Was Tage des Aufstands angeht, war Bremen im Jahr 1968 ungemein früh dran. Sogar im internationalen Vergleich. Während die deutsche Studentenbewegung erst nach dem Attentat auf Rudi Dutschke am 11. April massiv auf die Straßen von Berlin, München und Frankfurt am Main drängte und Paris den Höhepunkt der Unruhen im Mai verzeichnete, als Polizisten und Demonstranten einander im Quartier Latin beharkten, lag an der Weser bereits Mitte Januar so etwas wie Revolution in der Luft. Das lag weniger an bewegten Studenten – die Universität wurde erst 1971 gegründet, und von der Pädagogischen Hochschule gingen wenige Impulse aus – als vielmehr an einem guten Dutzend Schüler vom „Unabhängigen Schülerbund“, die sich am 15. Januar 1968 bei nasskalter Witterung an der Domsheide verabredeten, um den Aufstand zu proben. Freilich nicht gegen das Establishment im Allgemeinen, sondern gegen eine besondere Form von Wucher: Um zehn Pfennig sollte an diesem Tag der Einzelfahrschein im öffentlichen Nahverkehr teurer werden. „70 Pfennig, lieber renn‘ ich“ war auf Flugblättern zu lesen, die Schüler für die Kundgebung getippt hatten. Dieser gewitzte Sponti-Spruch, der den Vergleich mit „Nach 20 Uhr zur Fahrertür“ nicht scheuen muss, hatte einen guten Klang, wie die Reaktion auch überregionaler Medien auf die Kundgebung zeigte.
Tagelang hielten die Proteste an. Mit Sitzblockaden auf den Gleisen und rhetorisch scharfen Sprechchören. Immer mehr Menschen auch jenseits des Schüleralters schlossen sich den Demonstrationen an, die wegen eklatanter Fehleinschätzungen des Senats und der Polizei zusehends aus dem Ruder liefen. Denn die Einsatzkräfte waren gehalten, mit aller Härte und allen Mitteln gegen die Kundgebungsteilnehmer vorzugehen.
Ausweitung der Kampfzone
Mit dem längst legendären Appell „Draufhauen, draufhauen, nachsetzen“ wollte Polizeipräsident Erich von Bock und Polach seine Mannen martialisch motivieren. Mit horrenden Resultaten: Wasserwerfer, Gummiknüppel und Schutzhelme dominierten die täglich stärker ausgeweitete Kampfzone. Dutzende Verletzte waren zu beklagen, es gab Hunderte Festnahmen. „Chaos in Bremen“ titelte die Bild-Zeitung am 20. Januar, nachdem Tausende ihrem Unmut über die Tariferhöhung Luft gemacht hatten. „Nicht knüppeln, sondern verhandeln“, hieß es auf einem angesichts der ausufernden Gewalt beredt hilflosen Demo-Plakat. Selbst das für gesellschaftspolitische Umbrüche empfängliche Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ sah die öffentliche Ordnung in der „sonst so betulichen Grünkohl-und Pinkel-Stadt“ gefährdet. Umso mehr, als den jugendlichen Demonstranten binnen weniger Tage viele Sympathien aus der Mitte der Gesellschaft zuwuchsen.
Das galt vor allem für die Solidaritätsadresse, die Arbeiter der Großwerften AG Weser und Bremer Vulkan formulierten. Nach einer Woche war der Spuk vorbei; die Fahrpreiserhöhung war sozusagen kassiert worden, der „Spiegel“ berichtete von einem „Schülerstreich, der die Bremer Staatsgewalt beugt“, und die Staatsmacht leckte die ihrem Leumund zugefügten Wunden, wie „Die Bremer Schülerbewegung, die Straßenbahndemonstrationen und ihre Folgen 1967/1968“ belegt, Detlef Michelers‘ Chronik jener Tage.
