Die gute Stube, sagt der Bremer, und meint damit den Marktplatz und die Gebäude drumherum. Alles so schön hier, wunderbar. Eine gute Stube, das war vor 40 Jahren auch das Rathaus, nur dass von Schönheit keine Rede sein konnte. Sessel und Sofas in der Oberen Halle, schwere Marmortische – alles so drapiert als wär‘s in einer Möbelausstellung. Eine Sitzgruppe nach der anderen, Scheußlichkeiten ihrer Zeit und der komplette Stilbruch an diesem ehrwürdigen Ort. Doch kam es darauf an? Da war Platz für einen Plausch, fürs Miteinander im Gegeneinander der Interessen. Darauf kam es an.
Die Bremer mussten improvisieren und konnten für ihre hochmögenden Gäste schlecht einen Stuhlkreis bilden. Also wurden mal eben Möbel geordert, leihweise, ein Händler aus dem Umland hatte seine Kollektion geschickt. Später konnte er sagen oder wenigstens vermuten, wer drin saß. Italien, Frankreich oder England, ganze Länder, ihre Chefs. Präsidenten, Minister und ein Bundeskanzler. Die Spitzen der Europäischen Gemeinschaft. So ein Sessel ist dann plötzlich viel mehr wert, durchaus möglich. Gebraucht zwar, aber von wem!
Nie zuvor und nie danach hat Bremen so viel Macht zu Besuch gehabt. Bundeskanzler Helmut Schmidt hatte damals dafür gesorgt. Er lud seine Kollegen in die Provinz ein, in einen Erdenwinkel, wenn man von London, Paris oder Rom draufschaut. Das erste Mal, dass ein Gipfel der Europäer in keiner der Hauptstädte stattfand. Schmidt begründete seine Wahl in einer Rede mit dem Föderalismus in Deutschland und paarte das mit einem Lob für Bremen: „Ich bin überzeugt, der für Bremen schon immer typische, über die Grenzen hinaus gerichtete Geist wird auch unsere Beratungen hier beflügeln.“ Sein Optimismus wurde belohnt. Der Gipfel war ein Erfolg.
Einzig das Wetter – miserabel, und das im höchsten Sommer. Es platterte zwischendurch wie nichts Gutes, ein Treffen, bei dem der Schirm die Herrschaft hatte, wenn die Gäste denn mal raus mussten aus dem Rathaus. Sie logierten standesgemäß im Park Hotel, dem einzigen Fünf-Sterne-Haus in Bremen. Ein idealer Ort, um bestmögliche Sicherheit zu garantieren. Niemand, der den Staatschefs zu nahe kommen konnte, dafür sorgte ein Kordon von Polizisten rund um das abgeschiedene Hotel am Bürgerpark. Eine Nacht nur, die Nacht von Donnerstag auf Freitag in der ersten Juli-Woche des Jahres 1978, doch die ist im Park Hotel in die Annalen eingegangen. Ganz Europa unter einem Dach.
Bundeskanzler Helmut Schmidt lobt Bremen
Taktgeber der Konferenz waren Bundeskanzler Schmidt und der französische Staatspräsident Giscard d‘Estaing, zwei Freunde, die sich vertrauen konnten. Um die beiden gruppierten sich die anderen. Eigentlich sollte es kein überbordendes Protokoll geben, mehr ein Arbeitstreffen, doch bei dem großen Franzosen machte man eine Ausnahme. Bei ihm waren es nicht wie üblich drei weiße Mäuse, wie die Verkehrspolizisten auf ihren Motorrädern bezeichnet wurden, da waren es gleich acht, die der Staatskarosse vorausfuhren, als der Präsident vom Flughafen abgeholt wurde. Der Wagen: ein Daimler natürlich in der Mercedes-Stadt, das Modell 600, Sonderanfertigung und mit Stuttgarter Kennzeichen.
Rund ums Rathaus war alles abgesperrt, als die Staatsgäste eintrafen. Wer schlau war, löste einen Fahrschein und setzte sich in die Straßenbahn, Linie 3 Richtung Weserwehr. So kam man näher ran, denn die Bahn durfte fahren. Leiser als sonst strich sie am Rathaus vorbei. Die Bremer Straßenbahn AG hatte eigens dafür gesorgt, dass die Schienen gut geölt sind, das Quietschen konnte man an diesen beiden Tagen nicht gebrauchen. In der Unteren Rathaushalle war hochsensible Sendetechnik aufgebaut worden. Bremen ging mit mehr als 30 Fernseh- und Rundfunksendungen, darunter „Bericht aus Bonn“, live in die ganze Welt.
