Vor 150 Jahren wurde das Hauptgemälde in der Neuen Börse enthüllt – nach heftiger Fehde

Als vielleicht bestgehütetes Geheimnis Bremens konnte das entstehende Wandbild in der Neuen Börse gelten. Ziemlich genau vier Monate arbeitete der damals 27-jährige Historienmaler Peter Janssen aus Düsseldorf an seinem Werk, ein großer Vorhang schirmte es vor allzu neugierigen Blicken. Doch vor 150 Jahren, am 3. August 1872, hatte die Geheimniskrämerei ein Ende. Feierlich enthüllte der Präses der Handelskammer, Christian Hermann Noltenius, das monumentale Gemälde im südlichen Giebelfeld des Börsensaals. Von der Galerie aus richtete er das Wort an die „geehrten Herren“.

Malte das Börsenbild: Peter Janssen.
Quelle: Wikimedia Commons

Mit „einiger Spannung“, so Noltenius, habe man dem Tag der Enthüllung entgegengesehen. So ganz überraschend kann das Motiv freilich nicht gewesen sein. Denn seit einer erbitterten Kontroverse im Frühjahr 1870 war die Öffentlichkeit über die favorisierte Themenwahl im wahrsten Wortsinne im Bilde. Das Hauptgemälde der Börse stellte die Gründung Rigas dar, heute die Hauptstadt Lettlands. Ein etwas seltsam anmutender Gegenstand, war Bremen als Handelsstadt traditionell doch eher nach Norden und Westen ausgerichtet. Am Ende setzte sich der Mann durch, der das Werk finanziert hatte: der Bremer Reeder Christian Heinrich Wätjen.

Als Nachfolgebau der Alten Börse auf dem Liebfrauenkirchhof war die Neue Börse von 1861 bis 1864 an der Ostseite des Marktplatzes errichtet worden, heute der Standort der Bürgerschaft. Ein raumgreifendes Monumentalgebäude nach Plänen des Architekten Heinrich Müller im historistischen Stil der Neugotik – dem „deutschen Stil“, wie Müller gern sagte. Nach der Fertigstellung kam allerdings die Innenausstattung nicht recht voran, jahrelang gab es nur kahle Wände zu sehen (mehr dazu hier).

Das änderte sich erst, als der preußische König Wilhelm I. im Juni 1869 nach Bremen kam. Zu seinen Ehren fertigte der Maler Otto Knille in aller Eile ein acht mal sieben Meter großes Bild an mit dem Titel „Die Huldigung der Hansestädte für die Borussia“ an. Borussia ist die lateinische Bezeichnung für Preußen, eine damals  populäre Wendung. Als das Provisorium wieder entfernt wurde, fiel die gähnende Leere umso deutlicher ins Auge. Eine etwas peinliche Situation, die Handelskammer startete deshalb eine Spendenaktion unter den Kaufleuten.

Über ein passendes Motiv hatte man sich schon früher den Kopf zerbrochen. Wie Hans Gerhard Steimer im Bremischen Jahrbuch schreibt, plädierte der allseits geschätzte „Marschendichter“ Hermann Allmers für die Entdeckung Amerikas als Wandschmuck. Offenbar auf sein Betreiben legte der Borussia-Maler Knille bereits im Winter 1864 eine entsprechende Skizze mit Kolumbus als Fahnenträger vor. Zur Begründung erklärte der einflussreiche Künstlerverein: „Es ist dies der entscheidende Wendepunkt der Handelsgeschichte, der die neue Welt erschließt und die alte Welt neu macht, der große Anfang der modernen Zeit: die erste Landung der Europäer in Amerika, Columbus der Entdecker.“

Umstrittener Monumentalbau: die Neue Börse von Heinrich Müller um1880, im Hintergrund der noch nicht sanierte Dom.
Quelle: Staatsarchiv Bremen

