Vor 60 Jahren ging der Streit um die Bebauung des Bremer Marktplatzes in die letzte Runde
In einem „vergnüglichen“ in Versform ausgeführten Jahresrückblick, den die Bremer Nachrichten am 30. Dezember 1961 veröffentlichten, endet fast jede Monatszusammenfassung mit der Zeile: „Doch der Marktbebauungsstreit dauert an mit Heftigkeit.“
Dabei schien doch schon im Frühjahr alles geklärt zu sein. Am 14. April hatte Bürgerschaftspräsident August Hagedorn das Ergebnis einer zweiten Überarbeitungsrunde beim Architekturwettbewerb um den Neubau des Hauses der Bürgerschaft verkündet: Der Entwurf des Berliner Architekten Wassili Luckhardt solle nun zur Ausführung gelangen. Hagedorn stützte sich dabei auf das einstimmige Votum aller am Wettbewerbsverfahren beteiligten Fachleute, darunter namhafte Architekten aus anderen Städten. Am 9. Mai wurden in der Unteren Rathaushalle die Wettbewerbsarbeiten vorgestellt. Ende Mai erteilte Hagedorn Luckhardt den Bauauftrag. Damit schien eine rund zwei Jahre währende heftige Auseinandersetzung um die Bebauung der Ostseite des Marktplatzes beendet zu sein.
Rückblick: Im Mai 1959 wurde ein bundesweit ausgeschriebener Architekturwettbewerb für den Bau des neuen Parlamentsgebäudes auf einem Teil des Grundstücks der im Krieg zerstörten Börse entschieden. Es gab drei gleichwertige Preisträger, wobei sich die rasch einsetzende öffentliche Debatte auf die Entwürfe von Gerhard Müller-Menckens und Wassili Luckhardt zuspitzte. Zu einer Überarbeitung bei modifiziertem Raumprogramm wurden auch nur noch diese beiden Architekten aufgefordert.
Obwohl in der funktionalen Grundordnung einander ähnlich, verkörperten die beiden Arbeiten architektonisch entgegengesetzte Richtungen. Der damals 70-jährige Luckhardt, der bereits in den 1920er-Jahren zu den Pionieren der modernen Architektur zählte, präsentierte ein konsequent modern anmutendes Gebäude. Der Entwurf seines fast 30 Jahre jüngeren Bremer Kollegen versuchte sich vor allem mit steilen Walmdächern an die Formensprache der Umgebung anzupassen, was die einen als gelungenes Beispiel bremischer Zurückhaltung empfanden, den anderen dagegen allzu bieder daherkam. Die Öffentlichkeit schaltete sich ein, die Leserbriefspalten waren voll mit Statements für die eine oder die andere Lösung. Auch die erste Überarbeitungsphase brachte keine Lösung. Schließlich konkurrierten die beiden Kontrahenten in einer dritten Überarbeitungsrunde mit Entwürfen der national bekannten Architekten Sep Ruf und Rudolf Schwarz.
Zugeständnis an den bremischen Geschmack
In dieser ging Luckhardt als eindeutiger Sieger hervor, weil er funktional die beste Lösung präsentierte und auch dem bremischen Geschmack mit seiner neuen Marktfassade entgegenkam, die mit einem Faltdach Giebelandeutungen machte – ein Reflex auf die Giebelfront der gegenüberliegenden Westseite des Platzes (mehr zur Vorgeschichte der Planungen für das Haus der Bürgerschaft). Doch wer glaubte, der Streit um die Marktbebauung sei mit diesem Expertenurteil geschlichtet, irrte sich. In einem den Tageszeitungen am 6. Juni beiliegenden Flugblatt wurde die Bremer Bevölkerung dazu aufgefordert, gegen den Luckhardt-Entwurf zu stimmen.
Als Alternative galt jetzt nicht mehr der Entwurf von Müller-Menckens, sondern der Vorschlag, vier historische Giebel wiederaufzubauen. Davon gehörten zwei (Haus Balleer und Haus Pundsack) zu Bauten, die rund 100 Jahre zuvor dem Bau der Börse weichen mussten und nach alten Plänen rekonstruiert werden sollten. Die beiden anderen waren Opfer von Kriegszerstörung (Sonnenapotheke) und Nachkriegsplanungen (Haus Caesar) geworden und in Teilen erhalten geblieben waren. Was sich hinter den Fassaden befinden sollte, war zweitrangig, denn: „Es geht um den Marktplatz, nicht um das Parlamentsgebäude!“
Verfasser des Aufrufs war die „Bremische Gesellschaft Lüder-von-Bentheim“, ein Verein von Honoratioren aus dem lokalen Kultur- und Wirtschaftsleben. Die nach dem Baumeister der Rathausfassade benannte Gesellschaft war 1958 mit dem Ziel wiedergegründet worden, bremisches Kulturgut zu erhalten und hatte sich für den Wiederaufbau der Kirchtürme und der Stadtwaage auch finanziell engagiert.