Annähernd 700 Journalisten hatten sich akkreditiert, die meisten kamen aus den Ländern, die am Gipfel beteiligt waren, das Interesse ging aber weit darüber hinaus. Die Reporter eilten in Mannschaftsstärke auch aus Japan herbei, aus der damaligen Sowjetunion, aus China und Kuba. Großbritannien und Frankreich schickten 50 Pressevertreter, Italien 40, so viele wie aus den USA, die damals ein waches Auge darauf hatten, was sich in Europa tat. Als die Beschlüsse über das europäische Währungssystem durch waren, die Bremer Beschlüsse, wie sie genannt wurden, rief der Bundeskanzler noch am selben Tag den amerikanischen Präsidenten an. Jimmy Carter sollte es aus erster Hand erfahren.
Platz fanden die Journalisten in der Lobby der Bremischen Bürgerschaft. Das Klappern der Schreibmaschinen hallte durchs ganze Haus. Praktisch für die Autoren, dass sie nur aus dem Fenster zu gucken brauchten, um zu erspähen, ob Bewegung vor dem Rathaus ist, wer kommt, wer geht, und warum sich zum Beispiel der britische Premierminister James Callaghan plötzlich in der Öffentlichkeit sehen lässt, ein ungewöhnlicher Moment kurz nach Abschluss des Gipfels. Callaghan lief mit seinem Tross über den Marktplatz und fand sich publikumswirksam auf der Treppe des Schüttings ein. Er hatte seine Leute besucht, so einfach. Die Handelskammer war zwei Tage lang der Sitz diverser ausländischer Vertretungen – Ableger der Botschaften in Bonn, die ihr diplomatisches Geschäft dorthin verlegt hatten, wo die Musik der Mächtigen spielte.
Britischer Premier auf der Treppe des Schüttings
Die Bremer hatten das Feld geräumt. Rathaus und Bürgerschaft waren in fremder Hand, was einen beredten Ausdruck fand, als der Bundeskanzler zur großen Abschlusspressekonferenz bat. Helmut Schmidt nahm dafür auf dem Stuhl des Präsidenten Platz, damals war das Dieter Klink von der SPD, der dem Bremer Parlament vorstand. Der Kanzler gab den Journalisten Auskunft, neben ihm sein Außenminister Hans-Dietrich Genscher und Roy Jenkins, Präsident der Europäischen Kommission.
Das Trio saß unter dem Bremer Wappen und präsentierte die Ergebnisse des Gipfels. Draußen regnete es mal
wieder, drinnen eitel Sonnenschein, Schmidt konnte zufrieden sein. Er war im Laufschritt vom Rathaus rüber zur Bürgerschaft gekommen, um nicht allzu nass zu werden. Ein drahtiger Mann, seine Personenschützer kamen gar nicht hinterher. „Not quite bad“, staunte ein britischer Pressemann über die Fitness des Kanzlers.
Die Briten verhielten sich in der Bürgerschaft gegen ihre sonstige Art. Teatime? Eher nicht. Es war vor allem Kaffee, der ausgeschenkt wurde. 11.750 Tassen, wie die Bürgerschaftsverwaltung mit Akribie in den Büchern vermerkte. Tee wurde demnach nur 126 Mal verlangt. Und es gab Kekse, vier Zentner.
Im Rathaus wurde ganz anders aufgetischt. Bürgermeister Koschnick hatte am Donnerstag zur Begrüßung seiner Gäste in den Kaminsaal eingeladen. Als Suppe gab es eine Essenz aus Fasan, der Fisch war ein Seezungenschleifchen in Chablis, das Fleisch ein Filetsteak, umkränzt von grünen Bohnenbündeln, Pfifferlingen und Olivenkartoffeln. Zum Abschluss wurde ein Fruchtsalat mit Crème Chantilly serviert. Bremisch war daran rein gar nichts, kein Knipp, kein Kohl, nichts Deftiges.
Ausruhen konnten die Gäste danach auf den Sofas und Sesseln. Die Obere Rathaushalle als „Salon Politique“, wie das damals beschrieben wurde. Schön wohnlich sollte es sein, gastlich auch, neben der Wendeltreppe zur oberen Güldenkammer gab es eine kleine Bierbar. Der Marmor auf den Fluren vor der Halle war mit Orientteppichen ausgelegt. Ein bisschen wirkte das wie auf dem Basar, bis der Handel zwischen den Politikern perfekt war und das Rathaus in seinen Originalzustand zurückversetzt wurde.
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