„Und da lagen nun vor den jungen Leuten, die gekommen waren, um sich zu finden, die vielen Rätsel dieses Landes. Die Birkenbäume, die Moorhütten, die Heideflächen, die Menschen, die Abende und die Tage, von denen nicht zwei einander gleich sind, und in denen auch nicht zwei Stunden sind, die man verwechseln könnte. Und da gingen sie nun daran, diese Rätsel zu lösen.“ (Rainer Maria Rilke „Worpswede“, 1902)
Die jungen Leute, von denen Rainer Maria Rilke in seiner Worpswede-Monografie schreibt, sind die Maler der ersten Worpsweder Generation. Der Blick auf sie und ihre Nachfolger prägt bis heute das Sehen auf Worpswede. Die Künstlerkolonie und ihre Folgen unterscheiden das Dorf von anderen, aber wäre Worpswede nicht auch ohne die Kunst ein besonderer Ort? Die Fragestellung ist hypothetisch, zu sehr überlagert das eine das andere. Aber wenn Rilke von Rätseln spricht, die es zu lösen gilt, dann schlummert dahinter schon der Mythos Worpswede. Das, was die Künstler ab Ende des 19. Jahrhunderts in dem bis dahin unbedeutenden Ort vorfinden und in ihm sehen, steht im Mittelpunkt der diesjährigen 800-Jahr-Feier, nicht so sehr, was sie daraus machen. Denn im ewigen Spannungsverhältnis von Bauern und Künstlern haben Erstere die Geschichte auf ihrer Seite: Als der Maler Fritz Mackensen im Sommer 1884 überhaupt das allererste Mal nach Worpswede kommt, da hat der Ort bereits eine mindestens 666 Jahre lange Historie. So viel ist zumindest urkundlich verbürgt, und diese früheste überlieferte Erwähnung vom 21. Juli 1218 bildet den Ausgangspunkt für die Jubiläumsfeiern.
Erbstreit um den Weyerberg
Geschichte ist vor allem die Geschichte von Auseinandersetzungen. Das Hochmittelalter ist davon sicher anders geprägt als die Gegenwart, auch wenn die Konflikte zwischen weltlichen und religiösen Kräften aktuell in einer anderen Form wieder aufflammen. Rund um den Weyerberg gibt es aber um 1100 deutlich profaneren Streit: Es geht ums Erbe und letztlich wohl auch um die damals strategisch wichtige Erhebung. Der Weyerberg mit seinen 54,4 Metern ist nicht das, was man ernsthaft Berg nennen mag, aber er ist nun mal der höchste Punkt weit und breit und schon lange eine exponierte Lage. Askanier und Welfen beanspruchen im 13. Jahrhundert je die Hälfte der acht Höfe zu seinen Füßen für sich und sind sich nicht grün. Ob man daraus herleiten kann, dass dem Ort die Zerrissenheit somit quasi in die Wiege gelegt ist, ist sicherlich zweifelhaft. Aber wenn von Worpswede die Rede ist, dann heißt es oft, die Bewohner seien besonders streitlustig. Da hilft es auch wenig, dass diese frühe Auseinandersetzung letztendlich friedlich und vor allem mit Folgen, die heute Grund zum Feiern bieten, beendet wird.
Die beiden verfeindeten Familien schenken nach und nach ihre Besitztümer dem Benediktiner-Nonnenkloster St. Marien zu Osterholz, die erste dieser Überschreibungen findet eben im Juli 1218 statt, die letzte 1244. Askanier und Welfen söhnen sich aus, ihre Stiftungen sind Zeugnisse eines Friedensabkommens und eine zu der Zeit übliche Praxis, seinen guten Willen zu bekunden. So ist die Gründung Worpswedes eher eine Wiedervereinigung; so oder so haben die acht Bauernfamilien nun für lange Zeit ihren Frieden.
Die ersten Bewohner der Gegend sind sie allerdings ganz sicher nicht. Wissenschaftler vermuten, dass es schon in der vorrömischen Bronzezeit um 1100 vor Christus Siedler gibt, Spuren von ihnen finden sich aber bislang keine. Der älteste Beleg für Besiedlung lässt sich am Südhang des Weyerbergs nachweisen. Dort liegt, heute auf privatem Grund, ein Urnengrab aus der Zeit um 600 vor unserer Zeitrechnung. Ob damals dort dauerhaft Menschen leben oder nur durchziehen, lässt sich nicht sagen. Auf jeden Fall ist die wettergeschützte Südlage typisch für dieses Zeitalter, als noch keine festen Häuser gebaut werden. Im Mittelalter liegt der Ortsmittelpunkt dann aber auf der anderen Seite der Erhebung.