Drei Tage nach dem Aufruf konnte die Initiatoren stolz das Umfrageergebnis präsentieren: 52.889 hatten sich für die historischen Fassaden und nur 2.064 für den Luckhardt-Entwurf ausgesprochen. K.W. Koenenkamp, der Präsident der Gesellschaft verkündete: „Es gibt nur einen einzigen `Sachverständigen´ für die Gestaltung des bremischen Marktplatzes: das ist das Herz des Bremers!“ Schon war der Streit erneut entbrannt und die „kritischen Briefe zur Marktbebauung“ füllten wieder die Seiten der Tageszeitungen. Auch Prominenz mischte sich ein: Der Schriftsteller Manfred Hausmann erklärte demonstrativ seinen Austritt aus der Gesellschaft, weil er ihre „Zuflucht zu synthetischen Altertümern“ nicht teilen wollte. Der Schriftsteller und Architekt Rudolf Alexander Schröder, ebenfalls Mitglied, begrüßte dagegen die Aktion ausdrücklich.
Denkmalpflege auf Rädern
Einwände, es handele sich um reine Kulissenarchitektur, die sowohl den Inhalt als auch die Dreidimensionalität der Bauwerke außer Acht ließe, konterte Koenenkamp mit Beispielen der Marktbebauung: Sowohl das Deutsche Haus von Rudolf Jacobs als auch das Sparkassengebäude von Eberhard Gildemeister verwendeten historische Fassaden und Bauteile in schöpferischer Interpretation, warum könnte man dies nicht auch an der Ostseite des Platzes aufnehmen.
In der Tat war die sogenannte „Denkmalpflege auf Rädern“ und schöpferische Rekonstruktionen durchaus gängige Praxis in manchen kriegszerstörten Städte – man denke an den Prinzipalmarkt in Münster. Eine solche „Denkmalsinsel“ am Markt schwebte auch den Bremer Initiatoren vor. Dass nur wenige Meter weiter mit der so genannten Ostumfahrung eine breite Verkehrsschneise in die Altstadt gefräst wurde, war dabei offensichtlich wenig von Belang. Zynisch gesagt lieferte sie sogar Rekonstruktionsmaterial. Das in diesem Zuge abgerissene Caesarsche Haus am Domshof tauchte in einem überarbeiteten Entwurf, den die Gesellschaft im Oktober vorstellte, gleich doppelt auf: mit seiner Straßen- und Rückfront. Damit wollte man sich gegen den Vorwurf wehren, dass hier Fassaden komplett rekonstruiert würden.
Die Gesellschaft scheute keinen finanziellen Aufwand zur Verwirklichung ihrer Ziele. In ganzseitigen Anzeigen attackierte sie in den Tageszeitungen Bürgerschaftspräsident Hagedorn. Und um den Willen der Bremer Bevölkerung wissenschaftlich seriöser zu unterstreichen, finanzierte sie eine Emnid-Umfrage, die in November veröffentlich wurde: 84 Prozent sprachen sich für die Giebel aus.
Doch Hagedorn ließ sich von der Kampagne wenig beeindrucken. Er hielt weiter an Luckhardt fest, der ebenfalls im November eine letzte Überarbeitung seines Entwurfs präsentierte. Als das Modell in einer Vitrine auf dem Marktplatz der Öffentlichkeit vorgestellt wurde, beantragte die Gesellschaft, auch ihren Gegenentwurf hier vorstellen zu können. Am 8. Dezember stand eine zweite Vitrine mit dem kolorierten Gipsmodell der Giebelhäuser neben dem Luckhardt-Entwurf. Heute kann man es noch, etwas angestaubt, in den Regalen der Modellbauabteilung beim Bausenator entdecken. Im August 1962 wurde mit dem Abriss der Börsenruine der Weg für den Neubau des Hauses der Bürgerschaft frei gemacht.