In Bremen gab es am 6. März 1933 eine ähnliche Situation wie bei der Erstürmung des Kapitols in Washington
Es braute sich etwas zusammen an diesem 6. März 1933, einem Montag. Seit 11 Uhr versammelten sich immer mehr Menschen auf Marktplatz und Domshof. Für die Senatoren im Rathaus keine sonderlich angenehme Situation. In Sprechchören hätten SA und SS den Senat zum Rücktritt aufgefordert, schreibt der damalige Senator Wilhelm Kaisen (SPD) in seinen Erinnerungen. „Ein Staatsstreich der Nazis lag in der Luft.“ Sein liberaler Kollege Theodor Spitta resümiert, es habe „äußerste politische Spannung“ geherrscht.
Tags zuvor hatten die schon längst nicht mehr fairen und freien Reichstagswahlen stattgefunden, bei denen die NSDAP reichsweit auf 43,9 Prozent und in Bremen auf 32,3 Prozent gekommen war. Noch in den Abendstunden hatte in Hamburg der braune Mob das Rathaus gestürmt, diesem Beispiel wollten zumindest Teile der SA in Bremen nacheifern. Ihre „ungeduldige Hoffnung“: „ein mit Handgreiflichkeiten gewürzter Sturm auf das Rathaus“, wie der Regionalhistoriker Herbert Schwarzwälder in seinem Buch über die damaligen Vorgänge schreibt.
Die Polizei hielt sich zurück
Ähnlich wie beim Sturm auf das Kapitol in Washington hielt sich die Polizei zurück. Nur anfangs versuchten Polizeistreifen, die Menge zu zerstreuen, um den Verkehr aufrechtzuerhalten. Als Bürgermeister Martin Donandt die Räumung von Markt und Domshof forderte, geschah entgegen der Zusage des Polizeisenators nichts. „Im Gegenteil, die Ansammlungen wurden immer größer“, so Senator Wilhelm Kleemann (SPD).
Noch im Alter zürnte Kaisen über die Untätigkeit der Staatsmacht. „Die Polizei hätte diesen Aufmarsch vereiteln müssen.“ Verantwortlich für ihr völliges Versagen war in seinen Augen der Kommandeur der Schutzpolizei, Oberst Walter Caspari. Richtig ist: Der frühere Freikorpsführer war gewiss kein Parteigänger der demokratischen Ordnung, 1931 war er sogar als Kandidat der Nationalsozialisten für den Posten des Polizeisenators im Gespräch gewesen. Doch seine Haltung ausschließlich mit Nazi-Sympathien zu erklären, dürfte zu kurz greifen. Seine Passivität erklärte Caspari selbst damit, er habe sich auf seine Männer nicht verlassen können und unnötiges Blutvergießen verhindern wollen.
Doch wer hielt sich da überhaupt rund ums Rathaus auf? Die auch von Kaisen genährte Vorstellung, es habe sich um eine tobende Menge gehandelt, lässt sich nicht ohne weiteres verifizieren. Die erhaltenen Aufnahmen sprechen jedenfalls eine andere Sprache: Fast gemütlich wirkt die Ansammlung, kein Transparent ist auszumachen, keine Fahne, keine Formation.
Viele Neugierige unterwegs
„Durchweg waren es Neugierige, hier und da sah man auch braune Uniformen und hörte Sprechchöre (‚Kaisen raus‘)“, schreibt Schwarzwälder. Ein wenig anders der Eindruck von Hartmut Müller, vormals Leiter des Staatsarchivs: „Draußen auf Domshof und Marktplatz drängten sich SA, Sympathisanten und Neugierige.“
Gleichwohl steht außer Frage, dass die Anspannung mit Händen zu greifen war, sich der Senat einem enormen Druck von der Straße ausgesetzt sah. Und die Parteiformationen dabei die treibende Kraft waren. „Vor dem Rathaus randalierten die Kampftruppen“, schreibt Kaisen, „ihr Lärm drang in das Präsidentenzimmer.“ Mag es auch keinen detaillierten Ablaufplan gegeben haben, so agierten die Nazi-Aufrührer doch in Absprache und mit Rückendeckung des NS-Reichsinnenministers Wilhelm Frick.
Die Aktion geschah also nicht spontan, es stürmte kein entfesselter Mob ins Rathaus. Wie in Washington kam die Konfrontation nicht aus dem Nichts, sie war geplant. Der „Volkszorn“ richtete sich freilich nicht wie in den USA gegen die Legislative: nämlich die Bürgerschaft, die damals in der Neuen Börse am Markt tagte, am selben Standort wie heute. Vielmehr war ganz selbstverständlich das Rathaus als Sitz des Senats das Ziel der braunen Aufrührer.