Der Ökologe und Vegetationsforscher Hans-Gerhard Kulp folgert, die mittelalterlichen Bauern „konnten es sich leisten, die Nordseite des Hügels zu besiedeln, weil sie bereits in festen Wohnhäusern mit offenem Herdfeuer lebten und damit ausreichend Wärme und Schutz vor der Witterung hatten. Die Lage der acht Bauernhöfe am Hang zwischen der Zehn-Meter- und der 15-Meter-Höhenlinie kennzeichnet die damalige Grenze zwischen dem unterhalb gelegenen, staunassen Weideland und dem oberhalb gelegenen Ackerland.“ Es gibt Quellen für die Trinkwasserversorgung, die Hammeniederung mit ihren Überschwemmungen bietet Futterwiesen. „Der Südhang wurde dagegen aus landwirtschaftlicher Sicht immer uninteressanter“, so Kulp, „weil sich die nährstoffarmen Hochmoore immer näher bis an den Hangfuß ausbreiteten.“ Im Mittelalter sei dort eine Weidewirtschaft nicht mehr möglich gewesen.
„Wir gingen zusammen durch die Heide, abends im Wind. Und das Gehen in Worpswede ist jedes Mal so: Eine Weile wandert man vorwärts, in Gesprächen, welche der Wind rasch zerstört, – dann bleibt einer stehen und in einer Weile der andere. Es geschieht so viel. Unter den großen Himmeln liegen flach die dunkelnden farbigen Felder, weite Hügelwellen voll bewegter Erika, daran grenzend Stoppelfelder und eben gemähter Buchweizen, der mit seinem Stengelrot und dem Gelb seiner Blätter köstlichem Seidenstoff gleicht. Und wie das alles daliegt, nah und stark und so wirklich, dass man es nicht übersehen oder vergessen kann. Jeden Augenblick wird etwas in die tonige Luft gehalten, ein Baum, ein Haus, eine Mühle, die sich ganz langsam dreht, ein Mann mit schwarzen Schultern, eine große Kuh oder eine bartkantige, zackige Ziege, die in den Himmel geht. Da gibt es nur Gespräche, an denen die Landschaft teilnimmt, von allen Seiten und mit hundert Stimmen.“ (Rainer Maria Rilke „Worpswede“, 1902)
Die Legende vom Riesen Hüklüth
Und sicher erzählen sich die Stimmen – wie in den Jahrhunderten davor – auch die Geschichte vom Riesen Hüklüth, der Mühe hat, sich im feuchten Moor fortzubewegen. Also schüttet er Sandhaufen auf und verliert wohl hier und da ein wenig Material. So sei der Weyerberg entstanden, behauptet die Legende. Geologen sehen das ein wenig anders: Sie beschreiben die Erhebung als eine Endmoräne, also als den letzten Gesteinshaufen, den ein Gletscher in der Saale-Eiszeit vor weit mehr als 100.000 Jahren vor sich herschiebt, ehe er beginnt abzuschmelzen. Sein Kern besteht aus Lehm, dem sogenannten Lauenburger Ton, der dem ablaufenden Schmelzwasser erfolgreich Paroli bietet und dort bleibt, wo er zum Liegen gekommen ist: als eine Insel inmitten des Moores. Der Name Worpswede deutet darauf hin: „Worps“ heißt Hügel und „Wede“ bedeutet so viel wie Wäldchen.
Den Lehm baut die Ostendorfer Ziegelei ab, die sich im 19. Jahrhundert auf demselben Gelände wie das heute brachliegende Hotel Eichenhof befindet. Das Werk verarbeitet ihn zu den für die Region typischen roten Klinkersteinen. Tatsächlich führt den Betrieb der Großvater von Martha Schröder, die 1900 den Universalkünstler Heinrich Vogeler heiratet. Der wiederum integriert die so entstandenen Löcher in der Erde als Teiche in sein Gesamtkunstwerk Barkenhoff, dem legendären Treffpunkt der Künstler um die Jahrhundertwende. Noch später macht er aus seinem Lustgarten einen proletarischen Kartoffelacker.
