Reederspross Rickmers beteiligte sich am Hitler-Putsch und weckte großes Interesse an seinen Überresten
Fast vergnügt klang Rittmeister Johann Rickmers, als er sich aus dem Krankenhaus meldete. „Mir geht’s bis auf meinen edlen Teil sehr gut“, schrieb er Mitte November 1923 an seinen Vetter in Bremen. Zu diesem Zeitpunkt befand sich der 42-Jährige seit mehr als einer Woche in ärztlicher Obhut. Die Verwundung hatte sich Rickmers als Gefolgsmann Hitlers beim Putschversuch am 9. November 1923 vor der Feldherrnhalle in München zugezogen. Mit dem „edlen Teil“ meinte er sein Hinterteil, es sei durch zwei Kugeln „ziemlich durchlöchert“ worden. Als lebensbedrohlich empfand der Spross der prominenten Bremer Reedereifamilie Rickmers die Schussverletzung allerdings nicht, er wähnte sich sogar schon auf dem Weg der Besserung. „Zuerst war das Liegen nur auf dem Bauche unangenehm und nun liege ich aber bereits auf allen Seiten. Ein Fortschritt!“, jubelte er in seinem Brief. „Seitdem ich fieberfrei bin, bin ich auch fidel und unser Zimmer ist mehr ein fideles Gefängnis zu nennen als Krankenstube.“
Doch der Rittmeister hatte sich zu früh gefreut. Das Problem: Nur eine Kugel trat wieder aus, die andere blieb mitsamt Textilstücken stecken. „Die Kugel hat aus meinem langen Pelz eine Menge Wolle hineingestopft, die nun zopfweise aus der Wunde wieder hervorgeholt wird“, schrieb Rickmers und witzelte über seine „Wollhamsterei“. Sechs Tage vor seinem Tod am 28. November 1923 sei die Kugel noch immer nicht entfernt gewesen, berichtet der Heimatforscher Dieter Rogge aus Lengerich in Westfalen. Der 81-Jährige kann als ausgewiesener Rickmers-Kenner gelten. Sein Interesse rührt daher, dass der spätere Putschist einst das Rittergut Vortlage bei Lengerich unter seinen Fittichen hatte. In etlichen Archiven hat Rogge nachgeforscht, auch Kontakte zur Verwandtschaft des Rittmeisters geknüpft. „Vom Pelzmantel wurde die Wunde verunreinigt“, sagt Rogge. Rickmers sei an einem Wundstarrkrampf gestorben.
Beim gescheiterten Hitler-Putsch kamen insgesamt 20 Menschen ums Leben, 15 Aufrührer, vier Polizisten und ein schaulustiger Oberkellner. Als Anführer einer Gruppe des Bundes Oberland, einer paramilitärischen Vereinigung, die aus dem Freikorps Oberland hervorgegangen war, hatte Rickmers in der Nacht auf den 9. November das Hauptquartier der Putschisten bewacht, den Bürgerbräukeller.
Als sich die Ereignisse am Vormittag zuspitzten, beteiligte er sich am Marsch in Richtung Feldherrnhalle. „Aber nicht in vorderster Reihe, wie es bei den Nazis gern schon mal hieß“, so Rogge. Rickmers sei vielmehr mitten in der Marschkolonne gewesen und nach den ersten Schüssen von der zurückflutenden Menge über den Haufen gerannt worden. In seinen Briefen aus dem Krankenhaus hat Rickmers selbst überhaupt keinen Hehl daraus gemacht. „Eine rückwärts stürzende Masse erfaßte mich, stieß mich wild, so daß ich stolperte.“ Erst danach wurde er getroffen. „Plötzlich kriege ich einen dumpfen Schlag hinten vor. Es dämmert in meinem Gehirn: Das war ein Schuß.“
Nach der NS-Machtübernahme wurden Rickmers und seine Mitstreiter als „erste Blutzeugen der Bewegung“ gefeiert, sie rückten in den Mittelpunkt eines aufwändigen Totenkults. Die Grundlagen dafür hatte Hitler bereits 1924 in seinem Bekenntniswerk „Mein Kampf“ gelegt. Im ersten Band wurden alle 16 Toten inklusive Oberkellner namentlich aufgeführt, als „Blutzeugen“ sollten „sie den Anhängern unserer Bewegung dauernd voranleuchten“. Mit der korrekten Datierung nahm derAutor es nicht so genau, auch Rickmers war laut Hitler „am 9. November 1923, um 12 Uhr 30 Minuten“ gefallen. Ein gemeinsames Heldengrab wäre Hitler nach eigenem Bekunden am liebsten gewesen, „sogenannte nationale Behörden“ hätten es aber verweigert. „So widme ich ihnen zur gemeinsamen Erinnerung den ersten Band dieses Werkes.“ Eine eher unzureichende Kompensation also für das angestrebte Gemeinschaftsgrab.
