Ein Blick in die Geschichte (125): Kartengruß von 1906 lässt tief blicken
Zwei neo-barocke Engelsknaben umschwirren den Roland auf dieser Neujahrskarte von 1906. Doch ganz offenbar macht sich der edle Recke nichts aus dem dargebotenen Trunk – Ritter Roland, der Abstinenzler.
Ganz im Stil und Geschmack der Zeit ist die Komposition der Karte gehalten. Als durchaus gängiger Bestandteil war auf der Vorderseite noch Platz für ein paar Zeilen. „Mit Gruß und Kuß bin ich deine Lisa“, heißt es zum Start ins neue Jahr im angedeuteten Weinfass. Kartengrüße damals lassen sich durchaus mit Twittern heute vergleichen: auf die Schnelle ein kurze Botschaft.
Von einigem Interesse ist das eingefügte Rathaus-Motiv. Nicht so sehr wegen der noch immer fast identischen Ansicht. Sondern weitaus mehr wegen eines kleinen Details rechts im Hintergrund. Zuckelt dort doch eine Straßenbahn über den Domshof – und das vor einem Gebäude, das bei Ausgabe dieser Neujahrskarte schon seit Jahren nicht mehr stand. Es handelt sich um das St. Petri-Waisenhaus, das bereits 1902 dem Neubau der Bremer Bank weichen musste, neuerdings Standort des Warenhauses Manufactum. So ganz aktuell war die Rathausansicht also nicht.
Bereits seit 1692 war die Ecke Domshof/Sandstraße Standort eines Waisenhauses der lutherischen Domgemeinde. Doch nach knapp 100 Jahren wurde es Zeit für einen Neubau. Errichtet von 1783 bis 1785, diente das klassizistische Bauwerk des neuen St. Petri-Waisenhauses seit 1877 ausschließlich als Bleibe für Jungen. Unter ihnen auch ein Knabe, der als erwachsener Mann in Bremen zu einiger Bekanntheit erlangte: der Betreiber der Wagenbrettschen Badeanstalt, Hermann Wagenbrett.
Im Mai 1899 wurde das Gebäude an die Bremer Bank verkauft und 1902 abgerissen. Unmittelbar danach entstand in zweijähriger Bauzeit der historistische Prachtbau der Bremer Bank.
Das St. Petri-Waisenhaus kam derweil in der östlichen Vorstadt unter: Im September 1901 wurde der Neubau an der Hamburger Straße (heute Stader Straße) eingeweiht, wobei Giebel, Glockenstuhl und Dachreiter an den Vorgängerbau am Domshof erinnerten. Seit 1926 diente das Gebäude als Polizeikaserne.
von Frank Hethey