Um den Tonkern herum aber lagert sich nach der Eiszeit Sand an, und so ist Worpswede streng genommen ein Geest- und gar kein Moordorf. Das Teufelsmoor beginnt erst dahinter, und heutige Ortsteile wie beispielsweise das typische Moordorf Bergedorf werden erst im Zuge der Kolonisation im 18. Jahrhundert gegründet. Aber auch der Sand weckt Begehrlichkeiten: Nach dem Zweiten Weltkrieg wird er massenhaft für den Wiederaufbau benötigt, und Bagger fressen sich immer tiefer in den Weyerberg hinein. Der Erhebung droht der Komplettabbau. Das ruft Worpsweder auf den Plan, die den Berg retten. Ende 1957 gründen sie die Stiftung Worpswede, die zunächst die Sandkuhle und später weitere, das Ortsbild prägende Grundstücke und auch Gebäude kauft und erhält. Heute befindet sich in dem Loch, den der Sandabbau gerissen hat, der Sportplatz des FC Worpswede. Mithin der Ort, wo Moritz Rinke, Schriftsteller, Dramatiker und Stürmer der deutschen Autoren-Nationalmannschaft, seine ersten Spiele austrägt. Aber nicht nur den Sand, für den das „Worps“ steht, auch dem „Wede“ geht es im Laufe der Geschichte an den Kragen.
Im Dreißigjährigen Krieg von 1618 bis 1648 müssen die Worpsweder Bauern große Mengen Holz an die Heerführer abliefern, berichtet Gästeführerin Daniela Platz, die Urenkelin von Martha und Heinrich Vogeler. Rund 4000 Eichen wurden wohl gefällt, bis der Weyerberg kahl war. Im letzten Kriegsjahr nimmt der Landgraf Friedrich von Hessen-Eschwege das Land in Besitz, und um 1654 will er an der markanten Erhebung seiner Ehefrau Eleonora Catharina ein Jagd- und Lustschloss bauen. Er ist noch nicht sehr weit mit seinen kühnen Plänen gekommen, als er im Jahr darauf im schwedisch-polnischen Krieg fällt. Aber er soll zuvor noch für die Aufforstung des Waldes gesorgt haben, einen „Thiergarten“ (auf den heute immerhin noch ein Wegesname verweist) geplant und eine Scheune vollendet haben. Diese sogenannte „Slotschün“ steht knapp 300 Jahre in etwa dort, wo heute das Straßentor von der Findorffstraße abzweigt. 1938 heißt die Findorffstraße allerdings Adolf-Hitler-Straße und wird ausgebaut, um über Waakhausen eine Verbindung nach Osterholz-Scharmbeck herzustellen. Diesen Bauarbeiten am nördlichsten Ausläufer der Endmoräne fällt das damals älteste Gebäude im Ort, das lange als Künstlertreffpunkt genutzt wurde, zum Opfer.
80 Jahre länger überlebt ein anderes Relikt aus der Epoche Eleonora Catharinas: die Trauben-Eiche am westlichen Fuß des Weyerbergs. Der kugelige Baum in seltener Alleinlage ist wohl Teil der geplanten Umfriedung des Schlosses und bleibt anders als die unvollendeten Gebäudefragmente stehen. Fritz Mackensen setzt sich später vehement für den Schutz dieses riesigen Naturdenkmals ein und wird so sein Namenspatron. Am 5. Oktober 2017 legt aber das Sturmtief Xavier den schon arg erkrankten Baum endgültig um.
So bleibt die Zionskirche von 1759 das älteste erhaltene Gebäude im Ort und über ihre religiöse Bedeutung hinweg eines mit großer Symbolkraft. Nach Entwürfen des Hofbaumeisters Johann Paul Heumann errichtet sie der Moorkommissar Jürgen Christian Findorff, ebenso wie die Kirchen in Grasberg und Gnarrenburg. Mit Findorff beginnt aber vor allem die Besiedelung der Moore rund um den Weyerberg, die erste Neugründung ist 1751 Wörpedorf, das mittlerweile zu Grasberg gehört. Die heutigen Worpsweder Ortsteile Heudorf, Hüttendorf und Schlußdorf entstehen bis 1800, Letzteres bereits acht Jahre nach Findorffs Tod. Insgesamt gründet der Moorkommissar mehr als 30 Dörfer, jeweils mit höchstens 30 Höfen. Mehr als 3000 Pioniere, meist zuvor mittellose Knechte, lockt die Aussicht auf eigenes Land, Steuernachlässe und die Befreiung von der Wehrpflicht in einen harten, langen und entbehrungsreichen Kampf, um dem nassen Land eine Existenz abzutrotzen.