Allerdings stieß die Kolumbus-Skizze von Knille nicht auf ungeteilten Beifall. Vielleicht war das der Grund für den langen Stillstand, ehe der Spendenaufruf Wätjen auf den Plan rief. Sein Finanzierungsangebot war jedoch an Bedingungen geknüpft – er verlangte, „daß ihm die Wahl des Künstlers und des Gegenstands verbleibe“. Mit Janssen war der Reeder entfernt verwandt, das mag seine Entscheidung beeinflusst haben. Wie Wätjen auf das Riga-Motiv kam, ist nicht ganz klar. Steimer vermutet als Ideengeber den damaligen Stadtbibliothekar Johann Georg Kohl, der als Hauslehrer sieben Jahre im Baltikum gelebt hatte. Kohl habe mit dem bremisch-baltischen Denkmal „schlicht eine persönliche Dankesschuld abtragen“ wollen.

Wirklich goutiert wurde Wätjens Alleingang nicht. Als die Weser-Zeitung am 4. Februar 1870 die Riga-Gründung als Motiv und Janssen als Maler publik machte, blies Allmers zum Sturm. Seinem Freund, dem Bildhauer Diedrich Samuel Kropp, schrieb er: „Unser Feldgeschrei heißt ‚Riga muß fallen‘ unsere Losung: Janssen zu Hause bleiben oder was Anderes machen.“ Immerhin, mit Janssen, der damals erst am Beginn seiner Karriere stand, hätte man sich noch anfreunden können, nur eben nicht mit dem als abwegig empfundenen Motiv. Hätte sich Wätjen auf die Entdeckung Amerikas eingelassen, wären in Bremen gleich zwei Großgemälde mit transatlantischer Thematik zu bewundern gewesen – hing doch seit den frühen 1860er-Jahren in der Kunsthalle „Washington Crossing The Delaware“ von Emanuel Leutze (mehr dazu hier).

Ein umstrittenes Motiv: Das Hauptgemälde von Peter Janssen in der Neuen Börse illustrierte statt der Entdeckung Amerikas die sogenannte Ostkolonisation. 
Quelle: Handelskammer Bremen

Tatsächlich war man sich schon damals im Klaren darüber, dass die Beteiligung Bremer Kaufleute an der Gründung Rigas eine lokalpatriotische Legende darstellte. Historisch zu belegen ist nur die Gründung Rigas durch den Bremer Bischof Albert im Jahr 1201. Mit Kaufmannsgeist hat das nichts zu tun, allenfalls mit einem in Bremen neu erwachten Missionsgeist. Dass die Hansestädte Riga und Bremen seit Jahrhunderten eng verbunden sind, spielte in der Debatte keine Rolle. Auch nicht die „Compagnie der Schwarzen Häupter“ – die uralte Rigaer Kaufmannsbruderschaft hat erst seit 1980 ihren Sitz in der Bremer Handelskammer.

Für das Hauptgemälde könne es „nur einen Stoff“ geben, hieß es ohne Umschweife in der Stellungnahme des Künstlervereins – nämlich die Entdeckung Amerikas. Irgendein lokalhistorisches Ereignis kam als Blickfang also nicht in Betracht. Das wäre aus Sicht des Künstlervereins provinziell gewesen, es musste schon ein Hauch von Weltgeschichte durch das Gebäude wehen. Mit seiner Einschätzung stand der Künstlerverein keineswegs allein da. Schon bald nach Bekanntwerden der Wätjen-Pläne ging es im Frühjahr 1870 hoch her im Bremer Blätterwald. „Für drei Monate beherrschte der Bilderstreit das Feuilleton der Tagespresse“, bilanziert Steimer. Gegner wie Befürworter des Riga-Motivs mobilisierten ihre Anhänger, in rund 30 Beiträgen kreuzten sie ihre Klingen.

