Fotos zweier Statuen der Reformatoren Zwingli und Luther

Die beiden Reformatoren Ulrich Zwingli (li.) und Martin Luther.
Foto: Frank Hethey

Zum Reformationstag – der „Ketzer“ Heinrich von Zütphen wurde später ermordet

Eher zufällig kam die Reformation im Spätherbst 1522 nach Bremen. Der ehemalige Augustinermönch Heinrich von Zütphen war gerade auf dem Weg zu Martin Luther nach Wittenberg, sein Aufenthalt in der Hansestadt sollte eigentlich nichts weiter sein als eine kurze Zwischenstation. Ein Unbekannter war der charismatische Prediger schon längst nicht mehr, als treuer Gefolgsmann Martin Luthers hatte er zuvor für mächtig Wirbel in seiner niederländischen Heimat gesorgt, damals noch ein fester Bestandteil des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation.

Nur mit knapper Müh’ und Not war er in Antwerpen dem Märtyrertod entgangen, der ihn zwei Jahre später in Heide dann doch noch ereilte. Doch davon konnte der 34-Jährige bei seiner Ankunft in Bremen natürlich nichts wissen. Bereitwillig ließ er sich auf die Bitte ein, in der St. Ansgarii-Kirche im Geiste Luthers zu predigen. Der Wortlaut ist nicht bekannt, dafür aber das Datum, das als Beginn der Reformation in Bremen gilt: der 9. November 1522 – wieder einmal ein 9. November, ein Schicksalstag der deutschen Geschichte.

Wobei man sich vor Augen halten muss, dass Heinrich von Zütphen zwar täglich in der Ansgarii-Kirche predigte, aber ohne Zustimmung der Gemeindeleitung, des glaubenstreuen Ansgarii-Kapitels. Das Gremium wollte ihn als „Ketzer“ sogar zum Schweigen bringen, biss sich aber am regierenden Rat die Zähne aus.

Reformation setzt sich rasch durch

Erstaunlich schnell setzte sich die Reformation in Bremen durch. Schneller als irgendwo sonst in Norddeutschland. Bereits 1523 wurde die neue Lehre von den Kanzeln der Gemeindekirchen verkündet. Innerhalb weniger Jahre verschwanden die Klöster von der Bildfläche: erst musste das Paulskloster dran glauben, dann auch das Katharinenkloster und das Johanniskloster. Als 1525 sämtliche katholische Messen verboten wurden, war es für lange Zeit vorbei mit der römischen Kirche in Bremen. Einzig im Dom als Bestandteil des erzbischöflichen Sonderbezirks konnte sich der katholische Ritus noch ein paar Jahre halten.

historische colorierte Zeichnung des Bremer Paulsklosters

Musste dran glauben: das Paulskloster wurde 1523/24 kurzerhand abgetragen.
Quelle: Staatsarchiv Bremen

Kein Wunder, dass Heinrich von Zütphen seine Arbeit für getan hielt. Als ihn 1524 eine Einladung aus Dithmarschen erreichte, zögerte er nicht lange. Davon konnten ihn auch seine Bremer Bewunderer nicht abhalten. Seine unmissverständliche Antwort: „Ihr habt das Evangelium nun zwei Jahre lang unter euch gehabt; aber die Ditmarsen sind noch mitten unter den Wölfen und haben keinen Hirten.“

Ohne einen Hirten mussten sie freilich noch länger auskommen, weil der unerschrockene Prediger schon kurz nach seinem Eintreffen in Dithmarschen am 10. Dezember 1524 von einem aufgestachelten, schwer alkoholisierten Bauernmob in Ermangelung eines Scharfrichters bestialisch ermordet wurde. Kein Geringerer als Martin Luther verfasste wenige Monate später eine Trostschrift zum Andenken an den Gemeuchelten.

