Zum 125. Todestag von Heinrich Müller: der Architekt der Neuen Börse galt als führender Vertreter des neugotischen Baustils

Als Architekt prägte Heinrich Müller (1819 bis 1890) die Jahre des Historismus in Bremen. Quelle: Bremen und seine Bauten, 1900

Als Architekt prägte Heinrich Müller (1819 bis 1890) die Jahre des Historismus in Bremen. Quelle: Bremen und seine Bauten, 1900

Viele Jahre war Heinrich Müller der wohl gefragteste Architekt in Bremen. Seine Spezialität: der neugotische Stil, wie er sich im neuen Börsengebäude oder der Remberti-Kirche manifestierte. Als Müller im März 1890 starb, wies man ihm eine Ausnahmestellung zu – den Zeitgenossen galt er als „kühner Erneuerer“. Doch schon wenige Jahre später verblasste sein Ruhm, heute ist sein Name allenfalls noch in Expertenkreisen bekannt.    

In den Vormittagsstunden des 8. März 1890 suchte Hanke Diedrich Müller das Standesamt auf. Fein säuberlich brachte der zuständige Beamte zu Papier, was Müller zu melden hatte. Es war keine frohe Botschaft. Sein Bruder, so gab der 61-Jährige zu Protokoll, der Architekt Heinrich Müller, sei in der Nacht um drei Uhr gestorben. Der Ordnung halber fügte der Staatsdiener noch hinzu: „Der Anzeigende erklärte, daß er die Leiche gesehen habe.“

Nur wenige Stunden später brachte die Morgenausgabe der renommierten „Weser-Zeitung“ die Todesnachricht als Topmeldung auf der Titelseite. Von seinem „langen, schweren Leiden“, so hieß es da, sei Müller durch den Tod erlöst worden. Auch die Trauerfeier drei Tage später und eine Gedächtnisfeier, die der Künstlerverein zu Ehren seines dahingegangenen Präsidenten am 27. März abhielt, füllten die ersten Seiten der „Weser-Zeitung“. Kein Zweifel, Mitteilungen über Heinrich Müller hatten in jenen Märztagen einen hohen Nachrichtenwert.

Die von 1861 bis 1864 errichtete Neue Börse am Markt (heute Standort der Bürgerschaft) galt als Müllers „Hauptwerk“. Quelle: Bremen und seine Bauten, 1900

Die von 1861 bis 1864 errichtete Neue Börse am Markt (heute Standort der Bürgerschaft) galt als Müllers „Hauptwerk“. Quelle: Bremen und seine Bauten, 1900

Es scheint, als habe Bremen damals für einen kurzen Augenblick innegehalten. Ganz so wie es meistens ist, wenn hochgeschätzte Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens für immer abtreten. Heinrich Müller erfuhr ein ungeheures Maß an Wertschätzung, reichlich Beifall gab es vor allem für das „Hauptwerk seines Lebens“, den neugotischen Börsenbau am Markt. In „herrlicher Steinschrift“ habe er seinen Namen eingetragen in die Annalen seiner Vaterstadt. Für alle Zeiten, so rief man ihm nach, hätten seine Bauten dem Zentrum Bremens ihren Stempel aufgedrückt. Als „kühner Erneuerer“ sei ihm ein Platz in der Geschichte sicher.

Doch es sollte anders kommen, 125 Jahre nach seinem Tod ist der einstige Stararchitekt gründlich vergessen: Kein Straßenname erinnert an ihn, viele seiner Bauwerke haben die Zeitläufte nicht überstanden, sind dem Bombenkrieg zum Opfer gefallen oder als Relikte einer überwundenen Stilepoche abgerissen worden.

Die Börse als „Hauptwerk seines Lebens“

Das Bremer Debütwerk Heinrich Müllers im Stil der Neorenaissance: Hillmanns Hotel (1850). Quelle: Bremen und seine Bauten, 1900

Das Bremer Debütwerk Heinrich Müllers im Stil der Neorenaissance: Hillmanns Hotel (1850). Quelle: Bremen und seine Bauten, 1900

Gerade mit der Börse, dem „Hauptwerk seines Lebens“, konnten spätere Generationen nichts mehr anfangen. Was einst als „Wendepunkt“ der Bremer Architekturgeschichte gegolten hatte, erntete nur noch verächtliches Schulterzucken. Als die Börsenruine zehn Jahre nach Kriegsende abgerissen wurde, weinte ihr niemand eine Träne nach. Kein Wort mehr von den einstigen Lobeshymnen, vielmehr galt das vordem so hochgepriesene Bauwerk als vortreffliches Beispiel für „die Öde und Leblosigkeit der empfindungslosen Neugotik“.

