Neues Buch über die Geschichte des KZ-Außenlagers Blumenthal – Häftlinge schmiedeten Ausbruchspläne

Zur Hinrichtung der beiden polnischen Häftlinge im KZ-Außenlager Blumenthal am frühen Nachmittag des 26. Oktober 1944 fanden sich zahlreiche Schaulustige ein. „Entweder nahmen sie Plätze auf den Balkonen und an den Fenstern der angrenzenden Häuser ein, oder sie kletterten in eine der Pappeln, die das Weserufer säumten“, schreibt Karsten Ellebrecht in seinem neu erschienenen Buch über die Geschichte des Lagers. Aus Frankreich waren der 48-jährige Jan Wojtczak und der 24-jährige Walenty Drewniak zunächst ins KZ Neuengamme in Hamburg verschleppt worden und später nach Blumenthal, einem von mehr als 85 Außenlagern des größten Konzentrationslagers in Nordwestdeutschland.

Hat sich jahrelang mit der Thematik befasst: Kartsen Ellebrecht.
Foto: Christina Kuhaupt

Erst am Vormittag war der Galgen errichtet worden. Wegen einer zu geringen Fallhöhe starben Wojtczak und Drewniak qualvoll langsam, zehn Minuten soll der Todeskampf gedauert haben. Ihr Vergehen: angebliche Sabotage, weil sie einen Treibriemen von ihrer Arbeitsstätte bei der AG Weser hatten mitgehen lassen. Vermutlich wollten sie damit Schuhe anfertigen. Die beiden Männer sind nur zwei von mindestens 125 Häftlingen, die im Lager Blumenthal ums Leben kamen. Noch am 9. April 1945, dem Tag der Evakuierung, erstach ein deutscher Funktionshäftling – ein sogenannter Kapo – fünf jugendliche Russen, die sich Nahrungsmittel beschafft hatten.

Vor 25 Jahren ist Ellebrecht erstmals mit dem Thema in Berührung gekommen. Mit seinen Schülern besuchte der pensionierte Französisch- und Geschichtslehrer aus Grohn die 1985 eingerichtete Gedenkstätte. Damals knüpfte der 76-Jährige auch die ersten Kontakte zu ehemaligen Häftlingen, mit dem Franzosen Pierre Billaux aus der Normandie verband ihn später eine enge Freundschaft. Zwar arbeitete Ellebrecht zwischenzeitlich als abgeordneter Lehrer am Stadtteilgeschichtlichen Dokumentationszentrum Blumenthal. „Die Thematik haben wir aber nicht aufgegriffen“, sagt er. Es gab Bedenken wegen der Zeitzeugen vor Ort. „Entweder schwiegen sie oder waren zu jung, es herrschte ein generationelles Schweigen.“

Grauen vor der Haustür

Doch was vor seiner Haustür auf der ehemaligen Flussinsel Bahrsplate geschehen war, ließ Ellebrecht nicht mehr los. Nach seinem Wechsel in den Ruhestand im Jahr 2006 begann die Recherche, in den vergangenen zwei Jahren hat der Historiker das Buchprojekt forciert. Fehlte doch bislang eine Monografie, die sich dieses düsteren Kapitels der Bremer Geschichte angenommen hätte. Eine mühselige Arbeit, weil aussagekräftige Dokumente dünn gesät sind, die SS hat sie vor Kriegsende systematisch vernichtet. Eine Quelle war das Archiv Neuengamme, eine andere die Berichte früherer Häftlinge. Wertvolle, zeitnahe Angaben enthielten auch behördliche Dossiers in der Heimat der französischen und belgischen Lagerinsassen. „Damit wollten sie ihre Anerkennung als Widerstandskämpfer erreichen“, sagt Ellebrecht.

Die Geschichte des KZ-Lagers begann, als es mit dem „Dritten Reich“ zu Ende ging. Die Fronten im Osten und Westen taumelten unter den Schlägen der Alliierten, mit einer gewaltigen Kraftanstrengung sollten die letzten Reserven für die Rüstungsproduktion mobilisiert werden. Wie Pilze schossen ab August 1944 überall im Reich Ableger der großen Konzentrationslager aus dem Boden. Allein in der Region Bremen unterhielt das KZ Neuengamme neun Außenlager, so auch in Blumenthal auf dem Areal eines vorherigen Lagers für russische Kriegsgefangene. Gleich nebenan befand sich noch ein Ostarbeiterlager mit Zwangsarbeitern aus Osteuropa.