Im April 1870 präsentierte der übergangene Künstlerverein ein Gesamtkonzept, das Steimer dem damals 29-jährigen Maler Arthur Fitger zuschreibt, einem auch rhetorisch beschlagenen Newcomer in Bremen. Der Kompromissvorschlag: Das Amerikabild als Hauptbild, dafür die Gründung Rigas als Teil eines historischen Zyklus im Treppenhaus. Sogar der vormalige Vizepräsident des Livländischen Hofgerichts, Woldemar von Bock, meldete sich zu Wort. Sein Kommentar: Eine „an die Wand gemalte patriotisch-nationale Mythe“ sei „doch immer noch erhebender als das an die Wand gemalte Geschäft“.

Doch es gab auch Stimmen, die sich für ein ganz anderes Motiv einsetzten. Gegen „mittelalterliche Seefahrer, Krieger, Geistliche, halbnackte Esthen und rothe Indianer“ stänkerte im Februar 1870 ein Kritiker im „Courier“. Seine Empfehlung lautete, die Gründung Bremerhavens bildlich darzustellen. Der in Italien weilende Mäzen Wätjen blieb unterdessen vom öffentlichen Gegenwind unbeeindruckt, kein einziges Mal ließ er Gesprächsbereitschaft erkennen. In einem Brief an Allmers reagierte er allerdings gekränkt darauf, dass man ihm jegliches Urteilsvermögen absprach.

In einem Brief an Joseph Arnold Hachez, Schwiegersohn von Christian Heinrich Wätjen und Prokurist in dessen Reederei, meldete der Maler Peter Janssen die Vollendung des Börsenbilds.
Quelle: Handelskammer Bremen

So nahm denn die Ausschmückung des Börsensaals wie vorgesehen ihren Lauf. Daran änderte auch der Deutsch-Französische Krieg 1870/71 nichts. Zwar war Allmers überzeugt, dass „weder Riga noch Columbus“ jetzt noch ihre Berechtigung hätten. „Nach solchen großen Ereignissen darf Bremen nur allein diesen Rechnung tragen“, schrieb Allmers kurz nach der Reichsgründung im Februar 1871 an Knille. Was ihm vorschwebte, weiß man nicht, womöglich ein Kriegsgemälde wie das der Schlacht bei Loigny, das ab 1884 in der Oberen Rathaushalle hing (mehr dazu hier).

Von Anfang an machte Janssen keinen Hehl daraus, dass Bremen wegen anderer Verpflichtungen noch warten müsse – sehr zum Kummer von Handelskammer-Präses Noltenius. Im Februar 1870 klagte er, Janssen nehme „einen ziemlichen Zeitraum in Anspruch“. Die avisierten drei Jahre bis zur Vollendung behagten ihm ganz und gar nicht. Eine erste Bleistiftskizze hatte der junge Künstler bereits im Januar 1870 vorgelegt, im Frühjahr 1871 folgte ein Kartonentwurf.

Wie aus einem erhaltenen Brief im Archiv der Handelskammer hervorgeht, wollte Janssen eigentlich schon im Februar 1872 anfangen, er verschob den Termin aber wegen der schlechten Lichtverhältnisse auf Ostern. „Dieser kleine Aufschub ist in Ihrem und meinem Interesse durchaus nöthig“, teilte er Wätjen am 6. Januar 1872 mit. „Beim nächsten Neujahrsfeste steht nach menschlicher Berechnung Ihr Bild fertig in der Börse.“ Ganz so lange dauerte es dann bekanntlich doch nicht, am 1. August 1872 vermeldete Janssen die Vollendung des 7,80 Meter hohen Wandgemäldes. Ans Werk machte sich Janssen nicht allein, sein Vetter Peter Hasenclever stand ihm zur Seite.