Mit dem Torfkahn auf den Bremer Markt
Mit den Gründungen entsteht eine Infrastruktur, neben Kirchen werden auch die ersten Schulen gebaut. Noch wichtiger ist das Netz aus Gräben und Flüssen, sodass die Moorbauern nach Bremen segeln können, um ihren Torf zu verkaufen. Ursprünglich ist dies nicht so gedacht: Der gefragte Brennstoff soll nur kurzzeitig als Einnahmequelle herhalten. Bis die Landwirtschaft Erträge abwirft, dauert es aber länger als geplant. Die berühmte Aussage „Den Eersten sien Dod, den Tweeten sien Not, den Drütten sien Brod“ entstammt dieser Zeit und lässt ahnen, dass es Jahrzehnte braucht, bis das feuchte Land so weit entwässert und urbar gemacht ist, dass es die Bauern halbwegs ernährt. So lange ist das „schwarze Gold“ die Haupteinnahmequelle der Region, die heute romantisierten Torfkahnfahrten sind vor allem ein Segeln ums Überleben.
„Ich bin glücklich, glücklich, glücklich. Nur ein paar Zeilen, Euch dies zu melden, denn es schlägt zehn Uhr. Früher konnte ich mich draußen nicht vom Monde trennen. Gestern und heute malten wir in Südwede an einem ganz blauen Kanal. Am Abend stakten uns die drei Vogeler-Brüder auf der Hamme. In der Dämmerung leuchteten die saftigen Hammewiesen. Dann zogen von Zeit zu Zeit diese ernsten schwarzen Segel mit ihrem unbeweglichen Steuermann vorüber. Dann kam ganz leise der Mond. (…) Ganz Worpswede schlummert schon. Nur auf der Kegelbahn gegenüber poltern noch einige unruhige Geister. Die Nacht ist wundervoll sternenklar. Heute habe ich mein erstes Pleinairporträt in der Lehmkuhle gemalt. Ein kleines, blondes, blauäugiges Dingelchen. Es stand zu schön auf dem gelben Sand. Es war ein Leuchten und Flimmern. Mir hüpfte das Herz. Menschen malen geht doch schöner als eine Landschaft. Merkt Ihr, dass ich nach einem langen fleißigen Tage todmüde bin? Aber innerlich so friedlich, fröhlich.“ (Paula Modersohn-Becker in einem Brief an ihre Eltern vom 1. August 1897)
Irgendwann im Sommer 1884 kommt es in Düsseldorf zu einer schicksalhaften Begegnung, die die Geschichte des weit entfernten norddeutschen Dorfes für immer wenden wird: Der damals 18-jährige Kunststudent Fritz Mackensen lernt die Kaufmannstochter Sophie Emilie („Mimi“) Stolte kennen. Ihre Familie führt seit 1817 den bis heute existenten Kramerladen in Worpswede. Mimi schwärmt von der Landschaft daheim, Fritz schwärmt wohl auch von Mimi. Und so macht sich der Maler auf die Reise. Fräulein Stolte hat ihm nicht zu viel versprochen, er verliebt sich auch in die Gegend, findet dort seine Motive und kehrt immer wieder. 1889 lässt er sich in Worpswede dauerhaft nieder und mit ihm kommen nach und nach seine Studienfreunde wie Otto Modersohn oder Heinrich Vogeler, der ursprünglich aus Bremen stammt. Der Beginn der Künstlerkolonie, die Worpswede bald prägen wird.