Vom umjubelten Erneuerer zur persona non grata: posthum eine beträchtliche Fallhöhe für den früheren Stararchitekten.

Wie ist das zu erklären? Woher der rapide Bedeutungsverlust, und zwar nicht erst Jahrzehnte nach seinem Tod, sondern schon bald danach – schon vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs begann sein Ruhm zu bröckeln, wurde der bleibende Wert seiner Bauten relativiert.

Nur zwei Jahre nach Hillmanns Hotel gebaut und doch ganz anders: das Wohn- und Geschäftshaus des Weinhändlers von Kapff direkt an der Weser im Stil der Tudor-Gotik (1852). Quelle: Bremen und seine Bauten, 1900

Nur zwei Jahre nach Hillmanns Hotel gebaut und doch ganz anders: das Wohn- und Geschäftshaus des Weinhändlers von Kapff direkt an der Weser im Stil der Tudor-Gotik (1852). Quelle: Bremen und seine Bauten, 1900

Dabei stießen ausgerechnet seine neugotischen Hinterlassenschaften auf Kritik. Als unausgegoren kanzelte der Architekt Eduard Gildemeister 1912 Müllers gotische Baukunst ab. Aus eigenem Kraftgefühl habe Müller manches ersetzt, „was ihm wohl an tieferem Erfassen des Geistes jener Kunstepochen gebrach“. Weitaus besser kam weg, was er sonst noch vorzuweisen hatte. „Von seinen Bauten bestehen vor dem heutigen Urteil die Wohnhäuser klassischen Stils wohl am besten“, befand Gildemeister, selbst ein erklärter Anhänger des Neoklassizismus.

Müller konnte mehr als nur Neugotik

Tatsächlich konnte Müller mehr als nur Neugotik. Nach seinen Studienjahren in München und Berlin beherrschte er auch die andere, damals sehr populäre Spielart des Historismus: den Baustil der Neorenaissance. Der schlug sich sehr prägnant in seiner ersten Bremer Arbeit nieder, Hillmanns Hotel am Herdentorsteinweg (1850). Das Gleiche gilt für den Museumsbau am Domshof (1874). Seine Vielseitigkeit stellte er nicht zuletzt beim Bau zahlreicher Wohnhäuser unter Beweis, ohne Probleme bediente er die Stilrichtungen des Neoklassizismus und der Neorenaissance. Sogar den geradezu filigranen Stil des Schweizer Landhauses beherrschte Müller – die Meierei im Bürgerpark (1879/80) stellt das eindrucksvoll unter Beweis.

Doch sein Herz gehörte der Gotik. Und zwar auch dann noch, als selbst den engstirnigsten Nationalisten dämmerte, dass ihre Wurzeln weit eher in Frankreich als in Deutschland zu suchen seien. „Er stand seit seiner Münchener Schülerzeit und blieb auch später beständig unter der irrigen Vorstellung, daß die Gothik der echteste architektonische Ausdruck germanischen Geistes sei“, erinnerte sich ein bekannter Müller-Kritiker, der Historiker Wilhelm von Bippen.

Dem Erdboden gleichgemacht: Für die historischen Giebelbauten an der Ostseite des Marktplatzes war die Zeit abgelaufen, als der Börsenneubau beschlossen wurde. Quelle: Wikicommons

Dem Erdboden gleichgemacht: Für die historischen Giebelbauten an der Ostseite des Marktplatzes war die Zeit abgelaufen, als der Börsenneubau beschlossen wurde. Quelle: Wikicommons

Diese Vorliebe für die vermeintliche Architektur der Vorväter konnte ihn zu gravierenden Trugschlüssen verleiten. So etwa, als er partout den romanischen Charakter des Doms nicht wahrhaben wollte und bei der Renovierung eine gotische Frontgestaltung forderte. Erst nach „einem lebhaften Kampfe“ machte ihm Bippen einen Strich durch die Rechnung. Das dürfte Müller ziemlich gewurmt haben, war er es doch sonst gewohnt, seinen Willen durchzusetzen. Über seinen Einsatz für den Börsenbau am Markt heißt es im typisch pathetischen Stil der Zeit, mit „urwüchsigem Ingrimm“ habe er jeglichen Widerstand niedergeschlagen.