Widerstand gegen ungeliebten Erzbischof

Dass sich die Reformation in Bremen so rasch verfestigte, lag allerdings nicht nur an der Überzeugungskraft der neuen Lehre. Vielmehr witterten die Stadtväter eine vortreffliche Chance, sich im Fahrwasser der Glaubensumwälzung ihres ungeliebten Herrn zu entledigen, des Erzbischofs Christoph von Wolfenbüttel. Dass die Stadt immer wieder ihre Probleme mit den Erzbischöfen hatte, ist kein Geheimnis – man wollte sich eben ungern etwas sagen lassen von auswärtigen Potentaten. Doch es gab auch lange Perioden „häuslichen Friedens“, so noch unter Christophs Vorgänger Johann Rode von Wale.

historischer Stich zeigt Mord an Reformator von Zütphen

Bestialisch umgebracht: Heinrich von Zütphen endete 1524 als Märtyrer.
Quelle: Staatsarchiv Bremen

Seit indessen der Welfenprinz sein hohes Amt 1511 übernommen hatte, gehörte dieser Frieden der Vergangenheit an. Der neue, damals erst 24-jährige Erzbischof galt als jähzornig und genusssüchtig, nicht umsonst belegte man ihn mit dem wenig schmeichelhaften Beinamen „der Verschwender“. Dass er den Mord an Heinrich von Zütphen angestiftet haben soll, fügt sich nahtlos ins Bild. Von einem geistlichen, womöglich guten Herrn hatte der Oberhirte rein gar nichts an sich. Für das Seelenheil seiner Untertanen, überhaupt für geistige Bedürfnisse brachte der Fürstbischof wenig Verständnis auf. Den Siegeszug der Reformation betrachtete er als Frontalangriff auf seine weltliche Herrschaft. Nicht ganz zu Unrecht, wie sich im Falle Bremens unschwer zeigen lässt.

Innerhalb kurzer Zeit spitzte sich die Lage dramatisch zu. Das Paulskloster wurde 1523/24 dem Erdboden gleichgemacht. Die offizielle Version lautete: um nicht zu riskieren, dass sich erzbischöfliche Truppen in dem Gemäuer unmittelbar vor den Toren der Stadt einnisten. Inoffiziell dürfte aber auch der Reichtum des Klosters eine nicht unerhebliche Rolle gespielt haben. Mit dem Abbruchmaterial wurde die Straße bis zum Warturm gepflastert.

Der Erzbischof tobt

Vergebens suchte Erzbischof Christoph in der Stadt seine Autorität wiederherzustellen. Der Rat – damals auch die Regierung – schaltete auf stur. Sobald der Erzbischof gegen „Ungläubige“ und „Ketzer“ wetterte, forderte der Rat schlüssige Beweise – in vollem Bewusstsein, dass die so einfach nicht zu erbringen waren. Der tobende Erzbischof konnte nichts ausrichten gegen die verstockten Bremer.

historischer Stich zeigt Stadtansicht Bremens zur Zeit der Reformation

Eine reformierte Insel im lutherischen Meer: Bremen um 1603.

Ungemach drohte indessen nicht nur von außen, auch innerhalb der Stadtmauer brodelte es. Mitten im Glaubensstreit entluden sich ab 1530 schon länger schwelende, soziale Spannungen. Ermutigt durch den Siegeszug der Reformation, putschten sich unterprivilegierte Kleinbürger an die Macht. Die 104 Männer unter Führung des Goldschmieds Johann Dove pochten auf eine fundamentalistische Auslegung der Bibel, sie forderten eine wahrhaft „christliche Ordnung“. Dabei stellten sie sich auch gegen die lutherische Geistlichkeit, katholische Messen im Dom wollten die „104“ nicht länger dulden. Ein Einfluss der Täuferbewegung in Münster liegt auf der Hand – womöglich wäre es zu einer ähnlichen Terrorherrschaft in Bremen gekommen, hätte der Rat nicht schon im Herbst 1532 wieder die Oberhand gewonnen.

