Vor 100 Jahren: Bei der Plattdeutschen Woche im Mai 1922 ging es um weit mehr als den Spracherhalt

Zum Programm der Plattdeutschen Woche vor 100 Jahren gehörte auch ein leicht verspätetes Osterstück in der Rembertikirche. „Mit besonderer Erwartung durfte man Jesu Auftreten entgegensehen“, meldeten damals die „Bremer Nachrichten“ am 28.  Mai  1922. Und fuhren mit einem unüberhörbaren Ton der Genugtuung fort: „Er erschien als blonder, deutscher Mann.“ Für den Verfasser war der Verzicht auf ein halbwegs authentisches Aussehen nachvollziehbar. Immerhin handelte es sich um eine plattdeutsche Osteraufführung.

Lebensunterhalt als Schriftsteller: Mit seinen plattdeutschen Büchern fand Georg Droste eine breite Leserschaft.
Quelle: Privat

Das „Osterspäl“ mit dem blonden Jesus war der Schlusspunkt einer ambitionierten Veranstaltungsreihe. Vom 21. bis 28. Mai 1922 stand Bremen ganz im Zeichen der Plattdütschen Wäke, der plattdeutschen Woche. Eine eng gestaffelte Abfolge von Kulturveranstaltungen, Werksbesichtigungen und Stadtführungen sollte die Menschen für das plattdeutsche Erbe begeistern. Organisiert hatte diese niederdeutsche Leistungsschau der Plattdütsche Vereen Bremen, der damit ein umfassendes Begleitprogramm rund um den eigentlichen Anlass gestrickt hatte: den 25.  Verbandstag des Allgemeinen Plattdeutschen Verbands.

Dass es geglückt war, die Jubiläumstagung in die „alte Hanse- und Niedersachsenstadt Bremen“ zu holen, erfüllte die Gastgeber mit Stolz. „Bremen bildet zur Zeit den Mittelpunkt der plattdeutschen Bewegung“, erklärte Heinrich Carstens, der Schriftführer des Plattdütschen Vereens. Zur Ehrengilde der Veranstaltung zählte, wer in Bremen Rang und Namen hatte: von den Bürgermeistern Martin Donandt und Theodor Spitta über Kaffeemagnat Ludwig Roselius und Lloyd-Direktor Carl Stimming bis hin zum Leiter der Volkshochschule, dem späteren NS-Bildungssenator Richard von Hoff.

Als besonders spektakulär galt der Besuch der „deutschen Brüder“ aus Amerika. Meist vor Jahrzehnten nach New York und Brooklyn ausgewandert, kehrten viele von ihnen erstmals in die alte Heimat zurück. Bei ihrer umjubelten Ankunft in Hamburg sollen 100.000 Menschen auf den Beinen gewesen sein. Mithilfe einer Anschriftensammlung hatte der Plattdütsche Vereen auf Initiative seines zweiten Vorsitzenden Gustav Dehning im Sommer 1920 die ersten Kontakte geknüpft, die Resonanz war überwältigend. „Einst haben Sie die Germania als stolze Göttin verlassen“, sagte Stimming zur Begrüßung. „Sie finden sie wieder als Aschenbrödel am Herd.“ Rein materielle Beweggründe wiesen die Veranstalter weit von sich. In Bremen gebe es keine „Dollarjägerei“, betonte Carstens.

Erster Weltkrieg noch sehr präsent

Dreieinhalb Jahre waren seit Ende des Ersten Weltkriegs vergangen, die Folgen machten den Menschen noch immer zu schaffen. Deutschland war politisch instabil und wirtschaftlich schwer angeschlagen. Zwar waren die bürgerkriegsähnlichen Zustände der frühen Nachkriegszeit vorüber, die revolutionäre Linke geschlagen: Die Bremer Räterepublik hatte sich als Intermezzo erwiesen. Doch dafür gewann der Rechtsterrorismus an Boden, der Mord am Zentrumspolitiker Matthias Erzberger im August 1921 hatte auch in Bremen zu einer Festnahme (mehr dazu hier) geführt.

In dieser krisenhaften Situation, als die ungeliebte Weimarer Republik noch immer nicht gefestigt war, bot die plattdeutsche Bewegung Halt und Orientierung. Mochte das Kaiserreich auch untergegangen sein, so konnte man sich doch noch an die „plattdütsche Moderspraak“ klammern, an Heimatliebe und „angestammtes Volkstum“ als bleibende Werte. Beim Heimatabend im Museum am Domshof pries der bekannte „Märchenprofessor“ Wilhelm Wisser das „gesunde Volksempfinden der Niedersachsen“, zu denen nach allgemeiner Auffassung auch die Bremer gehörten.