Unverhältnismäßige Brutalität
Bürgermeister Hans Koschnick, der sein Amt knapp zwei Monate vor dem Quasi-Ausnahmezustand angetreten hatte, räumte erst Jahre später verdruckst ein, dass der massivste Polizeieinsatz seit dem Zweiten Weltkrieg unverhältnismäßig brutal gewesen sei. Immerhin schlug sich seine Vize, Jugend- und Sozialsenatorin Annemarie Mevissen (SPD), auf dem Höhepunkt der Proteste in deeskalierender Absicht auf die Seite der Rebellen. Sie erklomm eine Streusalzkiste und sagte vor der Menge, dies sei „eine legale Demonstration zu einer Sachfrage“.
Was sie nicht sagte, weil es noch nicht absehbar war: Von den Bremer Chaostagen ging eine bundesweite Signalwirkung aus. Hiesige Schüler hatten sich sozusagen an den Beginn einer Bewegung gesetzt, die sich in vielen Teilen des Landes noch gar nicht formiert hatte. Das führte zu einem Zuwachs an Selbstvertrauen seitens der in der Sache siegreichen Schüler, die sich als Pioniere fühlen durften. Einer von ihnen, der spätere „Spiegel“-Reporter Cordt Schnibben, spricht von einer Politisierung, deren Grad selbst der Konfirmationsanzug, den er bei der Demo trug, nicht beschädigen konnte. „Erst war ich Mitläufer, am dritten Tag warf ich den ersten Stein, am Ende der Woche nahm Bürgermeister Koschnick die Erhöhungen zurück. Das war ein Erlebnis von Stärke, das uns weiter radikalisierte.“ Vor allem die von Erfolg gekrönte Gruppendynamik beseelte die jugendlichen Opponenten. Von einem Akt politischer Initiation spricht der Bremer Jurist Bernhard Docke; in Ermangelung von Studierenden sei es an den Schülern gewesen, Gesellschaftskritik zu formulieren. In Bremen sei 1968 gewissermaßen jünger gewesen als anderswo.
Kein Wunder, dass so manches revolutionär gestimmtes Subjekt großsprecherisch wurde. „Von dieser Warte aus betrachteten wir sogar die Pariser Mai-Unruhen mit einer Art gönnerhaften Herablassung. Ha! Da konnten wir in Sachen Fronterfahrung locker mithalten; tagelange Straßenschlachten mit der Polizei hatte es in Bremen schließlich schon vier Monate vorher gegeben“, heißt es in „Summer of 69“ (sic!), einem autobiografisch grundierten Roman des in Bremen geborenen Germanisten Jürgen Ahrens. Sein launiger Text macht deutlich, dass der Protest gegen die Bremer Straßenbahn AG, die den Schülern damals als „ein Teil des Systems, also der Bösen“ galt, nur ein Aktionspunkt der Bewegung unter vielen war.
Weitere Engagements galten dem Begehren Bremer Schüler nach weniger autoritären Schulformen und mehr Mitbestimmung. Adressiert wurden diese und andere Forderungen auch in der Schülerzeitung „Faltblatt a“, die in der Ausgabe vom 16. März 1968 unter dem Leitwort „ZUR GEWALT oder Das faschistische Gesellschaftsbild des Bremer Polizeipräsidenten“ scharf ins Gericht mit dem unbotmäßigen Einsatz im Januar ging. Die Ausgabe wurde verboten; die drei federführenden Schüler wurden der Schule verwiesen.
Es waren solche Initiativen, die den ersten Kinofilm des in der Ära Kurt Hübner am Theater Bremen wirkenden Regisseurs Peter Zadek inspirierten. Er fußt auf „Die Unberatenen“, einem Roman des Schriftstellers Thomas Valentin (von 1962 bis 1964 Dramaturg an der hiesigen Stadtbühne). Zadeks 1969 angelaufenes Werk, das den Titel „Ich bin ein Elefant, Madame“ trägt, erzählt von einem Schüler namens Rull, der an einem Bremer Gymnasium den Aufstand probt. Originalschauplätze waren unter anderem das Alte Gymnasium und Bremens gute Stube, die in jenem Jahr wiederholt zum Protestforum umgewidmet wurde.