Auch rein pekuniär hatten die Umwälzungen drastische Folgen. Die neue Glaubensfreiheit war nicht umsonst zu haben. Die Stadt musste tief in die Tasche ihrer Bürger greifen, um sich gegen mögliche Rekatholisierungsversuche zu wappnen. Die Stadtmauer wurde ausgebaut, ein Söldnerheer engagiert. Doch allein die Steuerschraube anzuziehen reichte nicht bei gerade mal 15.000 Einwohnern, auch Anleihen bei auswärtigen Geldgebern waren vonnöten.

colorierte Zeichnung zeigt Schlachtfeld vor den Toren der Stadt Drakenburg

Empfindliche Schlappe für die kaiserlichen Truppen: Schlacht bei Drakenburg im Mai 1547.
Quelle: Staatsarchiv Bremen

Und das war noch nicht einmal alles. Nach dem endgültigen Bruch mit dem erzbischöflichen Landesherrn tat Bremen gut daran, noch mehr als früher die Nähe zum Kaiser zu suchen: 1541 ließ sich die Stadt ihre Sonderstellung durch „eine stolze Reihe von Kaiserdiplomen“ (Konrad Elmshäuser) bestätigen. Auch dafür waren erkleckliche Geldbeträge aufzubringen. Wie gut 100 Jahre später bei der Erhebung zur Freien Reichsstadt kassierte der stets klamme Kaiser kräftig ab, wenn es um die Gewährung neuer Freiheiten ging. Eine absurde Situation, weil Bremen als Mitglied des protestantischen Schmalkaldischen Bundes nur wenig später in einen militärischen Konflikt mit dem katholischen Kaiser verwickelt war.

Bremen wird belagert

Dass Bremen so viel Geld in seine Verteidigung gesteckt hatte, sollte sich 1546/47 im Schmalkaldischen Krieg immerhin bezahlt machen. Der protestantische Bund hatte seinen Kampf gegen das Reich zwar eigentlich schon verloren, doch im Nordwesten ruhten die Waffen noch nicht. Verbissen setzte sich Bremen Anfang 1547 gegen eine dreimonatige Belagerung durch kaiserliche Truppen zur Wehr.

Als sich ein protestantisches Heer näherte, brachen die Belagerer ihre Zelte ab und eilten dem Feind entgegen. Bei Drakenburg nördlich von Nienburg kam es am 23. Mai 1547 mehr zu einem Gemetzel als einer Schlacht, die Kaiserlichen erlitten eine vernichtende Niederlage. Den 200 Toten der Protestanten standen 2500 auf katholischer Seite gegenüber. Allein 1000 von ihnen fanden den Tod, als sie über die Weser fliehen wollten.

gemaltes Portrait des Predigers Hardenberg

Sorgte für Unruhe in Bremen: der reformierte Prediger Albert Rizäus Hardenberg.
Quelle: Jürgen Howaldt, DomMuseum-02-2a, CC BY-SA 2.0 DE

Allerdings brachte der Sieg den Bremern nicht die ersehnte Ruhe. Im Gegenteil, erst jetzt brach in Bremen der innerprotestantische Gegensatz zwischen kalvinistischen Reformierten und orthodoxen Lutheranern auf. Kam doch im Tross des siegreichen Heeres der reformierte Prediger Albert Rizäus Hardenberg in die Stadt, ein Anhänger Philipp Melanchtons. Wie schon Heinrich von Zütphen stammte auch er aus den Niederlanden, einer Hochburg des sittenstrengen, aber auch anti-aristokratisch gesinnten Kalvinismus. Weil der überaus populäre Gottesmann im Dom predigte, konnte ihm der lutherische Rat nichts anhaben. Schon bald spalteten seine Ansichten die Stadt: Gegen Hardenberg stellte sich der orthodox-lutherische Ratsherr und Bürgermeister Detmar Kenckel, für ihn setzte sich das spätere Stadtoberhaupt Daniel von Büren d. J. ein, selbst ein Melanchton-Schüler.