Den Stil der Innenstadt geprägt

Im Gegensatz zur Rembertikirche hat sich Müllers erster Sakralbau, die Kirche in Oberneuland (1860), bis zum heutigen Tag erhalten. Foto: Frank Hethey

Im Gegensatz zur Rembertikirche hat sich Müllers erster Sakralbau, die Kirche in Oberneuland (1860), bis zum heutigen Tag erhalten. Foto: Frank Hethey

Neugotisch waren seine bekanntesten Bauwerke. Zu nennen wäre da vor allem das Wohn- und Geschäftshaus des Weinhändlers von Kapff direkt an der Weser (1852), eine wahre Trutzburg im Stil der Tudor-Gotik. Oder der Saalumbau für den Künstlerverein (1869/76), heute Standort der Glocke. Nicht zu vergessen zwei Sakralbauten, die im Bombenkrieg zerstörte St. Remberti-Kirche (1869-71) und die noch existierende Kirche in seinem Geburtsort Oberneuland (1860).

Im Stadtbild waren Müllers neugotische Bauten nicht zu übersehen. Das galt vor allem für den Innenstadtbereich. Wer von der Domsheide den Blick in Richtung Rathaus und Marktplatz wandte, sah rechts die Handschrift des Meisters an den Gebäuden des Künstlervereins und links die bis heute erhaltene halbrunde Rückseite des Börsennebengebäudes – ein ziemlich dominanter Eindruck. In Anlehnung an den Werbeslogan eines bekannten Unternehmens der Lebensmittelindustrie möchte man ausrufen: „Alles Müller oder was!?“

Tatsächlich konnte sich der Architekt vor Aufträgen kaum retten, zusammen mit dem Bildhauer Diedrich Samuel Kropp und dem Maler Arthur Fitger bildete er ein bewährtes Team. Sich neben diesem Trio zu behaupten, war alles andere als einfach. Wer als Neugotiker neben Müller bestehen wollte, hatte ein schweres Spiel. Davon konnte Simon Loschen ein Lied singen; außer der Bremerhavener Kirche und der Friedenskirche an der Humboldtstraße brachte er nicht viel zustande. Man tat klug daran, Müllers Kreise nicht zu stören. So wie der Oldenburger Ernst Klingenberg, der sich schon nach wenigen Jahren aus Bremen wieder verabschiedete.

Keine Rücksicht auf gotische Originale

Nicht Müllers Ding: die ursprüngliche Fassadengestaltung des Domanbaus, hier auf einem Stahlstich um 1850. Quelle: Bremen und seine Bauten, 1900

Nicht Müllers Ding: die ursprüngliche Fassadengestaltung des Domanbaus, hier auf einem Stahlstich um 1850. Quelle: Bremen und seine Bauten, 1900

Dabei war es eine Ironie der Geschichte, dass Müller keinerlei Rücksicht auf gotische Originalbauten nahm. Bedenkenlos opferte er sie seinen neugotischen Großprojekten. Das war schon so beim Bau der Neuen Börse (1861-64). Insgesamt 18 alte Giebelhäuser mussten dem Monumentalbau weichen, darunter mit dem Baleerschen Haus ein Gebäude im gotischen Stil, das als besonders kunstvolles Zeugnis seiner Zeit galt. Nicht viel anders verhielt es sich beim Saalbau für den Künstlerverein (1869): Den gotischen Treppengiebel ersetzte Müller ohne viel Federlesen durch ein neugotisches Imitat. Kaum weniger rigoros sprang er mit dem benachbarten Domkapitelhaus um, dem er kurzerhand eine neugotische Fassade verpasste (1876).

Eine merkwürdige Mentalität: sich für einen historischen Baustil auf dessen Kosten zu begeistern. Die Verfechter des neugotischen Historismus verteidigten sich mit dem Argument, es komme darauf an, das Alte in zeitgemäßer Form neu zu beleben. Dagegen kreidete Kunsthallen-Direktor Gustav Pauli den historistischen Architekten bereits 1901 an, sie seien offenbar der Ansicht, alles besser zu können, „vielleicht sogar besser als die Steinhauer und Bildschnitzer des sechzehnten Jahrhunderts“.

In Müllers Augen schon besser: Mit der neugotischen Fassade des Saalbaus für den Künstlerverein (1869) setzte der Architekt ein erstes Zeichen. Quelle: Wikicommons

In Müllers Augen schon besser: Mit der neugotischen Fassade des Saalbaus für den Künstlerverein (1869) setzte der Architekt ein erstes Zeichen. Quelle: Wikicommons

Pauli stand an der Spitze einer Gegenbewegung, die sich für den Erhalt historischer Bauten einsetzte. Nur gut zehn Jahre nach Müllers Tod kündigte sich mit dem stetig wachsenden Bewusstsein für den Wert historischer Bausubstanz das Ende des Historismus an. Zwar lebte der noch eine Weile fort, wurden noch immer ganze Häuserblöcke dem Erdboden gleichgemacht, um Platz zu schaffen für historistische Monumentalbauten wie das Gerichtsgebäude (1891-95), die Baumwollbörse (1900-02) oder das Lloydgebäude (1901-10).