In Bremen scheint man von der zweifelhaften Ehrung keinerlei Notiz genommen zu haben. Obschon es auch an der Weser starke nationalistische Tendenzen gab, vor allem die Kaufmannschaft der vergangenen Herrlichkeit der Kaiserzeit nachtrauerte, konnte man mit gewaltsamen, auch noch stümperhaften Umsturzversuchen wenig anfangen. „Hitler kam, sah und wurde eingesteckt“, frotzelten die Bremer Nachrichten nach Niederschlagung der Erhebung am 10. November 1923. „Damit Schluß der Tragikomödie.“
Dass der Enkel des prominenten Bremerhavener Reeders und Werftengründers Rickmer Clasen Rickmers kräftig mitgemischt hatte, ist anscheinend weder damals noch nach der Publikation des Hitler-Buchs so recht zur Kenntnis gelangt. Vielleicht, weil Johann Rickmers nur seine Jugend in Bremen verbracht hatte. Anders als noch heute vielfach kolportiert, ist Rickmers auch nicht in Bremen zur Welt gekommen. Vielmehr wurde er im Mai 1881 in Wiesbaden geboren. „Sein Vater war lungenkrank“, sagt Rickmers-Experte Rogge. Seine Vermutung: Womöglich habe er damals zur Kur in Wiesbaden geweilt. Bis zum Alter von etwa fünf Jahren lebte Rickmers in Hannoversch-Münden, wo sein Vater eine Tochterfabrik der Rickmerschen Reismühlen leitete.
Von Anfang an zeigte der junge Rickmers wenig Neigung, in die Reederei oder die Verwaltung der familieneigenen Reismühlen einzusteigen, stattdessen hatte er schon früh ein ausgeprägtes landwirtschaftliches Interesse. Nach dem Besuch der Realschule durchlief er eine Ausbildung auf Gut Erpenbeck bei Lengerich – wohl weil es verwandtschaftliche Verbindungen ins Tecklenburger Land gab. Mit dem Geld seiner Familie kaufte er 1905 das altehrwürdige Rittergut Vortlage. Freilich behielt er es nicht, sondern überschrieb es seiner Frau, der „Haustochter“ von Gut Erpenbeck, die er im folgenden Jahr heiratete. „Als Morgengabe hat er es seiner Frau das Gut geschenkt“, sagt Rogge. Dennoch bewirtschaftete Rickmers das Gut, unter seiner Ägide setzte ein regelrechter Bauboom ein, bis heute existiert die damals gebaute Reitanlage.
Als Rittmeister eines traditionsreichen Kavallerieverbands, der Totenkopf-Husaren, nahm Rickmers am Ersten Weltkrieg teil. Die Niederlage konnte er nicht verwinden, der hochdekorierte Patriot schloss sich rechtsextremistischen Kreisen an. Nach Bayern dürfte er erst nach der Trennung von seiner Frau 1921 gekommen sein, als er zum zweiten Mal heiratete. In seinem Landhaus in Oberaltig bei Herrsching am Ammersee in Oberbayern trafen sich Anhänger des gewaltbereiten Oberland-Bundes, es sollen dort auch Waffen versteckt worden sein. Er sei damals einer der „treuesten Gefolgsmänner Adolf Hitlers“ geworden, schwärmte später die Bremer Zeitung, ein Organ der NSDAP. „Er, der Bremer Kaufmannssohn, ist einer der ersten Nationalsozialisten.“
Einigermaßen kurios dann die Odyssee seiner sterblichen Überreste. Nach seinem Tod wurde Rickmers eingeäschert und zunächst in einem Obelisk in Oberaltig beigesetzt. Doch an seiner langjährigen Wirkungsstätte in Lengerich entwickelten sich Begehrlichkeiten: Ausgerechnet der zweite Mann seiner geschiedenen Frau, der neue Herr von Gut Vortlage, war Rogge zufolge ein Hitler-Sympathisant und setzte nun alles daran, den Märtyrer zurück nach Lengerich zu holen. Oder zumindest ein Stück von ihm – die zweite Frau des Rittmeisters rückte denn auch nur die Hälfte der Asche heraus. 1931 wurde die Urne feierlich auf der Toteninsel von Gut Vortlage beigesetzt. Zwei Jahre später pilgerten mehrere Tausend Teilnehmer zur Gedächtnisfeier an das Grab – Lengerich hatte seine Kultstätte. Allerdings nur, bis Hitler Interesse an den Überresten seiner Gefolgsleute bekundete.
Bereits kurz nach der Machtübernahme war auf sein Geheiß an der Feldherrnhalle eine Gedenktafel angebracht worden, 1935 ließ der „Führer“ auf dem Königsplatz in München zwei klassizistische Ehrentempel errichten. In denen sollten in gusseisernen Sarkophagen die irdischen Hüllen der umgekommenen Putschisten ruhen. Als „Ewige Wacht“ war es den Toten bestimmt, auf alle Zeiten ein Beispiel für die Opferbereitschaft wahrer „Volksgenossen“ zu geben. „Hier stehen sie Wache für Deutschland und unser Volk“, erklärte Hitler.