Richtig zufrieden war Janssen mit seiner Arbeit indessen nicht. In seinen Erinnerungen schreibt er, das Gemälde sei nicht nach Wunsch geraten. Der Kunsthistoriker Dietrich Bieber stuft es denn auch als „epigonale Leistung“ ein – der Nachwuchsmann orientierte sich damals noch zu sehr an älteren Vorbildern aus der Düsseldorfer Schule. Dennoch bricht Bieber nicht in Gänze den Stab über Janssen, zeigten sich im Riga-Gemälde doch erstmals realistische Züge und damit ein eigener Stil. In den Bauleuten mit „ihrer ausgeprägten, fast übertriebenen Muskulatur“ sieht er noch Idealtypen des handwerklich arbeitenden Menschen. Dagegen in den schweigenden Russen schon Produkte eines realistischen Modellstudiums.

Die Neue Börse ersetzte die Alte Börse auf dem Liebfrauenkirchhof. Das Gebäude brannte 1888 ab. Im Hintergrund zu sehen: die Türme der St. Ansgarii-Kirche (links) und Liebfrauen-Kirche (rechts).
Quelle: Wikicommons

Von Riga war in der riesigen Bildunterschrift nicht mehr die Rede. Stattdessen stand dort geschrieben: „Colonisation der Ostsee-Provinzen durch die Hansa. 1201“. Damit änderte man die Janssen-Version, in einem Brief an den Wätjen-Schwiegersohn Joseph Arnold Hachez sprach der Maler noch von „Die Anfänge der Colonisation in den Ostsee-Provinzen“. Laut Steimer tilgte man angesichts der historischen Zweifel die Namen Bremen und Riga ganz bewusst und wählte mit „Colonisation“ einen neutralen Begriff. In seinen Augen eine „von niemandem bemerkte Fehlleistung“, ein „rückwärtsgewandtes Menetekel“, weil die sogenannte Ostkolonisation sich über Generationen vollzogen habe, die Jahreszahl aber die Gründung Rigas markiere.

Darüber muss sich heute keiner mehr wundern. Bei einem Bombenangriff im Dezember 1943 brannte die Neue Börse aus, auch das Janssen-Gemälde wurde dabei zerstört. Erhalten blieben dagegen die von 1880 bis 1882 angefertigten Wandgemälde Fitgers im Treppenhaus, noch vor Kriegsende wurden sie zum Schutz vor der Witterung mit Schutzhüllen umgeben. Beim Abriss der Börsenruine im Sommer 1955 wurde laut Berichterstattung des WESER-KURIER das Hauptbild geborgen, es zeigt ein Bremer Vollschiff in Begleitung des Meeresgottes Neptun.

Wo das Fitger-Gemälde geblieben ist, lässt sich nicht sicher sagen, seine Spur hat sich verloren. Nicht auszuschließen, dass es sich in einem Lager der Landesdenkmalpflege im Hafenbereich befindet. Dort stehen zumindest mehrere Objekte, die auf einer Art Gitterrost gesichert sind, aber nicht mehr ohne weiteres identifiziert werden können. Es sei keine Aufschrift vorhanden, sagt Uwe Schwartz von der Landesdenkmalpflege. Um sich Klarheit zu verschaffen, müsse man schon ein wenig Geld in die Hand nehmen – sicher ein lohnendes Unterfangen.

Blick in den Großen Saal der Neuen Börse am Markt, im Hintergrund: das Hauptbild der Ostsee-Kolonisation von Peter Janssen.
Quelle: Handelskammer Bremen

Jung, aber mit viel Geschichte

50 Jahre
Universität Bremen

50 Jahre sind seit der Gründung der Universität Bremen vergangen. Auf dem Weg von der vermeintlichen roten Kaderschmiede zur Exzellenzuniversität ist viel passiert: Wir haben den ersten sowie den aktuellen Rektor interviewt und mit Absolventen gesprochen – zu denen auch Bürgermeister Andreas Bovenschulte gehört. Zudem hat uns ein Architekt über den Campus begleitet. Das Magazin der Reihe WK | Geschichte gibt es ab 18. September in den ­Kundenzentren des WESER-­KURIER, im Buch- und Zeitschriftenhandel, online unter www.weser-kurier.de/shop und unter 0421 / 36 71 66 16.

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