehrerbietung und Ergebenheit“ die Rede – eine Huldigung in absentia ganz im zeittypischen Pathos. Vom so gern bemühten Bürgerstolz hanseatischer Patrizier ist da wenig zu hören, ziemlich devot klingt die Botschaft an die ferne Majestät.
Von einer „hellflammenden nationalen Begeisterung“ schwärmte 1904 noch der Historiker Wilhelm von Bippen. Der Verfasser der dreibändigen „Geschichte der Stadt Bremen“ konnte sich auf eigene Anschauung berufen, als 26-Jähriger hatte er die Ereignisse quasi hautnah miterlebt. Doch auch als Zeitzeuge bleibt man Kind seiner Zeit. Bippens Erkenntnisse zur bremischen Geschichte im 19. Jahrhundert erfreuten sich nicht der ungeteilten Wertschätzung der Fachwelt. „Was nach 1815 sich ereignete, hat er nur noch stilisiert“, urteilte 1947 sein Kollege Hermann Entholt, damals Leiter des Staatsarchivs.
Vergangenes neu deuten
Bisweilen ist die Vergangenheit eben schwer vorherzusagen. Dieses Bonmot des slowenischen Schriftstellers und Historikers Zarko Petan macht deutlich: Was gestern noch als gesicherte Erkenntnis galt, kann sich heute schon ganz anders darstellen. Wir erleben es gerade wieder in einem Historikerdisput zum 150. Jahrestag der Reichsgründung. War dieses neue, das zweite Reich nun ein autoritärer Machtstaat als Vorläufer des Dritten Reichs oder hatte es auch eine moderne Komponente?
Dass das Nationalbewusstsein ein Phänomen der Moderne ist, kann man gar nicht oft genug betonen. Vor der Französischen Revolution spielte es keine Rolle, auch danach war man in Deutschland vielfach geneigt, sich mit dem fehlenden Nationalstaat abzufinden. Als das mittelalterliche Universalkonstrukt des „Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation“ 1806 unter dem Druck Napoleons zusammenbrach, gab es keinen Nationalstaat als Ersatz. Erst kam der pro-französische Rheinbund, nach Ende der napoleonischen Vorherrschaft der Deutsche Bund als Konföderation souveräner Einzelstaaten.
Bremen mit seiner traditionellen Eigenständigkeit fuhr als freie Stadt nicht schlecht in diesem Staatenbund, zumal mit der Gründung Bremerhavens (1827) und dem Anschluss an das Eisenbahnnetz (1847) wichtige Grundlagen für die wirtschaftliche Fortentwicklung gelegt wurden. Doch ohne Nationalstaat war kein Staat zu machen, diese Überzeugung war im Vormärz common sense. Daran änderte sich auch nichts, als 1848/49 der Versuch gescheitert war, die nationale Einheit im Zuge einer bürgerlichen Revolution zu erzwingen. „Der Gedanke an die Einigung der Nation, die 1848 mißglückt war, lebte in den Herzen der Besten“, so Entholt in dann doch ziemlich pathetischem Ton.
Zehn Jahre währte der Dornröschenschlaf dieses nationalen Gedankens, ehe er sich 1859 wieder bemerkbar machte. Der damals gegründete Nationalverein, der einen kleindeutschen Nationalstaat unter preußischer Führung ohne Österreich anstrebte, fand auch in Bremen regen Anklang. Im gleichen Jahr strömten 7000 Menschen zur Schiller-Feier auf den Marktplatz.
Dabei knüpfte man an eine bewährte Tradition an, das Hambacher Fest von 1832 setzte Maßstäbe. Den passenden Anlass bot der 100. Geburtstag des als Nationaldichter verehrten Friedrich Schiller. Dabei hielten sich die Patrioten an die Symbole der niedergeschlagenen Revolution. In aller Unschuld zog man 1859 die schwarz-rot-goldene Fahne als deutsche Farben auf, die Fahne der Barrikadenkämpfer von 1848. Freilich blieb dabei ein wichtiger Aspekt der Märzrevolution auf der Strecke. „Einigkeit und Recht und Freiheit für das deutsche Vaterland“ hatte Hoffmann von Fallersleben 1841 auf Helgoland gedichtet.
Groß gefeiert wurde in Bremen auch der 50. Jahrestag der Völkerschlacht (1863). Beim Zweiten Deutschen Bundesschießen (1865) fehlte es ebenfalls nicht an nationalen Tönen, der Domshof versank in einem schwarz-rot-goldenen Flaggenmeer. Wirklich akut wurde die deutsche Frage für Bremen aber erst, als kurz danach die beiden deutschen Führungsmächte Österreich und Preußen aneinander gerieten. Bremen musste sich entscheiden und schlug sich früh auf die preußische Seite. Im „deutschen Krieg“ von 1866 kämpfte ein Bremer Kontingent gegen Österreich.
„Für Bremen war 1866 eigentlich eine schärfere Linie als 1871“, sagt der Historiker Jörn Brinkhus vom Staatsarchiv. Mit dem Beitritt zum Norddeutschen Bund als Vorstufe eines deutschen Nationalstaats waren die Würfel gefallen, Bremen verzichtete auf wichtige Souveränitätsrechte in der Außen- und Militärpolitik. Brinkhus: „Gleichzeitig blieb Bremen aber das Schicksal der Annexion erspart.“ Erst damals verschwanden auch die deutschen Farben in der Versenkung, statt Schwarz-Rot-Gold bevorzugte Preußen nunmehr Schwarz-Weiß-Rot als Kombination der eigenen Farben mit jenen der Hansestädte (mehr zu Bremens Rolle dabei hier).
Bremens Loyalität vergaß der preußische König auch als deutscher Kaiser nicht. Bereits 1869 stattete er der Hansestadt einen Besuch ab, unmittelbar nach Ende des Deutsch-Französischen Krieges wurden sein Kanzler Otto von Bismarck und General Helmuth von Moltke mit der Bremer Ehrenbürgerschaft geehrt. In der Folge mühte sich Bremen redlich, seine Treue zu Kaiser und Reich zu bekunden. Nicht umsonst wurden Wilhelm I. und Friedrich III. mit pompösen Reiterstatuen bedacht, Straßennamen und Lloyddampfer erinnerten an die Hohenzollern-Dynastie.
Gleichwohl blieb das Verhältnis nicht ungetrübt, der bremische Freihandel war Bismarck ein Dorn im Auge. Erst nach langem Zögern trat Bremen 1888 dem Deutschen Zollverein bei. „Eigentlich war erst damit die Einheit vollendet“, sagt Brinkhus. Seiner Selbständigkeit innerhalb eines föderalen Nationalstaats war sich Bremen aber nie so ganz sicher. Nach Kräften bemühte es sich daher, seine nationale Mission als Hafenstadt erst für den Zollverein, dann für das Reich zu betonen.
Nicht zuletzt Theodor Spitta bediente diese Klaviatur, als er 1939 anlässlich des geplanten, aber geplatzten Hitler-Besuchs anonym „Bremens deutsche Sendung“ vorlegte. „National war Bremen nicht nur in der Erfüllung seiner Seeaufgabe“, betonte er, „sondern auch in seiner gesamten Haltung zur Frage der deutschen Einheit.“