Heiligabend hatte für Ehepaar besonderes Gewicht – Tagebuch aus dem Zweiten Weltkrieg birgt Überraschung

Für Bärbel Goddar hat Heiligabend eine ganz besondere Bedeutung. „Heiligabend 1942 kam mein Vater mit nur noch einem Bein aus dem Krieg in Bremen an“, sagt die 77-Jährige. Ihre Mutter habe ihn am Bahnhof abgeholt, laut familiärer Überlieferung verbrachten die beiden die Nacht in einem Hotel in Bahnhofsnähe. Ein Wiedersehen nach langer Trennung – mit Folgen. Fast genau neun Monate später erblickte die kleine Bärbel das Licht der Welt, am 5. September 1943 wurde sie geboren. „Ein Sonntags-Kind“, jubelt ihre Mutter in ihrem Tagebuch. „Mutti + Papi sind überglücklich.“

Ein glückliches Paar: Helene und Karl Janssen im Jahre 1939.
Foto: Privat

In der Familiengeschichte kommt dem Heiligen Abend aus noch einem weiteren Grund ein wichtiger Stellenwert zu. Drei Jahre zuvor, am 24. Dezember 1939, hatten sich Bärbel Goddars Eltern in Wilhelmshaven das Ja-Wort gegeben. Ihr Vater Karl Janssen war damals 27 Jahre alt, ihre Mutter Helene drei Jahre jünger. Die beiden stammten aus Leer, eine Jugendliebe. Er arbeitete in der Textilbranche, im Modehaus Leffers in Wilhelmshaven übernahm er die Verkaufsleitung. Zum Zeitpunkt ihrer Hochzeit hatte der Zweite Weltkrieg schon begonnen, doch nach dem schnellen Sieg über Polen herrschte vorerst Ruhe. „Wunderschöne anschließende Tage“, notierte die verliebte Braut.

Ein Buch mit sieben Siegeln

Als wertvolles Vermächtnis ist das Tagebuch der Mutter in den Besitz der Tochter gelangt. Allerdings konnte Bärbel Goddar damit wenig anfangen, es war für sie ein Buch mit sieben Siegeln. Der Grund: Ihre Mutter hatte ihre Notizen in deutscher Schrift zu Papier gebracht, damals die gängige Handschrift in Deutschland. Abgeschafft wurde sie ausgerechnet auf Befehl Hitlers, ab dem Schuljahr 1941 sollte nur noch die lateinische Schreibschrift unterrichtet werden.

Ein wirkliches Tagebuch ist das Tagebuch streng genommen nicht. Zwar stammen die Aufzeichnungen aus Kriegszeiten, aber sie sind nicht zeitnah verfasst, sondern immer erst nach längerem zeitlichem Abstand. Ihren historischen Wert mindert das jedoch in keiner Weise. Im Gegenteil, die mitunter nur stichwortartigen Einträge von Helene Janssen bieten einen authentischen Einblick in den Alltag und das Gefühlsleben einer jungen Frau in extremen Zeitläuften. Und bergen für die Tochter eine faustdicke Überraschung.

Karl Janssen als Soldat.
Foto: Privat

Vom Militärdienst blieb Karl Janssen nicht lange verschont. Im Februar 1940 erhielt er den Gestellungsbefehl, innerhalb von vier Tagen musste er sich in der Kaserne in Oldenburg einfinden. „Frauchen todunglücklich!!“, heißt es im Tagebuch. „Frauchen“, so nennt sich Helene durchweg in ihren Aufzeichnungen. Und ihr Mann ist nicht etwa der Karl, sie bezeichnet ihn stets als „Charly“.

Von Kriegsbegeisterung ist in ihren Eintragungen nichts zu spüren, mit Bangen verfolgt sie den Kriegsausbruch im Westen, den Einmarsch deutscher Truppen in die Niederlande und Belgien. Dem NS-Regime stand das Ehepaar laut Tochter skeptisch gegenüber, der Vater sah sich als Liberaler. Zunächst musste Karl Janssen nicht ausrücken, aber das änderte sich. „Dann kam Charly nach Frankreich. Post kam regelmäßig u. Frauchen mußte sich mit den vielen anderen trösten.“

Doch nicht nur die Sorge um ihren Mann trieb Helene um. Als erste deutsche Stadt wurde Wilhelmshaven bereits am 4. September 1939 von britischen Bombern attackiert. Der wichtige Marinestützpunkt rangierte weit oben auf der Liste der Angriffsziele. Unversehens wütete das Kriegsgeschehen jetzt auch in Wilhelmshaven, die Heimat wurde zur Front. Im Januar 1941 sorgte eine erste Sprengbombe für Aufregung. „Furchtbare Minuten, alles dunkel + voll Staub, Brandgeruch.“