Zeit des Historismus abgelaufen

Doch zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die Zeit des Historismus abgelaufen. Immer gigantischer, immer pompöser wurden die historistischen Bauwerke – eine fast spätbarocke Überfrachtung mit dekorativen Fassadenelementen wirkte wie ein letztes Aufbäumen vor dem Ende. Bezeichnend genug, dass vom Neubau der Baumwollbörse immer mal wieder Stuckteile auf den Bürgersteig fielen.

Heinrich Müller hätte das kaum verstanden. Als Künstler suchte er eine architektonische Visitenkarte für das neue deutsche Kaiserreich. Die Neugotik hatte zweifellos das Zeug dafür. Erst in seinen späten Jahren, als die Neugotik als eher französisches Kulturerbe „entlarvt“ wurde, scheint Müller die eigenen Präferenzen überdacht zu haben. Vom Historismus ließ er natürlich nicht ab, näherte sich aber der deutschen Renaissance an. Als sie in den 1870er Jahren wiederbelebt wurde, rief er begeistert aus: „Jetzt haben wir endlich einen Stil!“

Auf dem Riensberger Friedhof fand Heinrich Müller seine letzte Ruhe - unter einem Grabstein, der klassizistisch und nicht neugotisch gehalten ist. Foto: Frank Hethey

Auf dem Riensberger Friedhof fand Heinrich Müller seine letzte Ruhe – unter einem Grabstein, der klassizistisch und nicht neugotisch gehalten ist. Foto: Frank Hethey

Als joviale Frohnatur wusste der trinkfeste Müller die Menschen für sich einzunehmen. Berühmt-berüchtigt waren die Zechgelage in seinem Haus am Rembertikirchhof. Ob ihn seine Vorliebe für edle Schlückchen ins Grab brachte, lässt sich kaum entscheiden – im amtlichen Totenschein ist keine Ursache für sein Ableben angegeben.

Unter den Zeitgenossen wurde jedenfalls etwas anderes kolportiert: Ein langwieriges Brustleiden soll seine Gesundheit ruiniert haben. Das habe er sich zwei Jahre vor seinem Tod zugezogen, heißt es in der damaligen Berichterstattung, im März 1888 beim Begräbnis des von ihm verehrten Kaisers Wilhelm I. in Berlin. Der getreue Paladin folgt seinem Gebieter in den Tod – ein anrührendes Bild, das mit einiger Sicherheit auch deshalb so eifrig verwendet wurde, weil es Müllers Selbstverständnis als nationalbeflissenen Architekten illustrierte.

Die Vollendung seines letzten Werks, des Aussichtsturms im Bürgerpark, erlebte Müller nicht mehr. Aufgebahrt wurde er in „seiner“ Kirche – der von ihm geschaffenen Rembertikirche in direkter Nachbarschaft zu seiner langjährigen Wohnstatt. Seine letzte Ruhe fand Müller auf dem Riensberger Friedhof. Dem ironischerweise klassizistisch und nicht neugotisch gehaltenen Grabstein ist zu entnehmen, er sei zum Gedenken „von Freundeshand errichtet“ worden.

Frappierend nur, dass die Freunde es an der nötigen Sorgfalt bei der Feststellung des Todesdatums fehlen ließen. Laut Grabinschrift starb Müller am 9. März 1890 – ein peinlicher Fauxpas.

Mit dem Bau der Rembertikirche festigte Heinrich Müller seinen Ruf als führender Vertreter des neugotischen Baustils. Das von 1869 bis 1871 errichtete Gotteshaus wurde im Juni 1942 durch Bombentreffer vollständig zerstört. Quelle: Bestand Erika Streuer

Mit dem Bau der Rembertikirche festigte Heinrich Müller seinen Ruf als führender Vertreter des neugotischen Baustils. Das von 1869 bis 1871 errichtete Gotteshaus wurde im Juni 1942 durch Bombentreffer vollständig zerstört. Quelle: Bestand Erika Streuer

Jung, aber mit viel Geschichte

50 Jahre
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50 Jahre sind seit der Gründung der Universität Bremen vergangen. Auf dem Weg von der vermeintlichen roten Kaderschmiede zur Exzellenzuniversität ist viel passiert: Wir haben den ersten sowie den aktuellen Rektor interviewt und mit Absolventen gesprochen – zu denen auch Bürgermeister Andreas Bovenschulte gehört. Zudem hat uns ein Architekt über den Campus begleitet. Das Magazin der Reihe WK | Geschichte gibt es ab 18. September in den ­Kundenzentren des WESER-­KURIER, im Buch- und Zeitschriftenhandel, online unter www.weser-kurier.de/shop und unter 0421 / 36 71 66 16.

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