Den Worpswedern gelingt 1895/96 mit einer Ausstellung im Münchner Glaspalast der Durchbruch. Fritz Mackensen erhält für sein Gemälde „Gottesdienst im Freien“ eine Goldmedaille und unterrichtet bald junge Talente wie eine gewisse Paula Becker. Vogeler baut seinen Barkenhoff zu einem Gesamtkunstwerk des Jugendstils aus und macht es zum Treffpunkt der Bohème. Zu seinen Gästen gehört auch Rainer Maria Rilke, der dort seine spätere Ehefrau Clara Westhoff trifft und den Hausspruch im Gebälk des Barkenhoffs hinterlässt: „Licht ist sein Loos, ist der Herr nur das Herz und die Hand des Baus, mit den Linden im Land wird auch sein Haus schattig und groß.“
Selbst Rilke, der die Dinge gerne etwas zu groß statt zu klein beschreibt, weiß offenbar nicht so recht, wie er sich dem Nimbus Worpswedes nähern soll. Seine Monografie will er später nicht recht gelten lassen, ein Auftragswerk, dem er die Aufnahme in sein Gesamtwerk verweigert. Seine innige Freundin Paula – Gerüchte unterstellen, sie wäre auch seine Geliebte gewesen – kommt in seinem Buch gar nicht vor. Auf der anderen Seite ist der schwelgerische Poet, der als ewig klammer Schnorrer beschrieben wird, der einzige, der dem zu Lebzeiten verkannten Genie vor dem frühen Tod im November 1907 ein Bild abkauft. Klaus Modick setzt Rainer Maria Rilke 2015 in seinem Roman „Konzert ohne Dichter“, der sein Fehlen auf Heinrich Vogelers berühmtesten Gemälde „Sommerabend“ zum Ausgangspunkt nimmt, ein wenig schmeichelhaftes Denkmal. Rilke selbst hält es nicht länger als insgesamt eineinhalb Jahre in Worpswede, dann zieht es ihn ähnlich wie Paula – die zeitgleich zu seiner Hochzeit mit ihrer besten Freundin Clara Westhoff Otto Modersohn heiratet – nach Paris.
Der Industrialisierung abgewandt
Fritz Mackensen bleibt – mit einigen Unterbrechungen – Worpswede treu. Er ist bis heute der einzige Ehrenbürger der Gemeinde, kurz vor seinem Tod 1953 bekommt er das Bundesverdienstkreuz. Aber die Figur des Gründervaters ist beschädigt: Früh mischt er im völkisch-antisemitischen Stahlhelm mit und ist glühender Nationalsozialist. Adolf Hitler und Joseph Goebbels nehmen ihn auf in ihre „Gottbegnadeten-Liste“ der unverzichtbaren Künstler des Deutschen Reichs. Seine einst umjubelte Kunst entwickelt sich bald schon kaum mehr weiter, stattdessen liefert er heroisierte Darstellungen des bäuerlichen Lebens, die der Blut-und-Boden-Ideologie meist vollends entsprechen. Aber schon das Worpswede, das die ersten Künstler malen, ist eine Projektionsfläche einer nicht mehr gegenwärtigen Zeit. Die Staffeleien stehen immer so, dass die Bremer Schornsteine nicht am Horizont sichtbar sind, die Blicke gehen weg von der Industrialisierung in die Natur. Dass die Gräben und das Ackerland Zeugnisse einer mehr als 100 Jahre währenden, mühevollen Arbeit sind, spielt dabei keine Rolle. Einzig die einmaligen Wolkenbildungen über den meist flachen Horizonten kommen wie von selbst.
Während die Maler der ersten Generation noch die Weite der Landschaft genießen, blickt die junge Paula Becker schon tief in die Gesichter der Menschen:
„Seitdem wandle ich getreulich morgens und nachmittags zu meiner Mutter Schröder ins Armenhaus. Es sind ganz eigenartige Stunden, die ich dort verbringe. Mit diesem steinalten Mütterlein sitze ich in einem großen grauen Saale. Unser Gespräch verläuft ungefähr so. Sie: ,Jo, kommt Se morgen wedder?‘ Ich: ,]a, Mudder, wenn Se‘s recht is?‘ Sie: ,Djo, is mir einerlei.‘ Nach einer halben Stunde beginnt dies tiefsinnige Gespräch von neuem. Dazwischen kommen aber höchst interessante Episoden. Dann hat die Alte eine Art von Halluzination. Dann beginnt sie irgendwelche Jugendbilder zu erzählen. Aber so dramatisch in Rede und Widerrede, mit verschiedenem Tonfall, dass es eine Lust ist, zuzuhören. Man möchte gleich alles zu Papier bringen. Leider verstehe ich nicht alles. Und fragen darf man nicht, sonst kommt sie aus dem Konzept und kehrt in ihr Jammerdasein zurück. (…) Mir ist ganz wunderlich in dieser Umgebung.“ (Paula Modersohn-Becker in einem Brief an ihre Eltern vom 18. September 1898)
Generell steht Worpswede in dem Ruf, dem Faschismus deutlich zugewandter gewesen zu sein als die Bürger der Weimarer Republik insgesamt. Eine Aussage, die allerdings für viele ländlich-konservativ geprägte Regionen gilt. Eine Aufarbeitung seiner NS-Vergangenheit versäumt der Künstlerort allerdings über Jahrzehnte, bis Ferdinand Krogmann 2011 ein inhaltlich wie methodisch höchst umstrittenes Werk zu „Worpswede im Dritten Reich“ vorlegt. Er zeichnet das Bild eines „tiefbraunen“ Moordorfs, das sich bei genauerer Betrachtung so nicht halten lässt. Dennoch gibt es zahlreiche Brüche und Ambivalenzen in den Biografien vieler Protagonisten im Ort. Bernhard Hoetger, dessen monumentaler Niedersachsenstein von 1922 noch während der Planungen vom Siegesmal zum Gefallenendenkmal für die Soldaten des Ersten Weltkriegs umfunktioniert wird, folgt wirren nordischen Mythen, die irgendwann selbst seinen Parteifreunden in der NSDAP zu krude werden. Er fällt in Ungnade. Von alledem nicht mehr betroffen ist Heinrich Vogeler: Er wird nach seinen traumatischen Erlebnissen im Ersten Weltkrieg überzeugter Sozialist, macht aus seinem Idyll Barkenhoff ein Kinderheim der Roten Hilfe und geht schließlich in die Sowjetunion, wo er 1942 unter elenden Umständen stirbt.
