Vor 80 Jahren wurde die Adolf-Hitler-Brücke eingeweiht – Akten beleuchten Ängste im Stephaniviertel

Seit ihrer Geburt hatte Amalie Bremer im Stephaniviertel gelebt. Schon ihre Eltern und Großeltern hatten dort gewohnt: in zwei kleinen, mehr als 100 Jahre alten Häuschen in direkter Nachbarschaft. Doch nun zogen dunkle Wolken am Horizont auf. Im Spätherbst 1934 erhielten die Bewohner des westlichen Stephaniviertels ungebetenen Behördenbesuch. Ohne Angabe von Gründen wurden Messungen in den Häusern vorgenommen. Amelie Bremer ahnte, was es damit auf sich hatte – wahrscheinlich, so schrieb sie am 3. Dezember 1934 an das Amt für Wohnung und Siedlung, bestehe ein Zusammenhang mit dem geplanten Brückenbau. Für die 73-Jährige eine wenig erbauliche Perspektive. Mehr noch als der mögliche Verlust ihrer Heimstatt belastete die herzkranke Frau aber etwas anderes. „Nun beunruhigt mich vor allem die Ungewissheit, ob ich wohnen bleiben kann oder nicht. Diese Ungewissheit plagt mich ständig und macht mich krank.“

Man kann sich gut vorstellen, wie viel Unruhe die reichlich zugeknöpften Besucher im Stephaniviertel ausgelöst haben müssen. Gleichwohl dürfte sich die Überraschung in Grenzen gehalten haben. Bereits in den 1920er-Jahren war der Bau einer dritten Weserbrücke erörtert worden. Die Große Weserbrücke (heute Wilhelm-Kaisen-Brücke) und die Kaiserbrücke (heute Bürgermeister-Smidt-Brücke) konnten die zunehmende Belastung durch Kraftfahrzeuge nicht mehr bewältigen, es drohte der Verkehrsinfarkt.

Vor gut 80 Jahren, am 1. Juli 1939, wurde die neue Weserquerung als Adolf-Hitler-Brücke mit viel Pomp und Getöse eingeweiht. Kurz vor Kriegsausbruch kam es damit noch zur Umsetzung eines Großprojekts, das die Bremer schon lange beschäftigt hatte. In den späten 1920er-Jahren hatte der renommierte Stadtplaner Fritz Schumacher für den Brückenschlag erstmals die Stelle beim damaligen Focke-Museum ins Auge gefasst. Die Häfen waren nicht weit entfernt, so konnten sich die Laster den Umweg über die chronisch überlastete Faulenstraße sparen. Doch das Zukunftsprojekt blieb vorerst liegen, infolge der Weltwirtschaftskrise herrschte Ebbe in den öffentlichen Kassen, die Pläne wanderten in die Schublade.

Kurzes Vergnügen: die neue Adolf-Hitler-Brücke im Sommer 1939.
Quelle: Gerald Sorger

Das alte Vorhaben neu belebt

Nach der regionalen NS-Machtübernahme im März 1933 griff der neue Baudirektor Gerd Offenberg das Vorhaben wieder auf. Im September 1934 nahmen die Pläne konkrete Formen an, auf rund 3,5 Millionen Reichsmark schätzte man die Baukosten. Teuer zu stehen kam der öffentlichen Hand nicht zuletzt der Abriss der insgesamt 140 Häuser, die den Auffahrten zur Brücke links und rechts der Weser im Weg standen.

Eingebettet war das Brückenbauprojekt in ein ambitioniertes Zukunftsszenario: die weitreichende Neugestaltung der Verkehrswege, wie sie Schumacher bereits in seiner Stadt- und Landesplanung von 1927 bis 1930 angeregt hatte. Schumachers Idee eines Tangentenvierecks nahm Baudirektor Offenberg ab 1937 wieder auf und reicherte das Vorhaben mit typischen NS-Ingredienzen an: der Domshof als Aufmarschgelände, dazu ein gewaltiges Gauzentrum auf dem Stadtwerder. Fester Bestandteil der Planungen war auch die schon von Schumacher vorgesehene Ostbrücke in Höhe der Mozartstraße. Als Neue Mozart-Brücke im Zuge der umstrittenen Mozarttrasse lebte sie bis in die frühen 1970er-Jahren in den Köpfen der Städteplaner fort. Den Gegenpart bildete die dritte Weserbrücke, jetzt unter dem Arbeitstitel Westbrücke.