Weitaus ärger dann aber die Wirkung eines zweiten Treffers im Oktober 1940. „Minuten des Grauens“, schreibt die junge Frau. Die ganze Nachbarschaft habe in Flammen gestanden. „Im Hause selbst bis zur 2. Etage alles entzwei.“ Ein Volltreffer machte das Gebäude unbewohnbar, wagemutig versuchte Helene, noch einige Habseligkeiten zu retten. „Auf die Schuttmassen gestellt u. dann raufgeklettert in die 4. Etage + Wäsche auf die Straße geworfen.“

Aufzeichnungen aus bewegten Zeiten: erste Seite des Tagebuchs von Helene Janssen.
Quelle: Privat

Die relative Sicherheit im besetzten Frankreich war für ihren Mann nicht von Dauer. Mit seiner Verlegung an die Ostfront gleich zu Beginn des Überfalls auf Russland im Juni 1941 nahm das Unglück seinen Lauf. „Am 22.6. ging Charly als einer der ersten mit über die deutsche Grenze nach Rußland“, ist im Tagebuch zu lesen. Für Helene eine Zeit der Ungewissheit. „3 Wochen keine Post, unglücklich.“

Fast ein Jahr blieb Karl Janssen unversehrt. Bis zum 5. Juni 1942, die erste Nachricht aus dem Lazarett ließ seine Frau im Unklaren über den Ernst der Situation. „Frauchen weiß nicht, was es für eine Verwundung ist. Bange Ungewißheit, sehr unglücklich.“ Am 18. Juni dann die Botschaft, dass ihr Mann einen Fuß verloren habe. „Ich kann es nicht fassen u. glauben.“ Gleichwohl atmet Helene durch. „Ich bin froh, daß das Schicksal mir meinen geliebten Mann erhielt.“

Das linke Bein amputiert

Aber es stellen sich Komplikationen ein, Karl verliert nicht nur seinen Fuß, das ganze linke Bein muss amputiert werden. Immerhin darf seine Frau ihn im Lazarett im Erzgebirge besuchen. „Frauchen überglücklich.“ Entgegen der familiären Überlieferung traf er aber nicht erst Heiligabend 1942 in Bremen ein – eine trügerische Erinnerung, vielleicht hat der Hochzeitstag am 24. Dezember seinen Teil dazu beigetragen, dieses Datum als Tag der Heimkehr zu verinnerlichen. Doch das Tagebuch lässt keinen Zweifel über die wahre Zeitkonstellation zu: „Am 10. Dez. Charly in Bremen besucht, zum 1. Male mit Prothese gesehen. Am 20. Dez. kam Charly endgültig nach Hause.“

Noch unversehrt: Karl Janssen in den frühen Kriegsjahren.
Foto: Privat

Erstmals seit Jahren feierten die Eheleute wieder gemeinsam die Geburt des Christkindes. „Herrliches Weihnachtsfest zusammen verlebt, ohne Alarm“, notierte Helene. Den ersten Feiertag war das Paar bei Freunden zu Gast, dem Alkohol wurde kräftig zugesprochen, am „andern Morgen nach Hause getorkelt“, heißt es im Tagebuch. Den folgenden Tag sei man aber „solide zu Hause gewesen“. Irgendwann in diesen Tagen müssen sich Charly und Frauchen näher gekommen sein.

Dramatisch ging es der Tochter zufolge unmittelbar vor ihrer Geburt zu. Hochschwanger sei ihre Mutter auf dem Weg ins Lazarett nach Schloss Neuenburg in Friesland gewesen, als plötzlich britische Flieger auftauchten. Angsterfüllt habe sie im Schlossgraben Deckung gesucht. Die Hoffnung von Bärbel Goddar, dazu eine Passage im Tagebuch zu finden, erfüllte sich indessen nicht.

Gänzlich unspektakulär liest sich der entsprechende Eintrag. „Am 4.9.43 nachts um 2 brachten Alma + Charly mich zum Krankenhaus, morgens um 8.35 war Bärbel da.“ Dafür nimmt eine schwere Erkrankung des Babys viel Raum ein, mit kaum zwei Monaten drohte der Kindstod. „Fürchterliche Angst u. Sorge um unsren Sonnenschein ausgestanden“, schreibt ihre Mutter. Das stark fiebernde Mädchen kam ins Krankenhaus. Bei ihrer Entlassung konnte sich die Mutter vor Freude kaum fassen. „Bärbel ist uns neu geschenkt.“

Das Weihnachtsfest 1943 war dann ein Segen für die junge Familie. „Bärbilein hat mit ihren großen blauen Augen den Baum angestrahlt.“

Schon als Jugendliche kannten sich ­Helene und Karl Janssen, am 24. Dezember 1939 heirateten sie. Doch das junge Glück musste einige Prüfungen überstehen, aus dem Kriegseinsatz kehrte Karl Janssen schwer verwundet nach Hause zurück.
Foto: Privat

Von Anbiet bis Zuckerklatsche

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