Immer eine Bedrohung: Appell im Lager Blumenthal nach einer Zeichnung des früheren Häftlings Pierre Lefevre. Vorne links einer der gefürchteten Kapos.
Quelle: Privat

Fast alle der meist westeuropäischen KZ-Häftlinge schufteten in der benachbarten Wollkämmerei der Deutschen Schiff- und Maschinenbau AG, kurz Deschimag, einem Großkonzern unter Einschluss der AG Weser-Werft. Die Arbeits- und Lebensbedingungen waren katastrophal, vor allem deshalb, weil die Häftlinge chronisch unterernährt und der Willkür ihrer Bewacher ausgeliefert waren.

Wie viele Häftlinge brutal ermordet wurden, lässt sich kaum ermessen. Fehlende Dokumente und lückenhafte oder widersprüchliche Erinnerungen machen exakte Angaben unmöglich. Die meisten Todesfälle sind laut Ellebrecht auf die „menschenverachtende Vernachlässigung durch die SS-Lagerleitung zurückzuführen“. Das Krankenrevier galt unter den Häftlingen als Sterbeort. Bei Misshandlungen oder Arbeitsunfällen war die medizinische Versorgung mehr als dürftig, Amputationen wurden „mit oder ohne Anästhesie“ vorgenommen.

Noch in den Nachkriegsjahren stand das Barackenlager, hier: Kartenausschnitt von 1957.
Quelle: Niedersächsische Landesaufnahme Vegesack

Doch Häftlinge waren nicht nur willenlose Opfer. Besonders beeindruckend ist der Versuch einer acht- bis zwölfköpfigen Gruppe kurz vor Kriegsende, mithilfe eines Tunnels aus dem Lager zu entkommen. Als Hauptmotiv gibt Ellebrecht die Befürchtung der Gefangenen an, angesichts der nahenden Front in letzter Minute liquidiert zu werden. Von ihrer Wohnbaracke aus wühlten sich die Häftlinge in Richtung Weser, der Fluchttunnel verlief nur knapp unter der Grassode. Das wurde den Tunnelgräbern dann auch zum Verhängnis. „Nachdem es viel geregnet hatte, brach der Tunnel auf dem Strandweg außerhalb des Lagers ein“, schreibt Ellebrecht.

Das alles zu recherchieren, entpuppte sich als geradezu kriminalistische Kleinarbeit. An den Schwierigkeiten lässt Ellebrecht seine Leserschaft ganz bewusst teilhaben, er gewährt einen Blick in die Werkstatt des Historikers. Dabei zeichnet ihn der zugewandte, dennoch kritische Umgang mit den Zeugnissen der Opfer aus. „Vieles in den Ergebnissen stellt nicht zufrieden“, bekennt Ellebrecht selbstkritisch in seiner Schlussbetrachtung.

Nach der Sturmflut von 1962 wuchs buchstäblich Gras über die Vergangenheit. Die letzten Baracken wurden abgerissen, auf dem früheren Lagergelände erstand der alte Park wieder. Geblieben ist so gut wie nichts – jedenfalls nichts, was sichtbar wäre. 2018 suchten Studierende der Geowissenschaften nach Betonfundamenten der Baracken, wurden aber nicht fündig. „Vielleicht gibt es noch eine Spur des Fluchttunnels“, sagt Ellebrecht.

Doch selbst wenn das Lager spurlos verschwunden ist, mit seinen akribischen Nachforschungen ruft der Historiker es wieder in Erinnerung und schafft damit ein zweites Denkmal neben der Gedenkstätte. Eine lohnende Lektüre zur richtigen Zeit.

Karsten Ellebrecht: „Ihr habt hier keine Namen mehr!“ Die Geschichte des KZ-Außenlagers Bremen-Blumenthal. Edition Falkenberg: Bremen 2020, ISBN 978-3-95494-227-5, 288 Seiten, 59 farbige Abb., Preis: 16,90 Euro.

Mit Blumen überhäuft: der sichtlich abgemagerte Belgier Roger Vyvey nach seiner Rückkehr in die Heimat im Mai 1945.
Quelle: Privat

 

Jung, aber mit viel Geschichte

50 Jahre
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50 Jahre sind seit der Gründung der Universität Bremen vergangen. Auf dem Weg von der vermeintlichen roten Kaderschmiede zur Exzellenzuniversität ist viel passiert: Wir haben den ersten sowie den aktuellen Rektor interviewt und mit Absolventen gesprochen – zu denen auch Bürgermeister Andreas Bovenschulte gehört. Zudem hat uns ein Architekt über den Campus begleitet. Das Magazin der Reihe WK | Geschichte gibt es ab 18. September in den ­Kundenzentren des WESER-­KURIER, im Buch- und Zeitschriftenhandel, online unter www.weser-kurier.de/shop und unter 0421 / 36 71 66 16.

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