Hardenberg spaltet den Rat

Über etliche Jahre zogen sich die Hardenbergschen Unruhen hin. Mit der Ausweisung Hardenbergs im Januar 1562 schienen die Lutheraner die Oberhand zu gewinnen. Doch als der Hardenberg-Sympathisant Daniel von Büren d. J. noch im gleichen Jahr turnusgemäß den Ratsvorsitz übernahm, wendete sich das Blatt – nun mussten das Führungspersonal der Lutheraner das Weite suchen. In dieser Situation ließ der neue starke Mann am Herdentor einen „fremdenfeindlichen“ Wappenstein setzen – in Wahrheit wohl eher ein hämischer Abgesang auf die entflohenen Gegner.

Der Streit setzte sich noch bis 1568 fort, laut Konrad Elmshäuser und Thomas Elsmann entwickelte sich ein „publizistischer Propagandakrieg“ zwischen den Kontrahenten. Der neue Buchdruck machte es leicht, sich gegenseitig mit Schmähschriften zu überziehen. Auf Druck der zwangsexilierten Lutheraner wurde Bremen 1563 sogar aus der Hanse ausgeschlossen. Der Dauerzwist trieb seltsame Blüten. Die vielleicht seltsamste war, dass der neue Erzbischof Georg von Wolfenbüttel, der feinsinnige Bruder des rabiaten Christoph, als katholischer Würdenträger zwischen den protestantischen Streithähnen vermittelte – sicher ein ungewöhnlicher Vorgang.

historisches Portrait von Daniel von Büren

Der neue starke Mann: Daniel von Büren d. J.
Quelle: Staatsarchiv Bremen

Das Ende vom Lied: Bremen schlug einen reformierten Sonderweg ein, Elmshäuser nennt die Stadt sogar einen „Vorort des deutschen Kalvinismus“. Bremen habe sich als reformierte Insel im Meer der lutherischen Glaubensrichtung zur „wohl niederländischsten Stadt Deutschlands“ entwickelt. Ganz außen vor blieben die Lutheraner indes nicht, ab 1638 durften sie sich im verwaisten Dom versammeln. Mithin ausgerechnet dort, wo zuletzt ihr kalvinistischer Widersacher Hardenberg gepredigt hatte. Eine feine Ironie der Geschichte.

Nicht überall Askese

Fortan herrschten strenge Sitten, eine strikte Arbeitsethik. Für vermeintliche Müßiggänger gab es keinen Platz in diesem Gemeinwesen, sie wurden kurzerhand aus der Stadt geworfen. Derlei atmet schon den puritanischen Geist: Gottgefällig lebt nur, wer hart und unermüdlich arbeitet.

Und doch war nicht überall Askese angesagt. In den Kirchen die große Bilderstürmerei, der völlige Verzicht auf jegliches Schmuckwerk. Dagegen parallel bei Profanbauten die „Weserrenaissance“ und im privaten Umfeld ein unbekümmert zur Schau gestellter Reichtum. Wie passt das zusammen? Ein scheinbar unauflösbarer Widerspruch, es riecht nach Doppelmoral.

Doch ganz so war es dann doch nicht, beides konnte durchaus Hand in Hand gehen. Was in den Kirchen verpönt war, durfte sich auf offener Straße durchaus zeigen. Frei nach dem Motto: Wer Gott durch seine Arbeit ehrt, darf die Früchte auch präsentieren. Und wenn Kunstwerke in der Kirche nicht erwünscht waren, dann gelangten sie eben als fromme Schnitzwerke in den privaten Raum. Nicht zufällig gaben wohlhabende Bürger gerade in jenen Jahren zahlreiche Truhen und prächtige Schränke in Auftrag.

Es hat eben alles seine zwei Seiten. Die Kehrseite des sittenstrengen Kalvinismus ist die Prachtentfaltung auf dem Gebiet der Bau- und Schnitzkunst. Ungemein typisch, dass 1608 die bis dahin gotische Fassade des Rathauses ihre heutige Gestalt annahm. Die Wege der Reformation – wunderlich mögen sie bisweilen sein, aber nicht unergründlich.

von Frank Hethey

 

gemaltes Portrait des Reformation-Mönches von Zütphen

Brachte die Reformation 1522 nach Bremen: der ehemalige Augustinermönch Heinrich von Zütphen.
Quelle: Wikimedia/Jürgen Howaldt

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