Schäden nach dem Zweiten Weltkrieg gibt es in Worpswede kaum, die ideologischen Verwerfungen werden unter den Teppich gekehrt. Nach und nach erkennt der Ort sein touristisches Potenzial und wird zum beliebten Ausflugsziel. Zu Museen und Galerien kommen Souvenirläden und Gastronomie. Mit der Gebietsreform 1974 wird Worpswede Einheitsgemeinde für ehemals 23 eigenständige Dörfer, zwei Jahre später staatlich anerkannter Erholungsort. Bei rund 9000 Einwohnern in dieser Einheitsgemeinde und insgesamt vergleichsweise wenig Gewerbeansiedlungen, gleichzeitig hohen Ausgaben für eine touristische Infrastruktur ist der Worpsweder Haushalt schon fast traditionell überbelastet. Die Gemeinde ist hoch verschuldet, ihre Einwohnerstruktur tendiert zur Überalterung.
Das touristische Potential nicht ausgeschöpft
Geblieben ist dem Ort das Image der Streitlustigkeit. Viele Akteure beklagen, neue Ideen würden zerredet, bevor sie auch nur eine Chance auf Umsetzung bekämen. Aktuelles Beispiel sind die Pläne eines Investors, der das seit Jahren leer stehende Hotel Eichenhof durch einen 202-Betten-Neubau ersetzen möchte. Worpswede braucht solche Impulse, für einen ausgemachten touristischen Hotspot sind nicht mal 25.000 Hotelübernachtungen (ohne Jungendherberg) pro Jahr ein erstaunlich niedriger Wert. Die Menschen kommen ins Künstlerdorf, aber sie bleiben nicht. Bustourismus mit kurzer Kaffeepause ist weder nachhaltig, noch dem, was Worpswede zu bieten hat, angemessen. Das Dorf schöpft sein touristisches Potenzial bei Weitem nicht aus. Auf der anderen Seite stehen Fragen danach, wie viel Charme – und damit letztendlich das Kapital des Dorfs – verloren geht, wenn Abertausende Gäste mehr kommen. Worpswede hat auch weiterhin eine Strahlkraft, die mitunter auch wenig seriöse, ortsfremde Akteure für sich zu nutzen versuchen.
Nicht zuletzt, um dem Zwist und der Ideenlosigkeit entgegenzuwirken, hat die Gemeinde im vergangenen Jahr einen Ortsentwicklungsprozess, der von Bürgerbeteiligung getragen ist, initiiert. Im Herbst sollen in den vier Arbeitsfeldern Ergebnisse vorliegen, die dann via Gemeinderat auch in konkrete, politische Beschlüsse münden sollen. Sicher ist: Worpswede braucht wieder Visionen, um seine Geschichte fortzuschreiben.
„Es ist ein seltsames Land. Wenn man auf dem kleinen Sandberg von Worpswede steht, kann man es ringsum ausgebreitet sehen, ähnlich jenen Bauerntüchern, die auf dunklem Grund Ecken tiefleuchtender Blumen zeigen. Flach liegt es da, fast ohne Falte, und die Wege und Wasserläufe führen weit in den Horizont hinein. Dort beginnt ein Himmel von unbeschreiblicher Veränderlichkeit und Größe.“ (Rainer Maria Rilke „Worpswede“, 1902)
von Lars Fischer