Der Umbau eines Umbaus: das neue Domizil der Gesellschaft Museum am Domshof.
Quelle: Staatsarchiv Bremen

Wissers Worte veranschaulichen einen Bewusstseinswandel in der niederdeutschen Bewegung. In ihren Anfängen um die Mitte des 19. Jahrhunderts war es noch vornehmlich um die Wiederbelebung der plattdeutschen Schriftsprache und um den Spracherhalt an sich gegangen. Doch das änderte sich in der Phase der Modernisierung. Der Lehrer und Schriftsteller Fritz Wischer aus Kiel brachte es beim Empfang in der Handelskammer auf den Punkt. Die „alte zähe Niedersachsenart“, die „alte echte niederdeutsche Kraft“ sollte Deutschland „aus dem Dreck herauszureißen“.

Die Niedersachsen oder Niederdeutschen also als Retter der Nation. Zur Entstehung dieses rassisch gefärbten Sendungsbewusstseins hatte ganz wesentlich ein Bestseller beigetragen: das erstmals 1890 publizierte Buch „Rembrandt als Erzieher“ von Julius Langbehn. Der Maler Rembrandt verkörperte den unverfälschten Niederdeutschen, seine Wesensart sollte den Deutschen zu einer völkischen Wiedergeburt verhelfen. Am niederdeutschen Wesen sollte Deutschland genesen.

Das Erfolgsbuch sorgte für einen Aufschwung der niederdeutschen Bewegung auch in Bremen. Der Schünemann-Verlag rief 1895 die einflussreiche Heimatzeitschrift „Niedersachsen“ ins Leben, 1904 gründete sich der noch heute bestehende Verein für Niedersächsisches Volkstum. Fünf Jahre später folgte der Plattdütsche Vereen Bremen, der sich ausdrücklich als Heimatbund für Nordwestdeutschland verstand und damit den Vorläufer des Plattdütschen Kring (mehr dazu hier) darstellt.

Die Böttcherstraße als sein Lebenswerk: Ludwig Roselius.
Quelle: Nicola Perscheid

Nach dem Desaster der Niederlage im Ersten Weltkrieg gesellte sich ein wichtiger Förderer hinzu: der Kaffee Hag-Gründer Ludwig Roselius. Mit der Böttcherstraße (mehr dazu hier) versuchte Roselius seit den frühen 1920er-Jahren, niederdeutsch-völkisches Denken in Stein zu meißeln. Zu den lokalen Wortführern der plattdeutschen Bewegung unterhielt der Kaffeemagnat enge Kontakte, dem Plattdütschen Vereen stellte er ein kostenloses Büro in der Böttcherstraße zur Verfügung.

Als führende Heimatzeitung berichteten die „Bremer Nachrichten“ tagtäglich ausführlich über die Plattdütsche Wäke, ihr Chefredakteur Georg Kunoth – ein Freizeitkomponist, aus dessen Feder das berühmte Trinklied „Ein Prosit der Gemütlichkeit“ stammte – steuerte nach Auskunft seiner Kollegen „ein sehr sangbares Vaterlandslied“ bei. Der Schluss lautete: „Deutsch schlägt das Herz! Und deutsch bleibt der Rhein! Deutschland, mein Heimatland, frei sollst du sein!“

Die Sinnsuche war Wasser auf die Mühlen der plattdeutschen Bewegung. Kurioserweise kamen die stärksten Impulse aus dem urbanen Umfeld, treibende Kräfte waren sehr häufig städtische Volksschullehrer. Deshalb haftete der Bewegung lange Zeit der Makel an, keine breite soziale Basis zu haben – eine Lehrerbewegung ohne Wurzeln.

Doch nun wähnten sich ihre Verfechter im Aufwind. Die plattdeutsche Bewegung sei „Volksbewegung“ geworden, schwärmte Carstens. Fast wie eine Vorwegnahme der NS-Volksgemeinschaft klingen seine Eindrücke aus der Vereinsarbeit: „Arbeiter, Bürger und Professoren unterhalten sich in wunderbarstem Platt und schon verschwinden alle Unterschiede.“ Tatsächlich konnten sich die Bremer Plattdeutschen im Dritten Reich über mangelnde Wertschätzung nicht beklagen, insbesondere Dehnings gute Verbindung zu von Hoff machte sich bezahlt.

Sinnstiftende Veranstaltung

Wohl kaum zufällig standen damals plattdeutsche Zusammenkünfte als sinnstiftende Veranstaltungen hoch im Kurs. Erst im März 1921 hatte in Berlin eine Niederdeutsche Woche stattgefunden. Als Ehrenvorsitzender fungierte der damalige Reichsinnenminister Erich Koch, vormals Bürgermeister von Delmenhorst und Stadtdirektor in Bremerhaven. Gerade einmal drei Monate nach der Plattdütschen Wäke gab es im September  1922 schon wieder eine Niederdeutsche Woche in Bremen, diesmal unter Regie der Weser-Gilde. Als Ehrengäste dabei: Reichspräsident Friedrich Ebert und der Dichterfürst Gerhart Hauptmann.

Nahm zu Beginn der 1920er-Jahre Fahrt auf: die plattdeutsche Bewegung, hier mit einigen der damaligen Wortführer des Plattdütschen Vereens: Heinrich Carstens (4. v. r.), Hinrich Gronau (3. v. r.) und Heimatdichter Georg Droste (2. v. r.).
Quelle: Staatsarchiv Bremen

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