Die Verhandlungen mit dem Generalinspekteur für das deutsche Straßenwesen über die Finanzierung der Brücke liefen noch auf Hochtouren, da klopfte es im Herbst 1934 schon an den Türen im westlichen Zipfel des Stephaniviertels – dem „Abbruchgebiet“, wie die amtliche Sprachregelung lautete. Die Behördenbediensteten nahmen sich viel Zeit für ihre Hausbesuche, akribisch gaben sie den Zustand der Gebäude zu Protokoll und lieferten nebenbei auch noch Angaben zu den Bewohnern. Besonders schlecht kam das Haus Vor dem Stephanitor Nr. 5 weg. „Holzwurm im Dachstuhl, alles sehr vernachlässigt, Fußböden schlecht, Dach undicht“, notierte der amtliche Besucher. Ein kritischer Blick fiel auch auf den Mieter, Bäckermeister Wilhelm Drönner, dessen Physis mit „stark beleibt“ beschrieben wurde. Seine Frau dagegen erhielt das Gütesiegel „gesund“. Bedenklich erschienen die sozialhygienischen Verhältnisse: „Die Familie Drönner hat mit 4 Personen nur einen Schlafraum mit 2 Betten.“ Eine Beobachtung, die der behördliche Schnüffler umgehend an die Abteilung Wohnungspflege weiterleitete.

Zahlreiche Häuser im Stephaniviertel wurden abgerissen.
Quelle: Archiv

Bei ihren Besuchen fühlten die Behördenvertreter auch schon mal vor, was die Bewohner von einer Aussiedlung hielten. Soll heißen: von einer Umsiedlung in ein neues Siedlergebiet wie etwa jenes, das in Grolland in Vorbereitung war. Fast durchweg stießen sie damit auf wenig Gegenliebe. Aussiedlung „nicht erwünscht“ ist zumeist auf den erhaltenen Formularen im Staatsarchiv zu lesen. Nur Bäckermeister Drönner machte eine Ausnahme. Durch die „große Konkurrenz“ im Stephaniviertel betrachtete sich der 46-Jährige ohnedies als „nicht existenzfähig“. Da konnte ein Neuanfang an anderer Stelle für das Ehepaar Drönner durchaus verlockend sein. „Beide haben Meinung für Bäckerei in Siedlergegend“, kritzelte der amtliche Besucher in sein Formular.

Keine Informationen vom Amt

Dass sie bald kein Dach mehr über dem Kopf haben würden, war für die Bewohner des westlichen Stephaniviertels also absehbar. Umso bedrückender die restriktive Informationspolitik. Man möge doch bitte mitteilen, „ob meine beiden Häuser ebenfalls dem Brückenbau zum Opfer fallen und wenn ja, zu welcher Zeit ein Auszug für mich in Frage käme“, schrieb die verzweifelte Amalie Bremer an das Amt für Wohnung und Siedlung. Erst jetzt – auf dringende Nachfrage – antwortete die Behörde und teilte den voraussichtlichen Räumungstermin mit. Noch ein knappes Jahr blieb der alteingesessenen Seniorin, um sich nach einer neuen Bleibe umzusehen. Ein schwerer Schlag vor allem für jene Hauseigentümer, die noch kurz vorher eine Menge Geld in die Sanierung ihrer Gebäude gesteckt hatten. „Die Erdgeschosswohnung wurde erst neu überholt“, hieß es im Formular über das 110 Jahre alte Haus Vor dem Stephanitor 4.

1936 begannen die Abbrucharbeiten. Innerhalb kurzer Zeit wurde der westliche Zipfel des Stephaniviertels dem Erdboden gleichgemacht – acht Jahre bevor der Bombenkrieg den Rest erledigte. Neben mehreren Gängen verschwand auch die Straße Vor dem Stephanitor vom Stadtplan, die heutige Straße Vor Stephanitor wurde erst nach dem Zweiten Weltkrieg beim Wiederaufbau ein gutes Stück weiter östlich angelegt. Mehr als die Hälfte ihrer ursprünglichen Länge büßten die Kleine Krummenstraße und der Stephanitorswall ein, erheblich amputiert wurde die Große Straße. Verschont blieb das Focke-Museum, das bis zur Zerstörung im Zweiten Weltkrieg ein abgeschnittenes Inseldasein zwischen Eisenbahn- und Adolf-Hitler-Brücke führte, wie die Westbrücke seit ihrer Einweihung am 1. Juli 1939 hieß.

Freilich verlief das feierliche Ereignis ganz anders als geplant. Eigentlich sollte der Namensgeber selbst kommen, zu seinem Empfang hatte sich Bremen ordentlich herausgeputzt. Doch dann sagte Hitler kurzfristig ab, an seiner Stelle erschien Großadmiral Erich Raeder. Auch die Eröffnungszeremonie stand unter keinem guten Stern, ein heftiges Gewitter trübte die Freude. Ein sonderlich langes Leben war der neuen Brücke nicht beschieden, kurz vor Kriegsende wurde sie im März 1945 zerstört. Zu diesem Zeitpunkt war auch fast das gesamte Stephaniviertel schon längst ein Trümmerhaufen. Abermals musste eine neue Brücke gebaut werden – und diesmal auch gleich ein neues Wohnquartier.

Für die Einweihung der Westbrücke als Adolf-Hitler-Brücke am 1. Juli 1939 hatte sich Bremen mächtig herausgeputzt. Hinten links ist das Focke-Museum zu sehen, in der Mitte die Schneise durch das westliche Stephaniviertel.
Quelle: Archiv

Jung, aber mit viel Geschichte

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