Bei 14 von ihnen war der Transfer denkbar leicht, die Toten mussten nur von ihren vorletzten Ruhestätten auf Münchner Friedhöfen herbeigeschafft werden. Anders bei einem Kämpfer aus dem Warthegau und Rickmers. Per Zug seien ihre Überreste eingetroffen, schreibt Jay W. Baird in seinem Buch „To Die For Germany“. Im Falle von Rickmers geradewegs aus Lengerich. Dass es sich nur um die Hälfte der Asche handelte, war offenbar nicht bekannt, bis heute ist davon nirgends die Rede. In Lengerich dürfte man Rickmers einige Tränen nachgeweint haben. Jedenfalls bedurfte der Grabstein einer Aktualisierung. „Hier ruhte die Asche von Hans Rickmers bis zur Überführung“ ist seither auf dem bemoosten Stein zu lesen.
Erst sehr spät ging den Bremern auf, dass sie womöglich auch Anspruch auf Rickmers erheben könnten. Schon fast als Sensationsmeldung verkündete die Bremer Zeitung am 7. November 1936, unter den Toten des Hitler-Zuges befinde sich auch ein Bremer. Eher zufällig war der Kreispressereferent der Reichsbetriebsgemeinschaft „Das Deutsche Handwerk“, Robert Bargmann, bei den Vorbereitungen zur Feier des 25-jährigen Bestehens der Bremer Müllerinnung im Oktober 1936 auf Rickmers gestoßen. Damit sei „erstmalig einwandfrei“ bewiesen, dass der Rittmeister „tatsächlich ein Sohn unserer Vaterstadt“ sei, frohlockte die Bremer Zeitung. Kaum anders ließen sich die Bremer Nachrichten vernehmen. Auch wenn Rickmers in Wiesbaden geboren sei, so sei er „in Wirklichkeit doch als echter Hanseat und als echtes Bremer Kind“ anzusprechen.
Da traf es sich gut, dass auf dem Areal des Rickmers-Parks gerade damals der Grundstock für den heutigen, später noch deutlich erweiterten Rhododendronpark gelegt wurde. Hatte der junge Rickmers auf dem Familienbesitz doch zusammen mit seinem Vetter viele unbeschwerte Tage verlebt. Wobei die Bezeichnung als Rickmers-Park schon seit 1921 geläufig war und somit nicht an den Rittmeister, sondern an seine Familie erinnern sollte. Kaum hatte man sich seines „großen Sohnes“ versichert, wurde ein gewaltiger Sandsteinblock im Eingangsbereich des Rickmers-Parks an der Marcusallee aufgestellt, der Rickmers-Stein. Abermals mit der Falschangabe, Rickmers sei am 9. November 1923 gefallen. Bei der feierlichen Enthüllung 13 Jahre später – am 9. November 1936 – huldigten die Spitzen des Senats dem vielgepriesenen Hitler-Anhänger der ersten Stunde. Auch der Bremer SA-Sturm erhielt damals den Namen des frisch entdeckten Lokalheros, in ganz Deutschland wurden Straßen und Plätze nach ihm benannt.
Zur Enthüllung des Gedenksteins war auch der Bruder des Rittmeisters geladen, Willi Rickmer Rickmers, ein bekannter Asienforscher. Der sagte jedoch ab. „Leider bin ich wegen vieler Arbeit am Kommen verhindert“, lautete seine Begründung. Vielleicht war das aber nur vorgeschoben. Als Forschungsreisender hatte er viele internationale Kontakte. Zumindest den Antisemitismus lehnte er strikt ab: Als der Deutsche Alpenverein bereits 1921 einen Arierparagrafen einführte, stemmte sich Willi Rickmer Rickmers dagegen, wenn auch erfolglos. Noch ein anderes enges Familienmitglied suchte man bei der Feierstunde vergebens. Erst aus der Presse erfuhr die zweite Frau des Rittmeisters vom Gedenkstein. „Diese Ehrung für meinen gefallenen Mann hat mich sehr bewegt“, schrieb sie an den Senat.
Der Rickmers-Stein ist heute nicht mehr zu sehen. In den 1950er-Jahren sei das Mahnmal entfernt und mit ins Erdreich gekehrter Inschrift gestalterisch im Park verbaut worden, schreibt Michael Koppel in seinem Horn-Lehe-Lexikon. Nicht viel besser erging es den beiden Ehrentempeln in München, die auf Drängen der US-Militärregierung im Januar 1947 gesprengt wurden. Mit den Überresten der Toten ging man pietätvoll um, sie wurden bereits im Juli 1945 umgebettet – zurück in die Grabstätten, aus denen sie zehn Jahre zuvor exhumiert worden waren, wie das NS-Dokumentationszentrum München mitteilt. Unklar ist indessen bis heute, was aus der Urne des Rittmeisters wurde. Nach Lengerich kehrte sie jedenfalls nicht zurück. „Wahrscheinlich wurde die Asche in der Isar verstreut“, sagt Rickmers-Experte Rogge.