Die Forderungen lauteten, die Polizei unter Kontrolle der Partei zu stellen, die Bürgerschaft aufzulösen und die drei SPD-Senatoren zu entlassen – das alles unter dem Vorwand, es drohe ein marxistischer Umsturz. Eine an Zynismus kaum zu überbietende Behauptung, tatsächlich war das genaue Gegenteil richtig: Die Bedrohung der gewählten Regierung ging nicht etwa von irgendwelchen Arbeitermilizen aus, sondern von jenen, die sich als Hüter von Recht und Ordnung aufspielten.
Nicht ganz klar ist, ob die NS-Aufrührer von Anfang dabei waren. Schwarzwälder schreibt, sie hätten sich in ihren „Standquartieren“ versammelt, um den Sturm aufs Rathaus vorzubereiten, also offenbar in Privatwohnungen. Anders Spitta: „SA und SS waren aufmarschiert, hielten sich aber zunächst außerhalb der Bannmeile, die das Rathaus sowie den Marktplatz und den Domshof umfasste.“ Ihnen gegenüber habe die Schutzpolizei von Caspari gestanden.
Spätestens ab 15 Uhr war mit einer Räumung durch die Polizei nicht mehr zu rechnen. Ohne Widerstand ließ man es geschehen, dass der Schild des Roland mit einer Hakenkreuzflagge drapiert wurde und das Gleiche auch den Rathausbögen sowie dem Kaiser-Wilhelm-Denkmal widerfuhr. Die Situation spitzte sich zu, als eine Stunde später eine Delegation unter Leitung von NS-Kreisleiter Otto Bernhard ein Ultimatum stellte – die Erfüllung der Forderungen bis 20 Uhr. Andernfalls drohte der Sturm aufs Rathaus.
Laut Schwarzwälder verlangten die Nazis auch, die schwarz-weiß-rote Flagge aus Kaisers Zeiten und die Hakenkreuzflagge am Rathaus zu hissen. Anders Kaisen, demzufolge Bürgermeister Donandt das Hissen der Reichsflagge vorschlug, um die Gemüter zu besänftigen. Die Hakenkreuzflagge kam als damals noch reine Parteiflagge so oder so nicht in Betracht. Was davon stimmt, ist eigentlich unerheblich, waren doch schon die kaiserlichen Farben für die Sozialdemokraten eine rote Linie. Als sie sich nicht durchsetzen konnten, erklärten sie gegen 17.45 Uhr ihren Rücktritt.
Blieb die Forderung nach Übergabe der Polizeigewalt. Weil sich der bürgerliche Rumpfsenat darauf nicht einlassen wollte, erhöhte die NSDAP den Druck. Gegen 19.30 Uhr verkündete ein Extrablatt der Bremer Nationalsozialistischen Zeitung schon mal die Machtübergabe für 20 Uhr und rief die Bremer dazu auf, „in Massen“ vor dem Rathaus zu erscheinen. Tatsächlich hatte sich die Menge ein wenig gelichtet, anscheinend fürchteten die braunen Hetzer schwindenden Zuspruch.
Pünktlich zu dieser Stunde tauchte auch der oldenburgische NS-Ministerpräsident Carl Röver im Rathaus auf, zugleich Leiter des Gaus Weser-Ems, zu dem auch Bremen gehörte. Zähneknirschend musste sich Donandt dessen Sermon anhören – und der Forderung nach einem NS-Polizeichef nachgeben. Der einzige Trost: Ein Handstreich gegen das Rathaus war abgewendet.
Freilich auf Kosten eines Staatsstreichs. Im Rathaus übernahmen die Gefolgsmänner Hitlers das Kommando, die Hakenkreuzflagge wurde aufgezogen. Zehn Tage führte der Rumpfsenat noch ein Schattendasein, bevor er endgültig einem NS-Senat weichen musste.
Ein Déjà-vu-Erlebnis
Für den rechtschaffenen Bürgermeister Donandt war es ein Déjà-vu-Erlebnis. Dem ungehobelten Röver gegenüber verglich er die Ereignisse mit den Vorgängen bei der Novemberrevolution 1918/19, wobei er wohl vor allem die Proklamation der Räterepublik am 10. Januar 1919 vor Augen gehabt haben dürfte. Röver widersprach natürlich, damals seien es die „roten Lumpenhunde“ gewesen, diesmal gehe es um die „nationale Erneuerung“. Doch Donandt winkte nur müde ab. „Herr Ministerpräsident, es ist ganz dasselbe“, seufzte der 81-Jährige.
Dasselbe war es aber nur mit Blick auf die illegitime Aneignung der Staatsmacht. Die Folgen sahen anders aus: Der Räterepublik verschwand nach drei Wochen von der Bildfläche, das „Dritte Reich“ erst nach einer zwölfjährigen Gewaltherrschaft.