Rudi Dutschke in der Lila Eule
Unter anderem geschah das im April und Mai des bewegten und mythisch verbrämten Jahres, als aus Anlass der „Deutsch-Amerikanischen Woche“ auf dem Marktplatz gegen den Vietnamkrieg demonstriert wurde. Legitimiert worden war das gesellschaftspolitische Engagement der jungen Generation durch Studentenführer Rudi Dutschke, der – nach dem ersten Flug seines Lebens – bei einem Auftritt im Jazzclub Lila Eule im November 1967 Positionen der außerparlamentarischen Opposition zu Ausbeutung und Entfremdung, Krieg und Verblendungszusammenhängen dargelegt hatte.
Es verwundert nicht, dass auch die ideologische Gegenseite manchen Hardliner hervorgebracht hat. So wertete der damalige Bildungssenator Moritz Thape (SPD) die Proteste in Bremen als bloßes Getöse „verwöhnter Bürgerkinder, die dachten, sie könnten sich alles leisten“. Noch als Zeitzeuge der Ausstellung „Protest + Neuanfang Bremen nach 68“ im Focke-Museum ätzte Thape, dass „90 Prozent von den Krachmachern keine politischen Ambitionen (hatten), sondern nur dabei sein und Lärm machen (wollten).“ Immerhin Bremens früherer Bürgermeister Hans Koschnick gab sich nachträglich dezent einsichtig. Man habe politisches Lehrgeld zahlen müssen. Dafür stahl sich der Senat samt Polizei im administrativen Nachgang zur Revolte aus der Verantwortung: Zwar gab es im Gefolge der Ausschreitungen einen Untersuchungsausschuss; Verantwortung für das eklatante Verhalten der Polizei übernahm indes niemand, schon gar nicht deren unsäglicher Präsident.
Und noch ein explosives Fass wurde in Bremen aufgemacht, nachdem der Bundestag am 30. Mai 1968 die sogenannten Notstandsgesetze beschlossen hatte, die der Handlungsfähigkeit des Staates in Krisenzeiten zuarbeiten sollten. Am 31. Mai fanden sich gegenüber dem Rathaus drei Jungdemokraten ein, die aus Protest gegen den Beschluss zwei Tage und zwei Nächte hungernd auf den Domtreppen zubrachten. Und siehe: Cornelius, Renate und Heiko glückte, was den Demonstranten im Januar nicht gelungen war: die von Sympathie getragene Politisierung vieler Bürger. Binnen 30 Stunden hatte das Trio 1200 Unterschriften gegen die Notstandsgesetze zusammen. Die Petition wurde anschließend im sozialdemokratisch regierten Rathaus übergeben.
Was hatte man damals nicht alles an öffentlichkeitswirksamen Aktionen versucht: Gewerkschaften riefen zu Sternmärschen und anderen Formen der Massenkundgebung auf; die SPD suchte ihr Heil in einem Sonderparteitag; Theatervorstellungen wurden in indoktrinierender Absicht unterbrochen, um dem Publikum von Produktionen wie „Der Bettelstudent“ und „Vater einer Tochter“ die Notwendigkeit einer Diskussion über die Notstandsdebatte nahezubringen. Doch die aufgestörten Zuschauer flohen mehrheitlich aus dem Theater. Nichts davon hatte nur annähernd die emotionale Wirkung besagter junger Leute, die unter freiem Himmel nur etwas Flüssigkeit zu sich nahmen, „weil wir deutlich machen wollen, dass es ohne politisches Engagement des Staatsbürgers nicht geht – oder schief geht“.
von Hendrik Werner
Hier lesen Sie mehr über die Schülerproteste gegen die Preiserhöhung im öffentlichen Nahverkehr im Januar 1968.